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Alle oder keiner

Die Kritik ist nicht neu: Auch im Literaturgeschäft können die meisten Leute genau bis zwei zählen. Was im profanen Leben als "wir - die", oder als "gut - schlecht" funktioniert, führt der Literaturbetrieb nur wenig subtiler vor: Alt gegen Jung und umgekehrt, Europa gegen USA: einerlei, es läuft immer wieder auf ein "Hosianna" oder "Kreuzige ihn" hinaus. Oder eben so: Der König ist tot, es lebe der König. Dieser kleine Tumult wird jede Saison lauthals wiederholt. Bevor man sich an die je-weilige Lektüre machen kann, sind die Autoren bildlich längst präsent; hier denkt einer dem blauen Dunst seiner Zigarette nach, da schüttelt ei-ne ihre Lockenmähne, und dort haben welche sich mit Blechtrommeln schmücken lassen. Die Anzeigen verkünden sagenhafte Startauflagen, Spitzentitel, Kultbücher, Powerromane - und alsbald fängt der Spuk wieder von vorne an. Es gehört zu den Absurditäten dieses Literaturbetriebs, daß ein Teil der Kritiker es für seine Aufgabe hält, vor intellektueller Auseinandersetzung zu warnen; statt dessen wirbt man für die Mc-Lit, für literarisches Fastfood, das von Stereotypen - etwa: Junge Menschen in Berlin - nur so trieft. Im übrigen wird es auch immer schwieriger, die jeweiligen Schreibweisen oder Schreibstile voneinander zu unterscheiden. Der Roman - und jedes Buch hat ein Roman zu sein - wird offenbar mit Vorliebe als ein Speicher benutzt, in dem Begebenheiten einfach abgelagert werden. Da sind die Dinge sicher, da sind sie nicht im Weg, da kann man sie alsbald vergessen. Es ist ein Paradox: Literatur, eine Form der Wahrnehmung und des Gedächtnisses, kann ebenso zu einer Form von Anästhesierung und Gedächtnislosigkeit verkommen.

Sabine Peters |
    Uwe Johnson thematisierte in seinem komplexen Romanprojekt "Jahrestage" immer wieder den Prozeß des Erinnerns: Vergangenes konnte und sollte nicht in ein handhabbares, erstarrtes "Wissen", in gesicherte Geschichten umgesetzt werden. Johnson schrieb von der "Katze Erinnerung". Man kann niemals ihr Herr sein; sie ist unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Die Bilder der Erinnerung wären demnach eben nicht als sicherer Bestand zu haben. Denn die Subjekte verfügen nicht über ihr Gedächtnis wie über einen Raum; Gedächtnis wäre eher zu denken als eine Art Bewegung, als ein fortlaufender Vorgang, in dem Wahrnehmungen und Momentaufnahmen mit den dauernden Spuren der Erinnerung in wechselseitigem Austausch stehen.

    Mit solchen Überlegungen nähert man sich bereits dem neuen Text von Ulrich Peltzer. Sein jetzt erschienenes Buch "Alle oder Keiner" hat mehrere Ebenen; aber es geht hier wohl vor allem um Fragen wie die folgenden: Welchen Entscheidungsspielraum hat ein Mensch? Sucht er sich seine Lebensweise frei aus, oder schliddert er mehr oder weniger da hinein? Kann man die eigene Lebensgeschichte in irgendeiner Form fassen, oder schreibt man sie fortwährend um? Wie funktionieren Wahrnehmung und Erinnerung? Was macht die "große", "allgemeine" Zeitgeschichte aus dem Einzelnen, wie erfährt man sie am eigenen Leib?

    Der Ich-Erzähler Bernhard ist Ende dreißig, er lebt im Berlin der neunziger Jahre und arbeitet als Diplompsychologe an einem Handbuch der forensischen Psychiatrie. Hinter ihm liegen Jahre, in denen er im Umfeld der autonomen Bewegung aktiv war; in den 70er Jahren hat er als Schüler in einer Basisgruppe den Zusammenhang von Unterdrückung und Irrewerden diskutiert, Anfang der 80er nahm er an Demonstrationen in Bologna und im Baskenland teil und machte als unorthodoxer, frecher Redner auf einer politischen Versammlung die Erfahrung, wie es ist, sich mit dem Publikum kurzzuschließen. Heute lebt er etabliert, "er kann zufrieden sein", wie man so sagt.

