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Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" mit Puppen und Menschen

1929 erschien Alfred Döblins Roman "Berlin Alexanderplatz", ein Werk, das sich für theatralische Verwendung ungefähr so gut eignet wie das Telefonbuch, was aber Theaterleute nicht groß stören muss, denn erstens wurden seit 1929 keine Stücke mehr geschrieben und zweitens ist Döblin schon so lange tot, dass man sein Epos nach Belieben zu einem Stück verhackstücken kann. Doch halt-halt-halt! Warum so negativ? Schließlich kann sich Kunst sehr wohl auf andere Kunst gründen, kann sie ummodeln und transponieren und dadurch neu und interessant werden. Am Schauspielhaus Hannover wurde gerade so ein Experiment gestartet – und es verdient großen Respekt.

Von Hartmut Krug | 02.01.2005
    Alfred Döblins überbordend vielstimmiger und montagetechnisch avancierter Großstadtroman aus dem Jahr 1929 fand schnell seinen Weg in die darstellenden Medien. Doch schon mit Piel Jutzis Verfilmung 1931 mit Heinrich George begann, was Faßbinders Fernsehversion fortsetzte und was die meisten Dramatisierungen prägt: nicht der Moloch Großstadt, sondern dessen Opfer Franz Biberkopf steht im Mittelpunkt. Dessen Figur bietet begehrtes Rollenfutter, wobei oft nur noch die Frage bleibt, ob man den Weg in die Aktualisierung oder ins Milljöh wählt. Als sich Ben Becker 1999 die Rolle am Berliner Maxim Gorki Theater buchstäblich einverleibte, ließ Oliver Reese die Geschichte aus dem U-Bahnuntergrund unserer Tage auftauchen, während Frank Castorf zwei Jahre später in Zürich einerseits mit einer Breitwand-Container-Landschaft und Videos die alte Geschichte in unsere Zeit holte, andererseits sich vom Schriftsteller Lothar Trolle eine Erzählerfigur schaffen ließ, die die Mythen und das Milieu erzählerisch einbrachte. Während Castorf aber allenfalls Ansätze eines Endspiels oder Totentanzes zeigte, bringt in Hannover Jarg Pataki, 1962 geborener Schweizer Regisseur ungarischer Abstammung, Döblins Roman konsequent als existentiellen, biblisch geprägten Totentanz vom Opfertier Mensch auf die Bühne:

    Aktualisieren ist für mich nicht der entscheidende Punkt. Entweder ist ein Thema zeitlos oder nicht. In diesem Falle geht es um den Menschen in diesem realitätsüberbordenden Kosmos. Das Zentrale in "Berlin Alexanderplatz", was oft übersehen wird und das ganze Döblinsche Werk durchzieht, ist tatsächlich immer eine religiöse Frage, die im Stadium, in dem sich Döblin noch beim "Alexanderplatz" befindet, die Position eines Suchenden ist, der aber an keinen Gott glauben kann, was sich später in seinem Leben verändert hat. D.h., es ist eine religiöse Initiationsgeschichte, geschrieben von einem Atheisten.

    Auf der Bühne von Robert Ebeling erhebt sich über einer hoch gewölbten Drehscheibe ein breites Haus, dessen Rückseite tapeziert ist mit der öffentlichen Meinung aus vielen Zeitungsseiten. Das Haus ist mal Gefängnis, mal Schlachthof, Aus seinen vielen Fenstern schauen mal Menschen, mal Schweine. Gezeigt wird mit Franz Biberkopf der Mensch als das Opfertier, das auf seiner Lebensreise letztlich ins Schlachthaus geführt wird. Zu Beginn fällt unten aus dem Haus ein Mann hinunter auf die Erde und hinein in eine Lebensreise, die sich im Kreise dreht. Franz Biberkopf gelangt aus dem Gefängnis ins freie Leben und hat sofort Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Von hoch oben kommentiert ein Maskenchor die Situation.

    Dieser Chor, der mal in langen Militärmänteln, dann nur als Reihe von Köpfen über dem Hausdach erscheinen kann, prägt als Erzähler, Kommentator und Einredner die epische Form der Inszenierung mit aus. Es gibt viele lebensgroße, phantasievoll gestaltete Puppen, etliche scheinen direkt von Grosz oder Dix zu stammen, und die Schauspieler sind maskiert oder zumindest deformiert. Stützen, Masken, Deformationen, Verkrüppelungen prägen die Figuren, und, der auf seiner Lebensreise körperlich immer mehr verfällt, erscheint nach seinem Autounfall, der ihn einen Arm kostete, wie ein unförmig dickes Monster mit einem Gesicht voller Schwären. Bei seinem Freund Reinhold sucht er Erklärung und Hilfe.

    Regisseur Jarg Pataki hat Chorleitung in Basel und Genf, Schauspiel in Genf und Schauspielregie in Berlin studiert. Ihn interessiert nicht die Ausbreitung von Psychologie, sondern er sieht Puppen wie Schauspieler als Instrumente und betont ihre Zeichenhaftigkeit . Seine Inszenierung ist ein großer poetischer Entwurf von visueller Kraft. Die Hure Babylon, eine rote Stute auf zwei Beinen, geht als Symbol von Sinnlichkeit, Lust und Verdrängung mit einem Chor merkwürdig verfremdeter Tier-Frauen durch die Geschichte. Biblische Zitate spiegeln Franzens Schicksal: Jeremias erhebt die Stimme der Bibel, Isaak wird von seinem Vater geopfert und der Todesengel bildet mit Franz am Schluss eine Piéta . Die Figur von Franz Biberkopf wird vom recht jungen Benjamin Höppner, der sich nie über das fulminante Ensemble hinausdrängt, eindringlich durch das existentielle Elend geführt. Der sinnliche Reichtum von Jarg Patakis Inszenierung, bei der die Großstadt als Hintergrundzitat durchaus anwesend ist, ist beeindruckend. Kein Mittel ist hier effektvoller Selbstzweck, sondern all die szenischen Mittel und das bunte Figurenensemble zwischen Chor, Puppen und lebendigen Schauspielern fügen sich zu einem theatralischen Gesamtkunstwerk. Es wurde vom Publikum zu Recht bejubelt.