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Alisa Roth
"Insane"

Jeder fünfte Amerikaner leidet unter einer psychischen Erkrankung: von Depressionen über Schizophrenie bis zu Psychosen. Viele Kranke landen im Gefängnis. Die Journalistin Alisa Roth hat einen verstörenden Blick in das Innere des US-Strafvollzugs geworfen.

Von Katja Ridderbusch | 16.07.2018
    Der US-amerikanische Schauspieler Jack Nicholson (M) in einer Szene des Milos-Forman-Films "Einer flog über das Kuckucksnest" aus dem Jahr 1979. Nicholson spielt den Strafgefangenen McMurphy, der - um einem Arbeitslager zu entgehen - "verrückt" spielt und sich in eine Nervenheilanstalt einweisen läßt. Zunächst kann er Spaß und Abwechslung in den monotonen und oft unmenschlichen Alltag der Heiminsassen bringen, doch schließlich scheitert er und wird durch eine Gehirnoperation seiner Persönlichkeit beraubt. Der Film, entstanden nach dem Bestseller-Roman von Ken Kesey, wurde 1976 mit vier Oscars ausgezeichnet (Regie, bester Film, beste/r Hauptdarsteller/in). |
    Der Schauspieler Jack Nicholson (Bildmitte) in "Einer flog über das Kuckucksnest". In den USA landen heute viele Menschen mit psychischen Krankheiten im Gefängnis. (United_Artists)
    "You guys do nothing but complain about how you can't stand it, and then you don't have the guts to just walk out. What do you think you are, crazy or something?
    Eine Szene aus dem Spielfilm "Einer flog über das Kuckucksnest" mit Jack Nicholson in der Hauptrolle. Kaum ein Augenzeugenbricht konnte den Zustand in amerikanischen Nervenheilanstalten um die Mitte des 20. Jahrhunderts besser einfangen. Die Isolation. Den Sadismus. Den Dreck.
    Heute werden Patienten zwar nicht mehr per Gehirn-OP in dämmernde Zombies verwandelt. Doch ansonsten scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Es habe sich lediglich der Ort geändert, sagt die New Yorker Journalistin Alisa Roth. Heute würden die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen statt in Kliniken in Gefängnissen behandelt. Roth hat ein Buch darüber geschrieben, das von der Kritik hochgelobt wurde: "Insane". Geisteskrank.
    Mehr als die Hälfte aller Inhaftierten in US-Gefängnissen leiden unter einer psychischen Erkrankung, von Depression und Drogensucht bis zu Schizophrenie und Psychose. Bei Frauen liegt der Anteil noch höher: 75 Prozent.
    Das Problem ist nicht neu. "Während unserer gesamten Geschichte fiel es uns in den USA stets schwer zu entscheiden, wie und wo man psychisch kranke Menschen am besten behandeln sollte", schreibt Roth, "und es gab immer schon einen beachtlichen Anteil der Kranken, die in Gefängnissen landeten".
    Gefängnis statt Psychiatrie
    Hinzu kommt: Die meisten staatlichen Heilanstalten wurden in den letzten Jahrzehnten geschlossen. Doch die Gemeinden seien mit der ambulanten Betreuung psychisch Kranker häufig überfordert, sagt Roth. Es gibt zu wenig Therapieplätze und zu wenig Ärzte - und viele Versicherungen übernehmen die Kosten für die Behandlung psychischer Erkrankungen nicht oder nur teilweise.
    "Wer nicht hochgradig selbstmordgefährdet ist oder sich in einer akut psychotischen Phase befindet und Stimmen hört, die andere nicht hören, hat keine Chance, von einem Psychiater untersucht zu werden", sagt die Autorin.
    Viele psychisch Kranke landen wegen Bagatelldelikten im Gefängnis, wegen Ladendiebstahl zum Beispiel oder Herumlungern. Doch das Gefängnis sei der falsche Ort, betont Roth. Denn: Dort gehe es um Bestrafung, nicht um Therapie.
