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Alevitentum
Abseits vom Mainstream-Islam

Vor 30 Jahren wurde der Dachverband der „Alevitischen Gemeinde Deutschland“ gegründet. Eine Tagung in Hamburg wirft zum Jubiläum die Frage auf: Wer sind wir?

Von Mechthild Klein | 04.06.2019
Das traditionell alevitische Cem-Ritual wird von Frauen und Männern gemeinsam gefeiert
Das Cem-Ritual (Foto) ist die zentrale Gottesandacht in der alevitischen Tradition (imago stock&people/epd)
Manche Religionen können im Exil so richtig aufblühen und werden damit auch als Forschungsgegenstand wieder interessant. In Deutschland leben Schätzungen zufolge heute rund 500.000 bis 700.000 Aleviten, deren Eltern als türkische Gastarbeiter kamen. Ihre Religion war bis Mitte des 20. Jahrhunderts wenig erforscht, weil die Anhänger ihre Lehre in der Türkei im Verborgenen weitergegeben haben.
Die Frage, ob Aleviten zum Islam gehören, können die Wissenschaftler nicht eindeutig beantworten. Es gehe hierbei immer um Interessen von Verbänden, auch gegenüber der Mehrheit, dem sunnitischen Islam.
"Diese Frage wird den Aleviten aufgedrängt und sie sind gezwungen, sich dazu zu verhalten in Deutschland. Weil sie ihre Eigenständigkeit als Religionsgemeinschaft beweisen müssen, untermauern müssen, um bestimmte Rechte als Religionsgemeinschaft zu bekommen", sagt Religionswissenschaftler Markus Dreßler von der Universität Leipzig. In den letzten Jahren hätten sich die Aleviten stärker von den Sunniten distanziert, als Folge des 11. September und den Veränderungen in der Türkei.
Aleviten in der Türkei benachteiligt
Schon im Osmanischen Reich wurden die Aleviten als Häretiker verfolgt. Auch in der türkischen Republik erlebten die Aleviten immer wieder Übergriffe und Diskriminierung. Bis heute gibt es in der Türkei Benachteiligungen von Aleviten, sagt Dreßler:
"Diskriminierung in der Schule, Kinder werden gehänselt. Aleviten fasten zum Beispiel nicht. Und wenn man da nicht mitmacht, stellt man sich an den Rand. Das heißt, man kann es nicht offen zeigen."
Keine Pilgerfahrt nach Mekka, kein Beten fünfmal am Tag
Auch wenn heute offiziell Aleviten in der Türkei nicht ausgegrenzt werden, so verschwinden Ressentiments nicht so einfach aus der Gesellschaft, sagt Dreßler. Die Aleviten pflegen ihre eigenen Erzählungen und Rituale abseits vom Mainstream-Islam mit vielen Elementen aus dem Sufismus. So strebt der Mensch eine Art Vervollkommnung in einem Stufenweg zu Gott an. Ja, man glaubt sogar an die Wiedergeburt der Seele. Die fünf Säulen des Islams, etwa die Pilgerfahrt nach Mekka oder das Beten fünfmal am Tag, spielen hingegen keine Rolle. Aus alevitischer Sicht müssen Glaubenswahrheiten selbst erforscht werden. Dogmen werden kritisch gesehen. Auch der Koran spielt keine zentrale Rolle im Alevitentum. Die alevitischen Gottesdienste fanden jahrhundertelang geheim statt. Cem heißt dieses Ritual.
"Das ist die zentrale Gottesandacht in der alevitischen Tradition oder in der gelebten alevitischen Gemeinde, die zu verschiedenen Zeiten durchgeführt wird. In der Regel war das traditionell donnerstagnachts."
Sagt Handan Aksünger-Kizil, Professorin für Alevitisch-Theologische Studien an der Universität Wien. Aksünger wurde den weltweit ersten Lehrstuhl für Alevitentum an der Universität Hamburg berufen und ist mittlerweile nach Wien gewechselt.
Handan Aksünger-Kizil wurde auf den ersten Lehrstuhl für Alevitentum an die Hamburger Uni berufen. Sie ist an die Universität Wien gewechselt. Hier spricht sie auf dem Symposium Alevitische Studien.
Handan Aksünger-Kizil auf dem Symposium Alevitische Studien (Deutschlandradio / Mechthild Klein)
"Und da war es auch üblich, dass in den Dörfern, wenn der Geistliche oder die Geistliche kamen, dann hat sich die Gemeinschaft versammelt. Es gab immer noch Gespräche. Es werden so eine Art Konfliktlösungen durchgeführt. Es wird gemeinsam gespeist, es wird gemeinsam gebetet. Und ganz am Ende gibt es den Semah, der spirituelle religiöse Gang, der eine Art Einheit mit Gott darstellt", sagt Aksünger-Kizil.
"Erst in der Migration organisiert"
Die Forscher hatten nun, als die Aleviten nach Deutschland kamen, neue Möglichkeiten, die Religion zu ergründen. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts gab es kaum wissenschaftliche Bücher über die Religion. In der Immigration erkannten die Aleviten, dass sie hier ihren Glauben öffentlich und frei leben können, sagt Aksünger-Kizil:
"Die Aleviten haben sich erst in der Migration organisiert. Also diese Selbstorganisation explizit als Aleviten nach außen zu kommen, darüber zu sprechen ohne Angst, ist eine deutsche Geschichte in erster Linie und dann zu einer europäischen Geschichte geworden."
Die Aleviten, sagt sie, hätten sich mittlerweile emanzipiert, zeigten offen ihre Religionszugehörigkeit und seien gut integriert in der deutschen Gesellschaft. Sie gründeten rund 180 Gemeinden. Inzwischen haben die Aleviten in einigen Bundesländern Staatsverträge erhalten, die Ihnen die Möglichkeit geben, sich am Religionsunterricht und der Lehrerausbildung zu beteiligen. Theoretisch. Bundesweit existiert aber nur ein Lehrstuhl für Alevitentum in Hamburg, eine Juniorprofessur und zeitlich begrenzt. Und in Baden-Württemberg gibt es eine halbe Stelle an einer Pädagogischen Hochschule für die Religionslehrerausbildung.
Kaum Forschung zum Alevitentum
Um die wissenschaftliche Erforschung des Islam in Deutschland zu gewährleisten, fördert das Bundesbildungsministerium seit 2011 nun sechs Institute zu Islamischen Studien und Theologie. Ein siebtes soll Ende des Jahres in Berlin hinzukommen. Damit sind rund 30 Lehrstühle für die islamische Theologie vorgesehen. Von diesem Fördertopf haben die Aleviten offenbar nichts, weil sie auf ihre Eigenständigkeit als Religionsgemeinschaft pochten. Beim Symposium in Hamburg war man sich einig, was fehlt.
Prof. Raoul Motika, Direktor des Orientinstitut in Istanbul, hat als Islamwissenschaftler über das Alevitentum geforscht
Raoul Motika, Direktor des Orientinstitut in Istanbul, hat als Islamwissenschaftler über das Alevitentum geforscht (Deutschlandradio / Mechthild Klein)
"Ja, eindeutig fehlt es an universitären Forschungseinrichtungen im Bereich des Alevitentums."
Sagt der Islamwissenschaftler Raoul Motika, derzeit Direktor des Orient-Instituts in Istanbul. Die Aleviten selbst sehen sich gerne als die fortschrittlicheren Muslime. Es gibt männliche und weibliche Geistliche. Als die Aleviten im Osmanischen Reich als Ketzer verfolgt wurden, hätten Frauen die Tradition weitergegeben, sagt ein Verbandsvertreter.