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"Alle möglichen Verschwörungstheorien sind da"

Nach Ansicht des Balkan-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Dusan Reljic, werden die Gegner der Modernisierung Serbiens versuchen, aus dem Tod Slobodan Milosevics Kapital zu schlagen. Die jetzige Regierung unter Ministerpräsident Vojislav Kostunica stehe in der Verantwortung, einen Prozess der Vergangenheitsbewältigung ins Rollen zu bringen.

Moderation: Ferdos Forudastan |
    Ferdos Forudastan: Es war ein gewaltiges Verfahren: Über fast fünf Jahre lang hat das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag rund 400 Zeugen vernommen, mehr als eine Million Seiten gelesen, gut 200 Videos gesichtet. Im Sommer sollte der Prozess gegen Slobodan Milosevic zu Ende gehen und für Ende des Jahres hatten Beobachter das Urteil "lebenslang" erwartet. Gestern ist der ehemalige serbische Präsident in seiner Zelle tot aufgefunden worden. Milosevic, der Tod, Vertreibung, Leid und Elend über Millionen seiner Landsleute gebracht hatte, war schwer herzkrank. Dennoch blühen vor allem in Belgrad Gerüchte und Spekulationen, der Ex-Diktator sei ermordet worden. Nun soll eine Obduktion die Todesursache klären - und bei dieser Obduktion werden auch ein serbischer und ein russischer Arzt dabei sein. Dusan Reljic ist Balkan-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Schönen guten Morgen, Herr Reljic.
    Dusan Reljic: Guten Morgen, Frau Forudastan.

    Forudastan: Wenn Sie sich so die Gerüchteküche betrachten: Wer vermutet, wer genau vermutet denn was genau hinter dem Tod von Milosevic?

    Reljic: Vor allem versuchen viele Leute, jetzt politisches Kapital noch aus seinem Tod zu schlagen. All diejenigen, die sich als Verlierer des politischen Kurses in Serbien, der nach der Vertreibung von Milosevic eingeschlagen wurde, empfinden, versuchen jetzt noch einmal für sich ein paar Punkte zu gewinnen. Das sind alle Leute, die keinesfalls Serbien als einen modernen westlichen Staat sehen, sondern eher in die Nähe von einem imperialen Russland oder sogar zu einer Großmacht China sehen.

    Forudastan: Und was vermuten die denn, wer Herrn Milosevic umgebracht hat und warum?

    Reljic: Na ja, Milosevic war wirklich krank und - er war herzkrank, er hatte hohen Blutdruck. Er hat sich sehr oft beschwert - und letzte Woche noch einmal. Er verlangte, dass er nach Russland zu einer Behandlung geht und hat auch einige Male gesagt, dass er glaubt, dass die medizinische Versorgung, die ihm zuteil kommt vom Haager Tribunal, schlecht wäre. Und da letzte Woche ein anderer Angeklagter, der kroatische Serbe Milan Babic, sich das Leben genommen hatte, ist die Gerüchteküche natürlich voll am Dampfen. Alle möglichen Verschwörungstheorien sind da. Vor allem diejenigen, die sagen: Der Westen hat Milosevic jetzt umgebracht, denn dieser Prozess konnte nie zu Ende gebracht werden und deswegen wollte man ihn aus dem Weg räumen.

    Forudastan: Sind das jetzt ein kleines Häufchen Ewiggestriger? Oder sind das relativ viele Menschen, die daran glauben, dass Milosevic ermordet worden ist?

    Reljic: Seine Partei, die Sozialistische Partei Serbiens, deren phänomenaler Vorsitzender er bis gestern gewesen ist, könnte es jetzt bei den Wahlen nicht über die Fünfprozenthürde schaffen. Aber es gibt sicher eine Gruppe von vielleicht 20 bis 30 Prozent der Menschen in Serbien, die sich sehr schwer der Modernisierung stellen und sich sehr schwer auch der jüngsten Vergangenheit stellen. Und das führt immer wieder dazu, dass eben so Verschwörungstheorien oder überhaupt der Glaube an eine sehr ausgeprägte antiserbische Haltung des Westens sich immer wieder durchsetzen können.

    Forudastan: Welche Bedeutung hat denn der Tod von Milosevic für die weitere politische Entwicklung in Ex-Jugoslawien?

    Reljic: Die unmittelbaren politischen Machtverhältnisse sind von seinem Tod nicht betroffen. Was eigentlich ein Problem ist, ist die Vergangenheitsbewältigung. Mit seinem Tod, ohne dass ein Urteil gesprochen ist, gibt es nach wie vor Platz für viele seiner Anhänger und auch anderer Menschen zu behaupten, dass er nicht das gewesen ist, was er wirklich gewesen war. Diese Konfrontation mit der Geschichte, das ist eben das, was durch seinen Tod weggefallen ist. Und ich habe mir auf einer Website in Belgrad des alternativen demokratischen Hörfunk- und Fernsehsenders, B92, die Debatte unter den jungen Menschen vor allem angeschaut, die E-Mails schicken. Und ein junger Mann aus Belgrad schickte eine E-Mail, in der stand: Noch einmal ist er davongekommen. Und das ist, glaube ich, die Essenz, dass Milosevic noch einmal davongekommen ist, ohne dass ein richtiges Urteil über ihn gesprochen wurde.

    Forudastan: Das heißt aber nicht nur Milosevic ist davongekommen, sondern auch die Menschen, die seine Anhänger waren beziehungsweise immer noch sind, weil auch für sie ja ein Stück Aufarbeitung wegfällt?

