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Alice im Kaufland

In Warenhäusern bleibt kein Konsumwunsch offen und der graue Alltag außer Kraft gesetzt. Ist das Einkaufswunderland Realität oder ein Traum? Dieser Frage gehen die Theaterleute der Gruppe MS Schrittmacher in einem Berliner Kaufhaus nach, wo sie ihre Variante von "Alice aus dem Wunderland" inszenieren.

Von Gerd Brendel | 28.03.2012
    In Berlin-Neukölln ist Alice den Wechseljahren näher als der Pubertät.

    Du weißt doch, dass ich heute ein Vorstellungsgespräch habe. Ich bin einmal nicht zu Hause. Wir haben sechs Schubladen. Du sollst daraus die Trikots suchen. Ich bin nicht nervös. Nein, ich bin nicht nervös. Moment warte mal, irgendwas ist hier komisch.

    Im Kaufhaus am Hermannplatz versetzt ein Handyanruf die alleinerziehende Alice an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Vor dem rettet sie nur ein -- vorbeispringender Mann im -wie könnte es anders sein- grellen Hasenkostüm . Natürlich läuft auch die erwachsene Alice wie ihre literarische Vorläuferin dem Wesen hinterher. Aber statt in einen Kaninchenbau folgt sie dem Hasen durch eine Eisentür mit der Aufschrift "Nur für Mitarbeiter". Ich und 24 andere Zuschauer dürfen mit.

    Wir sind mitten in der Generalprobe der aktuellen Produktion der Performance-Gruppe MS Schrittmacher. Lewis Carrols Kinderbuchklassiker "Alice im Wunderland" stand schon lange auf der Wunschliste des Kollektivs und dessen Regisseurs Martin Stiefermann:

    "Aber mich hat nie die Märchenwelt interessiert, sondern diese merkwürdige Traumdramaturgie und -Psychologie in dem Buch, und ich habe immer nach einem Ort gesucht, wo hole ich diese Geschichte ins Hier und Heute, und dann kam mir irgendwann die Idee, die Geschichte und die Figur gehen auf in einem Kaufhaus."

    Das Wunderland, das in Stiefermanns Version hinter der Eisentür beginnt, führt in den Kaufhauskeller mitten ins Reich der Schaufenster-Dekos. Riesennussknacker halten stehend Frühlingsschlaf bis zur nächsten Weihnachts-Saison und nackte Schaufensterpupen blicken ins Leere. Kein Wunder, dass Herr Maus, auf den Alice hier trifft, die Plastik-Torsi mit Namen anspricht und sich mehr Sorgen um seine Puppen macht, als um seine Besucherin. Im Original schwimmen die Maus und die geschrumpfte Alice durch das Tränenmeer, das die Riesen-Alice kurz zuvor verursacht hat, ins Wunderland. Hier folgen wir der Heldin in die Lebensmittelabteilung. Stiefermann:

    "Die Leute, die hier kaufen und hier sind, und teilweise habe ich das Gefühl, hier leben, die werden, ohne dass sie es wissen, zu meinen Statisten, und das ist natürlich das spannende."

    Die alte Frau neben der Brottheke - ist sie Teil des Stücks oder nur eine Zufallspassantin? Die Verkäuferin mit dem gelangweilten Blick - gehört sie zum Theater oder zum Kaufhauspersonal? Weiter geht die Tour durchs Kaufhauswunderland. Der Zuschauer vor mir greift gedankenverloren nach einer Packung herabgesetzter Boxershorts. Ich entdecke meine Hemdenlieblingsmarke. Aber schon bedeutet uns unsere stumme Führerin, Alice weiter zu folgen. Die gerät immer mehr in die Welt von Kaufen und Verkaufen.

    "Es scheint überhaupt keine Regeln zu geben, und wenn es welche gibt, dann hält sich keiner dran. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie verwirrend es ist, wenn man ständig etwas haben, nehmen oder sein soll."

    Das wenig bekannte Kapitel, in dem die literarische Alice auf eine selbstmitleidige falsche Suppenschildkröte trifft, übersetzt Stiefermann in eine urkomische Szene in der Buchabteilung.

    "Da haben wir überlegt, wie übersetzen wir das. Okay, ein Ex-Soap-Star schreibt eine Biografie und keinen interessiert es. Und so ist die Szene entstanden, und das Schöne ist, dass wir da noch mal einen doppelten Boden drinhaben, indem wir einen echten Ex-Soapstar drin haben, nämlich Armin Dellapicola, der 'Hinter Gittern' gemacht hat."

    Das Alice-Buch parodiert viktorianische Erziehungsideale, MS Schrittmachers den alltäglichen Irrsinn im Kapitalismus. Nur logisch, dass die Kaufhausdirektorin Frau König in der vorletzten Szene, statt "Kopf ab" wie ihre Namenvetterin im Original ihren Untergebenen, die gerade verzweifelt versuchen, Weihnachtsmänner in Osterhasen umzudekorieren, ein schrilles "Gefeuert" entgegenbrüllt.

    Am Ende erwarten alle Alice zum Gericht an der Kasse. Wo im Original ein absurder Hochverratsprozess seinen Lauf nimmt, wird Alice im Kaufhaus mit Werbebotschaften bombardiert, vor denen sie sich auf allen Vieren Richtung Ausgang rettet. Ihr Albtraum ist zu Ende. Ich bleibe freiwillig. Wo war noch mal der Stand mit den herabgesetzten Boxershorts?