    Sprecher 2: "Mir schien, ich hatte etwas verloren, ohne daß mir deutlich gewesen wäre, auf welchem Gebiet und was da genau, als hätte es keinen Abdruck in mir hinterlassen, den man wenigstens wieder füllen könnte wie eine Hohlform, ein Duplikat des ursprünglichen Gegenstands, zumal ich auf der anderen Seite auch nichts vermißte, einen antreibend in eine bestimmte Richtung, dorthin will ich, aber nichts dergleichen, man beschäftigt sich mit diesem und jenem, kriegt Geld, spart Geld, ... günstigstenfalls also, dachte ich, bringt man ein paar Mark auf die hohe Kante, das ist nicht von vorneherein schlecht und besser, als gar nichts zu haben, es sediert, macht die Tage und Nächte ruhiger, ... die Dinge stoßen einen nicht mehr so schmerzhaft an, als hätte sich eine Schutzschicht um den Körper gelegt... man entfernt sich, und die Sprache der Erzählung blättert von der Wirklichkeit ab, wie sie in Anekdoten zerfällt."

    Sprecher 1: Ganz offensichtlich denkt hier jemand seinen Häutungen nach. Bernhard hat sich in mancher Hinsicht verändert und wird damit auch nicht fertig - aber der Autor läßt den Wandel nicht im ahistorischen Raum stattfinden. Schon der Titel seines neuem Buchs, "Alle oder keiner", - eine Anspielung auf einen italienischen Film über die "demokratische Psychiatrie", hierzuland besser bekannt als "Antipsychiatrie"- schon der Titel deutet so etwas wie einen politischen Hintergrund an. Nun gibt es natürlich viele Romane, die das Lebensgefühl derjenigen thematisieren, die seinerzeit in sozialen Bewegungen aktiv waren, um den politischen Wandel voranzutreiben. Ulrich Peltzer ist insofern eine Ausnahme, als er zweierlei Gefahren aus dem Weg geht: Er verklärt die jugendbewegten Jahre seines Helden nicht; bei seinem Buch handelt es sich nicht um einen romantisieren-den "Schelmenroman", so wie wie ihn etwa Peter Paul Zahl 1979 unter Umgehung einiger Realitätsebenen geschrieben hat. Aber Peltzer läßt seinen Bernhard auch nicht zynisch oder verbiestert zurückblicken. Der Erzähler versucht in aller Offenheit, zu verstehen, wie er sich verändert hat. Heute haben er und seinesgleichen feste Anstellungen; man ist Psychologe, Architekt, Rechtsanwalt oder Marketingmensch. Man trinkt teuren Wein, schluckt Vitamintabletten, man leistet sich speziell angefertigte Möbel oder schafft sich Bilder an. Bernhard befindet sich allerdings in einem Stadium des Innehaltens:

    Sprecher 2: "... hier ließe es sich ertragen, alles weitere, man kehrt abends von der Ar-beit zurück und hat keinen Grund mehr, sich nicht zu Hause zu fühlen. Indem er das Innere nach außen kehrt, stimmt endlich ein Ort mit der Vorstellung, die man sich von sich macht, überein, ... das hat man persönlich erreicht, setz´ dich nur hin und schau dich in Ruhe um. Etwas wird scheinbar sichtbar, die Zukunft möglicherweise, aber dann spürt man, schon in die Zukunft eingetreten zu sein, eine einzige Zukunft, in der man sich aufhält, Tage und Nächte, nachdem die Vergangenheit endlich vorbei ist..."

    Sprecher 1: Es geht hier nicht zuletzt um die Erfahrung von Zeit, und um die Erfahrung von der Begrenztheit der Zeit. Zunächst gab es "die Zukunft" in Hülle und Fülle, ein vages Irgendwo und Irgendwann - und dann sieht Bernhard, daß er längst mittendrin ist. Wahrscheinlich ist das ein Wechsel der Befindlichkeit, der sich unmerklich in jedem Leben vollzieht: Die sich anschleichende Erkenntnis, daß man auf einer Einbahnstraße unterwegs ist, und daß sie ein Ende hat. Möglicherweise nehmen diesen Wechsel des Lebensgefühls vor allem diejenigen wahr, die erklärtermaßen mit revolutionären Idealen anfingen und die sich plötzlich dabei zusehen, wie sie ihre Intelligenz für Computerspiele benutzen. Jemand wie Bernhard war nicht "zu Hause" im Bestehenden, er und seine Freunde wollten, plakativ gesagt, Zustände nicht reformieren, sondern abschaffen. Sie wollten an einer besseren Zukunft mitarbeiten, und plötzlich sind sie - ja, was eigentlich? Resigniert? Realistisch? Nun also endlich in der letzten Haut? In dieser Endgültigkeit wohl niemals. Sie agieren eher verhalten, alltäglich im Alltäglichen.

