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Alle Macht dem Volke?

In Baden-Württemberg steht die Volksabstimmung über die Zukunft des Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 an. Das Worst-Case-Szenario für die grün-rote Koalition: Das Quorum würde verfehlt, aber eine klare Mehrheit spräche sich dagegen aus. Demokratie ist eben nicht so leicht.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 25.11.2011
    Demokratie ist eine schöne Theorie, gegen die es zwei praktische Einwände gibt: erstens, man schaue sich mal die Visagen in der Fußgängerzone oder in öffentlichen Nahverkehrsmitteln an; zweitens, die heutige Welt ist einfach viel zu kompliziert, nicht mal Experten verstehen genug davon. Wenn allerdings ein Großteil der Parlamentarier nicht weiß, worum es bei dem Rettungsschirm geht, den sie gerade beschließen, dann kann das gemeine Volk darüber ebenso gut selbst entscheiden, denn viel dümmer ist es auch nicht.

    Oder doch? Nein, ja, nein, ja: Von dieser Einschätzung hängt alles ab, was man unter Politik versteht. Dient Politik dazu, die Menschen zu belehren, zu bearbeiten und zu bessern? Oder ist der Bürgerwille die höchste Instanz in einem demokratischen Staat? Dass das Volk der Souverän sei, sagt sich in Sonntagsreden leicht dahin, aber dabei wird oft übersehen, dass man sich mit dem jeweils vorhandenen Volk abfinden muss. Es gibt kein anderes. Man kann sich keines aussuchen und keines basteln.

    Daraus folgt, dass wirkliche Demokratie nur da funktioniert, wo das Staatsvolk sich selbst wertschätzt. Also in Deutschland eher nicht. Das ist einer der großen Unterschiede zur Schweiz, um deren Betrachtung man nicht herumkommt, wenn es um direkte Demokratie geht. Ob ein Tunnel durch den Gotthard gebohrt wird oder ob die Gemeinde ein Hallenschwimmbad baut, ob das Rentenalter verändert oder ob ein internationales Abkommen geschlossen wird – über alles stimmt das Schweizer Volk ab. Es wählt nicht nur seine Regierung, sondern auch die Staatsanwälte, die Schuldirektoren und die neuen Mitbürger, denn wer als Ausländer nach dreizehnjähriger Wartezeit die schweizerische Nationalität bekommen möchte, über dessen Antrag entscheidet zuletzt die Gemeindeversammlung am Wohnort. Daher übrigens die berühmte Freundlichkeit aller zu Allen: Hier hat jeder über jeden mitzubestimmen.

    Lässt sich dieses kleinstaatliche Miteinander auf größere Länder übertragen? Wenigstens auf einzelne deutsche Bundesländer? Darüber mögen Staatsrechtler gelehrte Abhandlungen schreiben und Wissenschaftler am Deutschen Institut für Sachunmittelbare Demokratie e.V. vergleichende Forschung betreiben; es kommt doch vor allem auf ein paar kulturelle Prämissen an. Zum Beispiel Respekt: Wie geht die Mehrheit mit der Minderheit um? Das Wesentliche an einem Referendum ist der Tag danach. Ist das Thema wirklich vom Tisch oder beharken sich Sieger und Verlierer weiterhin? Gerade wenn der Ausgang knapp war, besteht demokratische Reife darin, einen Mittelweg zu wählen und nicht nach der Devise 'Mehrheit ist Mehrheit' Vollgas zu geben. Das Institut der Volksabstimmung kann nämlich die Kompromissfähigkeit genauso fördern wie die Kompromisslosigkeit.