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Albtraum des Ressentiments

Aida, Titelheldin von Verdis Oper, ist äthiopische Sklavin am Hof des Pharaos. Calixto Bieito verlegt seine Basler "Aida" in die Schweiz und hebt hervor, was in der aktuellen Integrationsdebatte gerne vergessen wird: Migranten sind Menschen aus Fleisch und Blut, die in Europa ein besseres Leben suchen.

Von Christoph Schmitz | 15.09.2010
    Giuseppe Verdi erzählt ja in seiner "Aida" von Anfeindung, Einsamkeit, Sehnsucht und Liebe in der Fremde, wenn die Titelheldin als äthiopische Sklavin am Hof des Pharaos in Memphis gefangen gehalten wird und sich Aida und der Heerführer der Ägypter, Radames, ineinander verlieben. Das ist natürlich leicht zu aktualisieren, Hans Neuenfels hatte hier bereits vor 30 Jahren den ersten Schritt getan und Aida als Putzfrau gedeutet. Heute ist das Unterschichtproblem auch ein Migrantenproblem. Deswegen ist es naheliegend, Aida als muslimische Einwanderin mit Kopftuch als Haushaltshilfe in einem "autochthonen" westeuropäischen Milieu zu interpretieren. Das hat Calixto Bieito mit seiner Basler Inszenierung auch getan: Aida ist Reinigungskraft im Basler Fußballstadion, sie hat sich in einen heimatstolzen Schweizer verguckt und wird von der Mehrheitsgesellschaft zusammen mit ihresgleichen ziemlich übel behandelt.

    Wie sich vor 30 Jahren das bürgerliche Kulturpublikum über Hans Neuenfels' "Aida" und die ganze Günter-Wallraff-Tristesse in "Ganz unten" ärgerte, so ärgert sich heute die politische Klasse und der linksliberale Medienmainstream über Thilo Sarrazin, auch wenn er in der Bevölkerung überwiegend auf Zustimmung stößt und die Ausführungen in seinem Buch unter zahlreichen Experten als zutreffend bewertet werden. Calixto Bieitos radikale Gutmenschen-Inszenierung der "Aida" wurde bei der Premiere gestern Abend vom Publikum erwartungsgemäß gefeiert. Und das zu Recht! Denn der Spanier stellt auf drastische Weise etwas klar, das nicht vergessen werden darf, auch wenn Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Zahl der in Deutschland lebenden integrationsunwilligen Einwanderer auf zwei Millionen beziffert und Sozialdemokraten wie Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowski und Frauenrechtlerinnen wie Necla Kelek und Seyran Ates uns das düstere Bild von Parallelgesellschaften mit aufklärerischer Beharrlichkeit vor Augen führen: nämlich, dass es Menschen aus Fleisch und Blut sind, die aus aller Welt nach Deutschland gekommen sind, um hier ein besseres Leben zu führen. Calixto Bieito lässt sein Publikum den Schmerz, verachtet zu werden, fühlen. Er verlängert die Frage des Juden Shylock in Shakespeares "Kaufmann von Venedig" mittels Verdis "Aida" in die Gegenwart: "Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?"

    Zum Triumphmarsch treibt ein Schweizer Grenzpolizist einen Pulk halb nackter und blutüberströmter Gefangener ins reklamegeschmückte Stadion. Zuvor schon war die dunkelhaarige Aida von der blonden Pharaonentochter Amneris zwangsassimiliert worden: Gewand und Kopftuch runter, rotes Abendkleid drüber und Monroe-Perücke drauf. Aidas Vater, der in der Schlacht unterlegene König der Äthiopier, ist ein Schwarzer im Anzug und wird in einem Käfig aufs Feld geschoben. Musikalisch ist das alles ziemlich laut und explosiv, nicht unbedingt subtil oder schönklangselig, gesanglich aber ordentlich mit starken und weniger starken Momenten. Ein Ereignis ist vor allem die Szene. Natürlich ist Calixto Bieito nicht so dumm zu behaupten, er bilde die Wirklichkeit ab. Vielmehr lädt er seine Wirklichkeitsbilder mit archaisierenden Zeichen auf. So wirkt der Tempelpriester Ramfis als bunt geschminkter Fußballfanatiker, der Rehe, Kühe, Pferde ausweidet, eher wie ein finsterer Schamane, in dem sich die irrationalen Ängste und Ressentiments einer Gesellschaft gegenüber dem Fremden artikulieren. Insofern ist Bieitos "Aida" vor allem ein albtraumartiger Blick in die Tiefen der Psyche und eine Schreckensvision darüber, wie sich eine Gesellschaft verirren kann, wenn ihr Unbehagen ignoriert und die realen Probleme nicht für alle förderlich angegangen werden.

    Diese Regieleistung kann aber nicht über ihre partielle Feigheit hinwegtäuschen. Den expliziten Willen des äthiopischen Königs, die Ägypter auszurotten, lässt Bieito unter den Tisch fallen. Aida als islamistische Selbstmordattentäterin, von ihrem El-Kaida-Vater in die friedliche Schweiz geschleust, die zwar Minarette verbietet, aber nicht den Moscheebau und das islamische Gebet, wäre eine echte Theaterprovokation. Aber selbst solch ein von Traumata und Idiosynkrasien nur so besessener Bühnenberserker wie Bieito kann in ein und derselben Inszenierung natürlich nicht auf allen Bluthochzeiten tanzen.