    Sprecher 2: "Theoretisch alles gelernt, praktisch alles vergessen. Man befolgt jetzt die Grundsätze, die hier gelten, hält sich an die Sprache, die die Vorschrift ist. Als ginge es um nichts mehr, nur noch darum, nicht das Gesicht zu verlieren, das man gar nicht hat, ausgeglichen zu sein mit festen, berechenbaren Eigenschaften, wobei berechenbar heißt, keine Ausschläge zu keiner Seite hin, hitzige Reaktionen, übertriebene Moralvorstellungen, wegen einer Fernsehsendung, einer Zeitungsnotiz... irgendetwas, das man zu ernst nähme, für bare Münze, schließlich weiß man mittlerweile, wie die Sachen funktionieren."

    Sprecher 1: "Der verhaltene Ton soll nicht täuschen: es gibt in diesem Buch eine Unruhe und einen Zweifel am heutigen Ist-Zustand, der dem Roman seine eigenartige, bewegliche Kraft verleiht. Im Bewußtsein des Ich-Erzählers werden die Bilder des Vergangenen mit Beobachtungen des Gegenwärtigen zu einer hochkompexen, oft bis ans Zerreissen gespannten Textur. Ulrich Peltzers Roman ist nicht auf Kontinuität angelegt, auf einen mehr oder weniger einleuchtenden Ablauf von Ereignissen, der beruhigende Gewißheiten herstellt. In diesem Buch geht es vielmehr um das Aushalten von Gleichzeitigkeiten, und im besten Fall sogar darum, die Erfahrung von Simultaneität produktiv zu machen. Mit Produktivität ist die Fähigkeit des Ich-Erzählers gemeint, wachen Auges durch den Tag und durch seine Stadt, Berlin, zu gehen, und sich selbst mit einem distanzierten, fremden Blick zu betrachten. Klammer auf: Berlin ist hier nicht die bedeutend glitzernde Hintergrundkulisse, sondern schlicht ein Schauplatz unter anderen, in kleinen, präzisen Aufnahmen gezeichnet. Klammer zu, zurück zu Bernhards Wahrnehmungen. Sie sind absichtsvoll beeinflusst von seinen Kenntnissen als Psychologe. Ganz nebenbei ist "Alle oder keiner" auch ein Buch, das Ausschnitte aus einem heutigen Arbeitsalltag darstellt, es vermittelt einen kritischen Eindruck von den Aufgaben eines Psychologen. Die Arbeit am Institut für forensische Psychiatrie schließt unter anderem Persönlichkeits- und Intelligenztests ein, und die Lakonie, mit der Peltzer eine entsprechende Situation schildert, bewirkt deren Komik."

    Sprecher 2:

    "Was ist ein Thermometer?

    Der Mann rutschte unruhig hin und her.

    "Haben Sie mich vielleicht nicht richtig verstanden?"

    Doch, doch, er nickte beflissen und atmete mit geblähten Backen aus. Sagen Sie es einfach in Ihren Worten...Na?

    Wenn man krank ist. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: Im Krankenhaus.

    Auch wenn ich ahnte, welchen Weg seine Gedanken eingeschlagen hatten, war die Antwort unbefriedigend.

    Wozu ist das denn gut?

    Unterm Arm oder im Po - ein flüchtiges, verschämtes Lächeln - von der Schwester.

    Was macht man damit, mit so ´nem Thermometer?

    Ungefähr diese Länge, sagte der Mann, und spreizte Daumen und Zeigefinger auseinander, unter den Arm, er stockte, hob die Schultern und ließ die Hand zurück auf seinen Schenkel fallen. Als ich schon zur nächsten Frage übergehen wollte, rief er: Man sieht, wie heiß der Körper ist, und das Wetter.

    Zum Temperaturmessen?

    Ja, genau.

    Ich setzte ein Pluszeichen in das Kästchen auf meinem Bogen ...

    Wie heißen die letzten beiden Bundespräsidenten?

    Den kennt doch jeder ... Der ist öfter im Fernsehen, sagte der Mann, so ein Großer.

    Wissen Sie zufällig auch den Namen?"

