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Alfred Schmidt: Tugend und Weltlauf. Vorträge und Aufsätze über die Philosophie Schopenhauers

"Nach meiner Philosophie, deren großer Vorzug die völlige Immanenz und die gänzliche Abwesenheit alles Mythischen, aller Hypostasen und aller historischen Auffassung der Welt ist - nach meiner Philosophie ist sie (die Welt) die Erscheinung der Bejahung des Willens zum Leben, die ihren Gegensatz in der Verneinung desselben hat, deren Eintritt die Welt aufhebt."

Von Bernd Leineweber | 14.03.2005
    So beschrieb der meist als Pessimist gescholtene Arthur Schopenhauer den Grundgedanken seiner Weltsicht. "Die Welt als Wille und Vorstellung", Schopenhauers Hauptwerk, zählt zu den einflussreichen Werken der deutschen Geistesgeschichte – mit einer wechselvollen Wirkungsgeschichte. Motive der Schopenhauerschen Philosophie wurden etwa von Max Horkheimer früh in die Kritische Theorie aufgenommen. Alfred Schmidt, der Horkheimer auf seinem Lehrstuhl für Philosophie in Frankfurt nachfolgte, sieht Schopenhauer als Ahnherrn der Existenzphilosophie. Er begründete, schreibt Schmidt in seinem neuen Buch, Metaphysik auf empirischem Material, worunter er nicht diese oder jene Tatsache verstehe, sondern "das Ganze der Erfahrung". Nach Schopenhauer sei es die Aufgabe des Philosophen, dieses Ganze der Erfahrung, das einer Geheimschrift gleiche, zu entziffern. Alfred Schmidt hat seine 40 Jahre währenden Schopenhauer-Studien jetzt in einem Band unter dem Titel "Tugend und Weltlauf" veröffentlicht. Bernd Leineweber hat ihn für uns gelesen.

    Philosophie ist Philosophiegeschichte, nur so kann sie ihre Zeit in Gedanken fassen. Diesem auf Hegel und Marx zurückgehenden Grundsatz folgte auch die kritische Theorie der Frankfurter Schule. Jede Theorie, alles Denken ist geschichtlich bestimmt und gesellschaftlich vermittelt, und wer sich den "Zeitkern" des Denkens nicht bewusst macht, verfehlt die gesellschaftlichen Möglichkeiten des Denkbaren. Für die letzte unmittelbare Schülergeneration der Kritischen Theorie auf dem Höhepunkt ihres Ruhms in den sechziger Jahren folgte aus dem kritisch Denkbaren das kritisch Machbare. Um uns mit unseren Vorstellungen von einer radikalen gesellschaftsverändernden Praxis sowohl gegen die Schulhäupter der Kritischen Theorie, die eine solche Praxis ablehnten, als auch gegen den orthodoxen Marxismus zu behaupten, holten wir uns Argumentationshilfe durch eine neue Marx-Lektüre. Zwischen den artistischen Argumentationsübungen in Adornos Oberseminar und den strapaziösen Debatten zur Vorbereitung der nächsten hochschulpolitischen Aktion oder Vietnamdemonstration suchten und fanden wir Abwechslung und solide philosophiegeschichtliche Kenntnisse bei Alfred Schmidt, damals Assistent am Philosophischen Seminar der Frankfurter Universität. Alfred Schmidts Dissertation über den "Begriff der Natur in der Lehre von Marx" gehörte zum festen Bestand unseres eigenen Marx-Studiums. Bereits in diesem Buch ist der Stil seines Lebenswerks erkennbar, das die vorliegende Sammlung seiner Arbeiten über Schopenhauer aus vier Jahrzehnten dokumentiert: Alfred Schmidt betreibt weder nur Ideen- oder Werkgeschichte, auch nicht bloße Textphilologie, sondern er pflegt einen gleichsam physiognomischen Umgang mit seinen Autoren, zu denen neben Schopenhauer vor allem Marx, Engels und Feuerbach, aber auch Nietzsche, Freud und Herbert Marcuse gehören.

    Schmidts Studien sind ebenso sehr unabhängige Untersuchungen, wie sie durch eine systematische Fragestellung miteinander verbunden sind, die dem gilt, was im Fachjargon "Materialismus" heißt. Damit ist jene philosophische Strömung gemeint, die in kämpferischer Auseinandersetzung mit dem herrschenden Idealismus die Abhängigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und kultureller Erscheinungen von leib-seelischer Bedürftigkeit betont und deren politische, ideologische und illusionäre Verklärung durch herrschaftliche Interessen an Unterwerfung und Ausbeutung anprangert. Dieser "Materialismus" ist zugleich der vorherrschende Grundzug der philosophischen Physiognomie von Schmidts wichtigstem Lehrer, Max Horkheimer, auf dessen Lehrstuhl an der Frankfurter Universität er 1972 dann auch berufen wurde. Schmidts Materialismusstudien sind ebenso sehr von Horkheimer angeregt, wie sie der Erhellung seines Denkens dienen, das seit der Rückkehr aus dem Exil zunehmend im Schatten Adornos stand. Sah Adorno mehr im Kunstwerk ein Bild der befreiten Gesellschaft, so Horkheimer, der im Verhältnis zu seinem Freund und Kollegen Adorno materialistischer und weniger kunst- als moralphilosophisch dachte, in realen Prozessen der Befreiung der Menschen aus seelischer Abhängigkeit, wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Herrschaft. Das Materielle aller Kultur, menschliche Not und Verlassenheit in allen ihren Formen, fand Horkheimer in der ersten und der letzten Phase seines ansonsten eher an Marx orientierten Denkens am prägnantesten von Schopenhauer durchdacht. Schopenhauer hielt er für eine ihm verwandte Figur, er stand für eine Art zu denken, die Schmidt folgendermaßen würdigt:

