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Alle Nuancen der Leidenschaften

Eine Geschichte über Ost-West-Deutschland wird am Pariser Odeon-Theater erzählt. Der Amerikaner Robert Wilson hat Heiner Müllers "Quartett" in Szene gesetzt. Zwei Monate lang steht es täglich auf dem Spielplan.

Von Joachim Johannsen |
    Wenn das kein globalisiertes Theater ist! Ein Amerikaner in Paris zeigt das Stück eines deutschen Autors, der einen französischen Brief-Roman aus dem 18. Jahrhundert in ein Kurzdrama eindampfte. Robert Wilson, enger Freund von Heiner Müller, des 1995 gestorbenen Wanderers zwischen Ost und West, inszeniert dessen "Quartett" mit Isabelle Huppert, der sarkastischen Filmschauspielerin, die es in den letzten Jahren immer wieder auf die Bühne treibt. Das steht dem frisch historisch renovierten Pariser Odeon gut an, nennt es sich doch seit Ende der 80er Jahre stolz Theatre de l'Europe. Bis kurz vor Weihnachten läuft hier und über die ganze Metropole verteilt das Festival d'automne. Neben Wilson und William Forsythe ist zu nennen die schwarze Nobelpreisträgerin Toni Morrison, also amerikanische Artisten, die in der Heimat wenig gelten. So ist Paris für einige Herbstmonate quasi die amerikanische Kulturhauptstadt.

    Wie der Pariser Herbst traditionell Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst bietet, so vereint Robert Wilson die meisten dieser Disziplinen in seiner Person. Als verhinderter Maler schafft der Texaner seit 30 Jahren großartige Gemälde. In seinen Universen aus Licht, Farbe, Musik, Geräusch, Vorhängen, Zugstangen, Möbeln und immer wieder neu erfundenen Tricks sind die Schauspieler auch nur Teile der großen Maschinerie. Eiskalt setzen sie Körper, Stimme und Mimik ein. Das treibt auch in Paris so manchen Liebhaber des psychologischen Kammerspiels aus dem Theater. Die Unglücklichen wissen nicht, was sie versäumt haben.

    Denn schließlich bringen Wilson und Müller nur nach Paris, was dort entstand. Choderlos de Laclos, der anständige Offizier, der eine besonders tödliche Kanonenkugel erfand, konnte seinen Roman am Vorabend der Revolution nur unter Pseudonym veröffentlichen, weil er den tödlichen Mechanismus der adligen Liebesspiele bloßstellte. Die Vernichtung des Individuums im kollektiven Terror der Revolution mischte Heiner Müller als dramaturgisches Salz dazu. Wilson hängt heute eine filigrane Tüllgardine in Gestalt der Guillotine in das Geschehen.

    Der Graf Valmont ist ein blutroter Matador in Gestalt von Ariel Garcia Valdes, der bereits das neue Odeon als Hamlet eröffnete - ein Schauspieler, der das Tierische im Mann bis zur existentiellen Karikatur treiben kann. Atemlos hetzt er als Macho von Beute zu Beute, schließlich nennt Heiner Müller den erotischen Reigen des Rokoko einen Kampf der Raubtiere. Ort der Handlung ist für ihn ein Salon um 1780 und ein Bunker nach dem Dritten Weltkrieg. In diesem schwarz-weißen Saal tanzt ein junges Paar die naiven und heiteren Varianten des Geschlechtergeschehens. Mittendrin steht immer wieder ein alter Herr im Frack oder im Spitalnachthemd. Ein Schlaglicht auf den Tod, der alle erwartet, oder auf den sterbenden Autor, wir wissen es nicht.

    Dazwischen und alle überragend die Fünfte im Quartett - die Marquise de Merteuil der Isabelle Huppert. Ihr schlichtes zeitloses Salonkleid in Blau liefert die Ergänzung der Bühnenfarben zur trikoloren Flagge der Französischen Republik. Sie sitzt auf einem Kanapé der besonderen Art. Die Lehne formt in Fortsetzung der Armwölbung der Huppert eine glitzernde scharfe Messerklinge oder einen Raketensplitter, der elektronisch ferngelenkt über den Boden gleitet. Isabelle Huppert führt die Zeitreisenden virtuos durch die Müllerschen Wortkaskaden, alle Register ihrer langen Karriere ziehend und neue dazu erfindend. Ein Sprachkunstwerk ersten Ranges. Hier ist kein Platz für Blut, Schweiß und Sperma wie am gesamtdeutschen Stadttheater, und doch sind alle Nuancen der Leidenschaften gegenwärtig. Am Schluss hinkt die große Marquise mit windschiefer grauer Frisur, einen Stöckelschuh in der Hand, nach hinten in den Tod. Ein Bild von Caspar David Friedrich. Da hat sich Robert Wilson seinen Malerwunsch doch noch erfüllt. Das muss man gesehen haben.

    Die Menschen-Maschinen sind zerrissen, aber sie haben den Dritten Weltkrieg überlebt, was für den Optimismus des Autors spricht. Der Applaus in Frankreich ist normalerweise kurz und schmerzlos, aber hier waren Standing Ovations und rhythmisches Klatschen nicht zu vermeiden. "Quartett" mit Isabelle Huppert ist zwei Monate lang täglich angesetzt. Das zeugt vom Optimismus des Theaterdirektors. Bob Wilson sorgt dafür, dass Heiner Müller die Montecristo nicht ausgeht.