    Sprecher 1: Aber der Ich-Erzähler ist nicht nur der kaltherzige Wissenschaftler, der ein Objekt ausfragt. Bernhard ist fähig zur Emphase, er kann sich in seine jeweiligen Gegenüber hineinversetzen. Sein "fremder Blick" ist keiner von oben außen; insofern ist "Alle oder keiner" ganz unmodisch, es kommt nicht cool und locker daher. Vielmehr gibt die Skepsis und die Sensibilität, mit der hier ein Ich und diverse andere Figuren eingeführt werden, den Leuten so etwas wie Würde. Ein altmodischer Begriff, der von der Wirklichkeit nicht wegzieht, sondern sie erst öffnet. Peltzers Buch ist modern, ganz von hier, nicht zuletzt in der Detailtreue und Intensität, mit der Phänomene des Alltags geschildert werden. Es geht diesem Autor nicht darum, "Welt" abzubilden, indem er wie besessen Werbeslogans und Firmenlabels aneinanderreiht; es wird auch nicht ein Stück Lebensgeschichte in Form gegossen. Der Plot der Geschichte ist hier nicht das Entscheidende; er wird überflügelt von der Erzählweise, die zu-gleich reflexiv und sinnlich ist.

    Ulrich Peltzer wurde 1956 in Krefeld geboren, er lebt seit 1975 in Berlin. Im Ammann-Verlag erschienen bisher die Romane "Die Sünden der Faulheit" und "Stefan Martinez". Beide Bücher sind ausgesprochen klug und gekonnt gemacht, darin stehen sie dem neuen Text nicht nach. Trotzdem hat man den Eindruck, bei Ulrich Peltzer finden von Buch zu Buch Entwicklungen statt. Auch das ist keine Selbstverständlichkeit: Natürlich ist es eine Versuchung für Autoren, das fortzusetzen, was sie nachgewiesenermaßen können und was von der Kritik mehr oder weniger abgesegnet worden ist. "Die Sünden der Faulheit" lasen sich gut - und ließen kalt; vielleicht war das seinerzeit auch so gewollt. "Stefan Martinez" war ein gewaltig angelegtes, hoch ambitioniertes Romanexperiment, das in seiner Intellektualität großen Respekt verdient. Die Entwicklung hin zu "Alle oder keiner" liegt wohl darin, daß Ulrich Peltzer jetzt der Intellektualität auch ein Stück Emotionalität hinzufügt. Er läßt den Lesern seinen Ich-Erzähler in aller Vorsicht nahegehen, er läßt die Figur berührbar sein. Noch einmal sei hier an Uwe Johnson erinnert, der seine Gesine Cresspahl mit geradezu störrischer Diskretion behandelte und handeln ließ. Etwas davon ist auch in "Alle oder keiner" zu spüren - und man könnte, ob bei Johnson oder bei Peltzer, natürlich auch von borstigem Charme, oder sogar von Zartgefühl sprechen. In Peltzers Roman gibt es nebenbei eine kleine Liebesgeschichte; Bernhard nimmt an einer Tagung in Bukarest teil und lernt dort Astrid kennen. Die beiden machen einen Spaziergang durch die Stadt, in ihrer beiläufigen Rede hin und her treiben sie aufeinander zu, das läuft über viele Seiten still und schön dahin.

    Sprecher 2: "Ich wußte nicht, wohin wir liefen, ... sie wollte mit mir losgehen einen Tag lang durch Bukarest, sonst nichts, keine andere Überlegung, weder von ihr noch von mir aus,... bei all dem handelte es sich um eine Verkettung von Zufällen, denen keine Spur von Notwendigkeit innewohnte, nichts muß sein, wie es ist, mit der Betonung auf dem muß, man muß gar nichts außer sterben, sagte mein Vater oft, also Zufall, daß ich einen halben Meter hinter ihr war.... Wie man sich vergewissert, ob einer folgt, ... warf Astrid mir einen flüchtigen Seitenblick zu, der für mich aber nicht flüchtig war, vielmehr hörte er nicht auf, als sie schon längst wieder nach vorne sah, blieb zwischen uns, als hielte ihn die staubige Luft gefangen und verzögerte die Zeit bis zu seinem Vergehen... wie es mich plötzlich nach ihr schmerzte, ..., ineinanderzufallen, ohne ein weiteres Wort zu wechseln, .... so gingen wir schweigend eine ganze Weile nebeneinander her. ... Später sind wir dann mit einem Taxi ins Hotel zurückgefahren."