    "Zu Unrecht hat Schopenhauers unbestechliche Diagnose des Weltlaufs während der letzten Jahrzehnte nicht die ihr gebührende Beachtung gefunden. Sein ... Denken sucht an existentieller Härte und Wahrhaftigkeit seinesgleichen. Philosophie ist für Schopenhauer weder ein bloßes Gedankenspiel noch sinngebende, apriorische Konstruktion oder interesselose Schau. Ihr 'großes Problem’, heißt es in einem von Schopenhauer im Jahre 1858 geführten Gespräch, 'ist nicht das des Guten, sondern das des Üblen.’ Und er fügt hinzu: 'Misstrauen Sie jeder süßlichen Metaphysik! Eine Philosophie, in der man zwischen den Seiten nicht die Tränen, das Heulen und Zähneklappern und das furchtbare Getöse des gegenseitigen allgemeinen Mordens hört, ist keine Philosophie.’ Schopenhauer ist ein bedeutender Schüler der Aufklärung, ein nonkonformistischer Selbstdenker, ein Verächter bloßer Zeitmoden und ein Meister der deutschen Sprache. Wer sich in seine Schriften vertieft, wird reich belohnt."

    Diese unverwechselbare Physiognomie des Philosophen Schopenhauer findet sich wie keine andere auch bei dem Begründer der Kritischen Theorie. Sich mit Horkheimers Denken vertraut zu machen, heißt für Alfred Schmidt, den eher verkannten, gemiedenen Philosophen Schopenhauer nahe an sich herankommen zu lassen, seine volle Gestalt zur Erscheinung zu bringen und ihn gleichsam zu erzählen. Schmidt gelingt es, seinen Autor so zur Sprache zu bringen, dass er wie im Gespräch gegenwärtig wird. Fast in jedem Satz seiner Aufsätze kommt er zu Wort. Ihre Lektüre macht schnell deutlich, dass hier nicht zitiert wird. Die distanzierende Haltung des Philologen ist Schmidt ebenso fremd wie die des Kritikers oder Rezensenten. In seiner physiognomischen Darstellungskunst verliert alles Geschichtliche und Zeitgebundene den Charakter des Überholten und Abgelebten, bloß Historischen. Er ist nur behutsamer Vermittler, der dann tätig wird, wenn ein Wort oder eine Gebärde des Gesprächspartners den gemeinsamen Fluss des Redens unterbricht. Sparsame Hinweise aus dem Repertoire der üblichen Philosophiegeschichte, die an Schulen, Abhängigkeiten von Lehrmeinungen, historischen Kontexten und Entwicklungen interessiert ist, dienen nur dazu, der sich mit ihren eigenen Worten zu immer deutlicherer Erscheinung bringenden Gestalt die nötige Kontur zu geben.

    Als physiognomisch lässt sich Schmidts philosophiegeschichtliches Verfahren auch deshalb charakterisieren, weil er den vorgestellten Autor nicht nur eher beiläufig historisch verortet, sondern auch nicht das so genannte Brauchbare von dem angeblich Unbrauchbaren unterscheidet. Für ein solches zensierendes Verfahren bietet sich gerade Schopenhauers Philosophie an. Denn wer kann von uns Modernen, die wir auf 'Positives Denken’ eingestellt sind, mit der Schopenhauerschen Weltverneinung, seiner Verurteilung des nur Leid und Schmerz und Unfrieden stiftenden Lebensdrangs und seiner buddhistischen Askese schon etwas anfangen? Aber Schmidt zensiert weder den Idealismus Schopenhauers noch seinen Pessimismus, auch wenn er den Passagen seiner Rede mehr Raum gibt, in denen sich der Materialist Schopenhauer vorstellt und erstaunlich Aktuelles über das Denken als Hirnfunktion und das denkende Ich als ausführendes Organ von Trieben und Wünschen sagt. Mit dieser Einsicht nahm Schopenhauer, was Schmidt im vorliegenden Band ausführlich diskutiert, die Kernthese der Psychoanalyse vorweg, die Horkheimer wiederum neben dem Marxismus zum zentralen Bestandteil seiner Kritischen Theorie machte.

    Das bildungsbürgerliche Gebot "Du sollst deinen Schopenhauer lesen" mag kaum mehr Geltung haben. Dass man ihn dennoch lesen soll, wenn man ein wichtiges, bis in die Gegenwart wirkendes Stück Ideengeschichte verstehen will, ist ein Gebot, dem man gern folgt, wenn man die vorliegenden Aufsätze von Alfred Schmidts gelesen hat.

    "Tugend und Weltlauf" heißt das Buch von Alfred Schmidt über die Philosophie Arthur Schopenhauers, das Bernd Leineweber eben besprach. Es ist als erster Band in der Reihe "Philosophie in Geschichte und Gegenwart" im Verlag Peter Lang erschienen, hat 450 Seiten und kostet 74.50 Euro. Im Juni soll im Verlag Zweitausendeins eine dreibändige Schopenhauer-Werkausgabe erscheinen, die Ludger Lütkehaus ediert hat. Sie enthält alle zu Lebzeiten des Philosophen publizierten Arbeiten in der von ihm autorisierten Fassung. Die drei Bände sind für den Preis von 24.90 Euro angekündigt.