    Reljic: Es ist eine große Verantwortung an der jetzigen Regierung, insbesondere an Ministerpräsident Vojislav Kostunica, dass dieser Prozess der Vergangenheitsbewältigung eigentlich ins Rollen gebracht wird. An den Peripherien der Gesellschaften in Südosteuropa gibt es natürlich immer Menschenrechtsorganisationen, Intellektuelle, Künstler, die sich mit verschiedenen Mitteln der Vergangenheit stellen - mit Filmen, mit Büchern, mit Aktionen. Aber im Mainstream, in der Mitte der Gesellschaft, wird es wohl noch ziemlich lange dauern, bis man sich der Geschichte stellt. Und das ist eben etwas, was man nicht nur aus Südosteuropa kennt. Das ist, glaube ich, etwas, womit sich alle Gesellschaften sehr schwer tun.

    Forudastan: Der Prozess kommt ja vordergründig nun deshalb nicht zum Abschluss, weil Milosevic gestorben ist. Es gibt aber auch Kritiker, die sagen, das Ganze hätte schon sehr viel früher, sehr viel schneller und trotzdem gründlich über die Bühne gehen können. Und dass das nicht geschehen ist, daran ist Den Haag, das Kriegsverbrechertribunal, auch schuld. Wie sehen Sie das?

    Reljic: Es werden sicher Juristen, Politikwissenschaftler, Historiker sich viel Mühe machen, die Geschichte des Haager Tribunals zu schreiben. So der erste Eindruck, den ich habe, war, dass dieses Tribunal immer zu viel wollte aber zu wenig vermochte. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass es auch von einem gewissen Gefühl der Überlegenheit des westlichen Menschen gegenüber diesen Südosteuropäern getragen wurde. Und da war man auf einmal konfrontiert mit sehr gerissenen Gegnern, mit sehr gerissenen Angeklagten, die mit allen Mitteln - auch juristischen Mitteln - durchaus den westlichen Juristen Paroli bieten konnten. Milosevic hat ja einen Verteidiger abgelehnt. Er hat sich selber verteidigt. Über weite Strecken war das dann eine politische Auseinandersetzung, keine juristische. Und darauf waren wahrscheinlich die Kläger in Haag und auch das Gericht nicht vorbereitet.

    Forudastan: Sie sagen, das war über weite Strecken eine politische Auseinandersetzung. Können Sie sich vorstellen, dass die jetzt nach dem Tod und den ganzen Gerüchten um die Umstände dieses Todes in irgendeiner Weise in Serbien weitergeführt wird? Oder wird das jetzt mit dem Tod von Milosevic auch zu Ende sein, selbst wenn es da welche gibt, die grummeln und Böses vermuten?

    Reljic: Ich habe bemerkt, dass die Regierungsspitze in Serbien zumindest gestern ziemlich opportunistisch vorangegangen ist. In den Äußerungen der führenden Politiker ist sehr wenig davon zu bemerken, dass sie auf die politische Rolle Milosevics eingehen. Sie beschränken sich darauf, ein Beileidsgefühl gegenüber seiner Familie auszusprechen oder auch seiner politischen Partei. Die einzige Ausnahme ist der Außenminister Draskovic, der zwei Mal Opfer von Attentaten gewesen ist, die Milosevic gegen ihn befohlen hatte. Er war der Einzige, soviel ich mitbekommen konnte, der gesagt hat: Milosevic war ein Mann, der andere Menschen umbringen ließ. Und daran sieht man, dass für wahltaktische Gründe, weil die Politiker selber auch das nächste Mal gewählt werden möchten und aus dem Reservoir der populistischen Stimmen ein wenig schöpfen wollen, dass sie deswegen derzeit nicht bereit sind, einen direkten Konfrontationskurs zu fahren.

    Forudastan: Hat denn der Tod von Milosevic - jetzt nicht auf der politischen, wohl aber auf der atmosphärischen Ebene - Auswirkungen auf die weiteren internationalen Verhandlungen, also zum Beispiel über die EU-Mitgliedschaft der Westbalkanländer oder Status des Kosovo?

    Reljic: Absolut. Der Westen ist ja auch in dieser Frage ein wenig moralisch-politisch gespalten. Heute ist der 12. März. Heute vor drei Jahren ist der damalige serbische Ministerpräsident Zoran Djindjic in Belgrad umgebracht worden und zwar von den Überläufern des Milosevic-Apparats. Wenn Sie so wollen, Milosevic hat ihn aus seiner Zelle in Haag in einer gewissen Art und Weise umbringen lassen von den ehemaligen Geheimdienstangehörigen. Und Serbien ist in vielen Aspekten nach wie vor geteilt, gespalten zwischen diesen Modernisierungstendenzen, die Djindjic so verkörpert hat, und dann diesem nationalistischen Populismus, den Milosevic so dargestellt hat bis gestern. Und der Westen tut sich schwer mit so einem Serbien klar zu werden, insbesondere weil viele Fragen noch offen sind. Und Sie haben Kosovo angesprochen: Kosovo ist so eine Frage, wo einerseits das Völkerrecht eindeutig auf der serbischen Seite steht, aber andererseits die politischen Tatsachen so sind, dass der Westen am liebsten eher heute als morgen die Albaner im Kosovo in die Unabhängigkeit entlassen möchte. Und deswegen wird der Westen wohl jetzt noch mehr Fingerspitzengefühl zeigen müssen bei den Kosovo-Verhandlungen, wenn man vermeiden will, dass eine neue Destabilisierung in Südosteuropa einsetzt.
    Slobodan Milosevic, ehemaliger Präsident von Jugoslawien vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag
    Slobodan Milosevic, ehemaliger Präsident von Jugoslawien (AP)