    Sprecher 1: Der nächste Absatz spielt am anderen Morgen. Astrid ist schon ver-schwunden, als Bernhard aufwacht, hat ihm aber ihre Telefonnummer hinterlassen. Ein, zugegeben, nicht ganz neuer Kunstgriff, mühelos einfach - aber man ist Ulrich Peltzer dankbar: er läßt das Begehren sachte auffliegen, verschont einen aber mit der Beschreibung dessen, was im Bett geschieht; solche Darstellungen sind ohnehin fast immer "daneben", einfach neben dem Bett. Der Ich-Erzähler ist im übrigen sowieso nicht der Typ, markig entschlossen und gradlienig sein Leben als Erfolgsprogramm abzuspulen. Er spricht sozusagen immer aus Nebenräumen, geht vom Nebensächlichen, Randständigen aus. Und doch führt ihn jede Beobachtung, jedes unscheinbare Detail zu existentiellen Fragen, an denen das ganze Gewicht der jüngeren Zeitgeschichte hängt. Da sind etwa die furchtbar dreckigen Fensterscheiben in einem Cafe in Bukarest, die zum Anlaß werden, ziemlich unorthodox über das Elend und die Hoffnungs-losigkeit der postsozialistischen Gesellschaft und über die eigenen Be-wertungsmuster nachzudenken.

    Sprecher 2: "Ich ertappte mich bei der Frage, warum eigentlich keiner etwas unter-nahm,... ich hätte als Kellner ... die Scheiben einmal von ihrem gröbsten Schmutz befreit, dachte ich, irgendwie aus Selbstachtung und weil es mir vor den Gästen peinlich gewesen wäre. Derart ist man ausgerüstet, durch ein soziales Trainingsprogramm, das später körperliche Reflexe hervor-ruft, Angst, Lust oder eine Irritation,... was interessiert es dich überhaupt, fragte ich mich, ob die Scheiben ... dreckig sind, ... das schien mir plötzlich sehr distanzlos zu sein, unangemessen dem hiesigen Zustand der Dinge, der mich persönlich nichts anging, sowenig wie ein damit ver-knüpftes Urteil moralischer Natur; denn man bewertet immer, oft in einer Art Kurzschluß von Attributen, die aus verschiedenen Systemen stam-men, ... man mischt die Kategorien zu leichtfertig durcheinander, wir wurden dann nach draußen zu einem Kleinbus gebracht, der uns in unser Hotel fuhr."

    Sprecher 1: Der immer wieder auftauchende wissenschaftliche Tonfall, den Ulrich Peltzer einfließen läßt, ist gleichzeitig Verhüllung und Enthüllung: Mit Hilfe dieser Sprache wird die Gestimmtheit des Helden versachlicht. Vielleicht würde der Erzähler sonst in seiner Offenheit geradezu weich wirken - und ein Begriff wie "weich" zählt wenig in Zeiten, in denen Bücher "knallen" und "Biß haben" haben sollen.

    Der Text selbst ist aber ja nun auch alles andere als schwabbelig. So komplex Ulrich Peltzers Gedankengänge und Bewußtseinsschübe sind, so komplex und eigenständig ist auch seine Schreibweise: Die Sätze fließen langgezogen, mäandrierend; es gibt in ihnen Wirbel und Stockungen oder unerwartete Zuflüsse. All das wirkt virtuos und entschlos-sen geschrieben. Man kann während des Lesens an die Schreibweisen von Nani Balestrini oder Peter Weiss denken - aber Peltzer ist kein Epigone, man hört hier schon einen unverwechselbaren Ton. Es ist, wie die zitierten Textpassagen vorführen, nicht ganz einfach, in diesen Ton hineinzufinden; "Alle oder keiner" liest sich nicht herunter. Aber darauf ist das Buch sicherlich auch nicht hingeschrieben worden. Eher ist es so: Man erfährt die Literarität dieses Textes, wenn man "mit den Ohren liest"; dann hört man den Tonfall und den Rhythmus der Rede, dann ist man ganz dabei. Anders gesagt: Der Inhalt wird in der Artikulation verkörpert. Man hört hier nicht einfach etwas über Wahrnehmung und Er-innern, sondern man vernimmt diese Vorgänge selbst. Das macht das Lesen zu einem kreativen Akt, und auch bei mehrfacher Lektüre lassen sich immer neue Entdeckungen machen.