    Die Journalistin ist quer durch die USA gereist, hat Gefängnisse auf dem Land und in den Städten besucht, hat Insassen, Angehörige, Vollzugsbeamte und Ärzte interviewt. In ihrem Buch kombiniert sie Analyse und Episoden. Es sind vor allem die Geschichten einzelner Inhaftierter, die berühren, befremden und verstören.
    "Ich erinnere mich genau an den Gestank, der aus dem Türschlitz in der Zelle eines Mannes drang", sagt Roth. "Diesen überwältigenden Gestank nach Fäkalien. Damit hatte der Mann die Wände seiner Zelle beschmiert. Ein anderer Insasse war in einem Rollstuhl festgebunden. Er hatte sich zuvor ein Stück Fleisch aus seinem Unterarm gerissen. Wie krank und verzweifelt muss jemand sein, der so etwas tut?"
    Die Autorin berichtet von einem Gefangenen in Florida. Den stellten die Vollzugsbeamten zur Strafe dafür, dass er seine Zelle beschmutzt hatte, zwei Stunden lang unter eine 70 Grad heiße Dusche. Der Mann starb wenig später.
    Einzelhaft macht krank
    Doch es geht in "Insane" nicht nur um persönliche Tragödien. Sondern auch um die gesellschaftlichen Folgen der Inhaftierung psychisch Kranker, besonders in der Einzelhaft. "Kaum ein System richtet größeren Schaden an der Psyche eines Menschen an als Einzelhaft", schreibt Roth. "Schlimmer noch: Diese Praxis führt dazu, dass die Zahl von psychisch Kranken rasant wächst. Eine der fatalen Folgen von Einzelhaft ist, dass sie ganz offensichtlich gesunde Menschen erst krank macht - und zwar schwerwiegend."
    Roth erzählt mit viel Empathie von den inhaftierten Patienten, aber sie lässt auch die andere Seite zu Wort kommen. Die Vollzugsbeamten zum Beispiel, die häufig zu Therapeuten und Pflegern wider Willen werden.
    "Das ist eine schreckliche Situation", sagt sie, die auch auf Polizisten zutreffe. Die seien plötzlich mit Menschen in einer psychischen Krisensituation konfrontiert. "Ein Beamter sagte mir: Ich weiß, wie ich bei einen Raubüberfall handeln muss oder bei einem Mord. Aber ich bin nicht dafür ausgebildet mit jemandem umzugehen, der sich umbringen will, der Stimmen hört oder auf der Straße Unsinn redet."
    Training für Polizisten und Vollzugsbeamte
    Die Autorin verharrt nicht bei der Beschreibung der Missstände, sondern stellt auch Lösungsmodelle vor. Zum Beispiel: Training von Polizisten und Gefängnisaufsehern für den Umgang mit psychisch Kranken. Abschaffung der Einzelhaft. Kooperation zwischen Ärzten und Pflegekräften innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern.
    Bislang seien das zwar meist Einzelfälle, sagt Roth. Dennoch sei sie hoffnungsvoll. Weil allen Beteiligten bewusst sei, dass es eine ganzheitliche Lösung brauche. Dass es der Gesellschaft mehr schade als nutze, wenn sie die Behandlung psychischer Krankheiten vom Rest der Gesundheitsversorgung abkoppele, sagt sie.
    "Insane" ist ein kraftvolles und aufrüttelndes, ein beunruhigendes und unbequemes Buch. Alisa Roth gelingt es, einen intimen Blick auf das Innenleben des amerikanischen Strafvollzugs zu werfen und dabei einen vermeintlich toten Winkel auszuleuchten - dort, wo das Gefängnis im wirklichen Wortsinn zur Irrenanstalt wird.
    Alisa Roth: "Insane. America's Criminal Treatment of Mental Illness",
    Basic Books, 320 Seiten, etwa 24 Euro.