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Algen-Evolution im Zeitraffer

Biologie. – Die Welt der Technik unterliegt einem rasanten Wandel, in dem schon Jahre lange Zeiträume darstellen. In der Sphäre der Biologie jedoch vollziehen sich Entwicklungen oft in Zeitskalen von Jahrtausenden oder gar Jahrmillionen. Geht es darum, das Zusammenspiel von genetischer Variabilität und natürlicher Auslese zu analysieren, dann müssen viele Generationen einer Spezies beobachtet werden, bevor Veränderungen sichtbar werden. Doch wie Potsdamer Forscher jetzt an bestimmten Räuber-Beute-Zyklen bei Algen herausfanden, kann Evolution auch ungewöhnlich schnell ablaufen.

    Von Gabor Paal

    Knapp einen Liter fassen die Glasgefäße im Labor von Gregor Fußmann, Ökologe und Seenforscher von der Professur Ökologie und Ökosystemmodellierung der Uni Potsdam. In diesen Gefäßen: Ein kleines Mini-Ökosystem mit zwei Arten von Plankton-Organismen, die in Süßgewässern auf der ganzen Welt vorkommen: Zum einen die kleine einzellige Chlorella-Alge, zum anderen mehrzellige Rädertierchen, so genannte Rotatorien.

    Die Algen können ziemlich hohe Dichten haben, sie können mehrere Millionen Organismen pro Milliliter erzeugen. Die Rädertiere sind zwar immer noch mikroskopisch klein, sind aber viel größer als die Algen, sind etwa ein Fünftel Millimeter groß, während die Algen noch etwa 100 mal kleiner sind.

    Weil die Rädertierchen die Algen fressen, entsteht ein so genannter Räuber-Beute-Zyklus – eines der elementaren Prinzipien der Ökologie: Je mehr Futter vorhanden ist, desto mehr Fresser können sich davon ernähren. Vermehrt sich eine Tierart, dann vermehren sich erst einmal automatisch auch dessen natürliche Feinde. Doch irgendwann kippt das System wieder: Denn wenn sich zuviel Räuber über die Beute hermachen, wird die Beute wieder knapp – sie reicht dann nicht mehr für alle Räuber, so dass deren Population wieder kleiner wird. So gehen in vielen Ökosystemen Räuber- und Beutepopulation auf und ab, und zwar einigermaßen im Gleichtakt: Viel Beute, viele Räuber, wenig Beute, wenig Räuber. Bei diesem ökologischen Kreislauf ändert sich jeweils nur die Größe der Populationen, evolutionär, also an den Eigenschaften der Organismen selbst, ändert sich nichts. Auch Gregor Fußmann hat bei seinen Algen einen Räuber-Beute-Zyklus beobachtet – aber nicht, wie er im Buche steht. Denn bei ihm findet zeitgleich zu den Räuber-Beute-Schwankungen auch eine Art Evolution statt: Die Algen selbst verändern sich:

    Wenn viele Räuber da sind, dann ist es natürlich günstig, ein schlechtes Futter zu sein, also ein fraßresistentes Futter. Das heißt, wenn mehr Räuber im Milieu sind, dann dominieren die Algen, die resistent gegen die Räuber sind.

    Gibt es dagegen nur wenig Räuber, dann herrschen Algen vor, die sich durch ein schnelleres Wachstum auszeichnen. Die Größe der Räuberpopulation übt somit einen unmittelbaren Selektionsdruck auf die Algen aus – Evolution zum Zuschauen. Die Algen verändern sich im gleichen Zeitmaßstab wie die Menge der Rädertierchen wächst und schrumpft, und das heißt in einem Rhythmus von wenigen Wochen oder sogar Tagen.

    Bisher hat man eigentlich nicht angenommen, dass die Evolution über solch kurzen Zeiträume eine große Rolle spielen könnte, und wir denken jetzt, dass es doch ein Mechanismus ist, den man auch in Rechnung stellen muss.

    Fußmann und seine Kollegen haben auch herausgefunden, warum die Evolution in diesem Ökosystem aus Algen und Rädertierchen so schnell gehen kann. Es liegt vor allem daran, dass sich die Algen asexuell fortpflanzen. Das heißt, die Gene werden nicht in jeder Generation neu gemischt, sondern jeder Tochteralge ist ein natürlicher Klon ihrer Mutteralge, sie ist mit genetisch identisch.

    Und wir haben festgestellt, dass es verschiedene Klone von Algen in unserer Population gibt, dass vielleicht zehn Klone miteinander interagieren, und dass diese Klone diese unterschiedlichen Eigenschaften genau haben.

    Die Milliarden von Algen, die in den Gefäßen herumschwimmen, bestehen also nur aus etwa zehn verschiedenen Klon-Linien. Wenn nun die Zahl der Räuber wächst, können sich ganz schnell diejenigen Linien durchsetzen, die gegen die Räuber resistent sind. Durch dieses Zusammenspiel aus Ökologie und Evolution verändert auch der Räuber-Beute-Zyklus seinen Rhythmus: Die Populationskurven weichen dann deutlich von den gleichförmigen Wellen, wie sie in den Lehrbüchern stehen, ab. Das alles fand zwar nur im Labor statt, entspricht aber, so der Seenforscher, durchaus den natürlichen Bedingungen:

    Wir denken schon, dass das einen Einfluss auf natürliche Umgebungen hat, denn solche Zyklen wurden schon öfters in der Natur festgestellt, und in unseren Seen läuft natürlich auch eine Populationsdynamik ab, ein Auf und Ab von Räuber und Beute, und auch in unseren Seen finden wir solche klonalen Organismen, die sich, wie man so schön sagt, durch Jungfernzeugung vermehren.

    Dass die Evolution manchmal überraschend schnell vonstatten geht, haben Wissenschaftler in den letzten zehn Jahren häufiger festgestellt. Bestes Beispiel sind die Buntbarsche im ostafrikanischen Viktoriasee. Innerhalb von nur 15.000 Jahren sind dort über 400 neue Buntbarsch-Arten entstanden – eine Zahl, die andere Wirbeltiergruppen selbst in Jahrmillionen nicht erreichen. Fußmann sieht da durchaus eine Verbindung zu seinen Beobachtungen an den Algen:

    Ich würde sagen, das ist verwandt: Bei uns geht es eben um die Schnittstelle zwischen Ökologie und Evolution. Bei den Viktoria-Barschen geht es um die Artbildung selbst, und da sind doch viel längere Zeiträume beteiligt, obwohl natürlich dies immer noch das Beispiel für die schnellste Artbildung bei den Vertebraten ist, also bei den Wirbeltieren.