Donnerstag, 25. April 2024

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Aldebaran

Jean-Claude Izzo war bereits fünfzig, als er anfing, Romane zu schreiben. Nach etlichen Jahren der politischen Auseinandersetzung hatte der Journalist und ehemalige Kommunist endlich eine Form gefunden, kompromisslos seine Weltsicht zu offenbaren. Zuletzt war er als Chefredakteur der Zeitschrift "Viva" gefeuert worden - aus politischen Gründen, versteht sich. Die Kriminalromane seiner Fabio-Montale-Trilogie wurden in Frankreich auf Anhieb zu Bestsellern. Ebenso wie der soeben auf deutsch erschienene Roman "Aldebaran" spielen sie dort, wo Izzo als Kind eines italienischen Barkeepers und einer spanischen Schneiderin 1945 geboren wurde und wo er den größten Teil seines Lebens verbracht hat: in Marseille! Izzo liebte diese Stadt mit einer Sinnlichkeit, die sich von der ersten Seite an auf den Leser überträgt. Er verneigte sich vor ihrer Kultur und Tradition und feierte ihre Schönheit.

Ralph Gerstenberg | 16.05.2002
    Diamantis kam gerade recht zum Sonnenuntergang hinter dem Clocher des Accoules an den Hafen. Er blieb reglos stehen. In den letzten roten Strahlen des Tages. So war Marseille, dachte er. Die Stadt versprach nichts, ließ nichts ahnen. Sie begnügte sich damit, überreichlich zu geben. Man brauchte nur zu nehmen. Zu nehmen wissen.

    Am Hafen von Marseille liegt die "Aldebaran" fest - ein verrosteter Frachter, der zur Konkursmasse eines bankrotten Reeders gehört und nun nicht mehr auslaufen darf. Die Mannschaft hat eine spärliche Abfindung bekommen und verteilt sich in alle Himmelsrichtungen. Nur der Kapitän Abdul Aziz, Diamantis, der erste Offizier, und der Funker Nedim bleiben an Bord. Sie fangen an, miteinander zu reden, wie sie es zuvor nie getan haben: über Verluste und verpasste Chancen, die Menschen, die sie verlassen haben, über die Dinge, die sie einem Leben auf See geopfert haben, und über die Sehnsucht, die sie immer wieder hinaus getrieben hat - eine Sehnsucht, die sie mit der zeitweiligen Auslöschung ihrer Existenz aus dem Bewusstsein der übrigen Welt bezahlt haben. Zitator: Diamantis erinnerte sich, dass ihn einige Monate nach dem Untergang der Stella Maris ein Kommentar in den Fernsehnachrichten aufhorchen ließ. Man sah Bilder von Schäden, die ein Unwetter in England angerichtet hatte. Es hatte sechs Tote gegeben. "Aber", hatte der Journalist versichert, "alle Gefahr ist abgewendet. Der Sturm hat die Küstengebiete verlassen und verliert sich über dem Meer." Über dem Meer, fern aller Küsten - Tausende von Menschen sind dort, aber sie existieren nicht. Nicht einmal für die Frauen der Seeleute. Erst bei seiner Rückkehr nimmt der Ehemann wieder Gestalt an. In ihrem Bett.

    Die drei Männer stehen an einem Wendepunkt ihres Lebens. Abdul Aziz befürchtet von seiner Frau verlassen zu werden. Er zieht Bilanz, desillusioniert und in dem klaren Bewusstsein darüber, dass er als Kapitän eines unbeweglichen Schiffes ein Mensch auf verlorenem Posten ist. Die Realität macht ihm Angst, weil er sein Leben bislang seinen Träumen gewidmet hat, aus denen er nun endgültig erwacht ist.

    Die Linie des Horizonts erregte ihn nicht mehr so wie früher (...). Dahinter waren keine Träume mehr, keine Geschichten, die gelebt werden wollten. Man kommt immer von der anderen Seite des Horizonts zurück. Wie man aus seinen Träumen wiederkehrt.

    Diamantis hingegen wird in Marseille von seiner Vergangenheit eingeholt. Hier hat er einmal eine Frau geliebt, und die Erinnerungen an sie haben ihn nie verlassen. Er fängt an, sie zu suchen, denn das "Gewesene bestimmt das Sein", und er begreift, dass er dieses Kapitel seiner Lebensgeschichte beenden muss, bevor er ein neues beginnen kann.

    Tief innen wusste er, obgleich er das Meer innig liebte, dass die Seefahrerei eine Flucht für ihn war. Die Flucht treibt einen in den Tod. Auch das wusste er. Und der Tod, das war ihm klar, kam immer näher.

    Nur der junge Nedim schaut unbeschwert und voller Hoffnung in die Zukunft. Selbst das Unglück, von zwei Animiermädchen in einer Bar um sein letztes Geld gebracht zu werden, verwandelt sich für ihn in das Glück einer neugewonnenen Liebe. Doch auch dieses Glück ist nur von kurzer Dauer. Denn das Schicksal der drei Männer ist untrennbar miteinander verbunden. An Bord der Aldebaran kommt es schließlich zur Katastrophe. Die Wahrheit ist schwarz wie die Nacht, und Izzos Figuren verlieren sich in der Finsternis. In der Morgendämmerung ist nichts mehr wie es war.

    Die Sonne ging auf. Ein blassrosa Hof um die Hügel der Stadt. Wie ein seltsamer Heiligenschein. Wenn das Glück existierte, hatte es dort seinen Ursprung. In dem Moment, in dem ein neuer Tag beginnt.

    "Aldebaran" von Jean-Claude Izzo ist ein atmosphärisch dichter und hochdramatischer Roman über die Suche nach Identität und die Ausweglosigkeit des eigenen Daseins. Die Handlung funktioniert nach den Mustern des Noir-Romans: Alle Beteiligten werden vom Sog der Geschehnisse erfasst und in den Abgrund gerissen. Aber es ist auch ein Roman über das Mittelmeer, das "Meer der Nachbarschaft", das Orient und Okzident miteinander verbindet, das Meer der Mythen und Geschichten. In Marseille begegnen sich die Exilierten der Mittelmeerstaaten. Ein Ort, an dem Solidarität und Toleranz existieren. Doch Rassismus und soziale Spannungen bringen den melting pot immer häufiger zum Brodeln. Der Zeitgeist verscheucht die Vergangenheit. Und so erlebte Izzo, wie immer mehr von dem zerstört wurde, was er so liebte: das einfache Leben in seiner Stadt und den Traum von einer Welt, in der es ein wenig gerechter und gütiger zugeht als in der bestehenden. 1998 sagte er in einem Interview:

    Was ich sehe, was ich höre, bringt mich zur Verzweiflung. Ich habe keine Hoffnung mehr. Und das Schrecklichste ist, dass ich umso verzweifelter bin, je mehr ich schreibe.

    Jean-Claude Izzo starb im ersten Monat des neuen Jahrtausends an Lungenkrebs. Seine Romane schrieb er in den letzten fünf Jahren seines Lebens.