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Alle reden mit

Basisdemokratie ist ihr Motto: Jeder darf mitreden, Anträge einbringen und Vorschläge machen, online oder in der Stammkneipe - bei der Piraten-Partei Deutschland ist jeder willkommen. Da können Debatten auch mal länger dauern, bis man zu einem Ergebnis kommt - wenn überhaupt.

Von Jonas Reese | 01.12.2011
    Gut 30 Menschen drängen sich an einer langen Tischreihe in einer Kölner Kneipe. Unter ihnen: Ein Patentanwalt, ein Cartoonzeichner und ein enttäuschter Grüner. Der wöchentliche Stammtisch der Kölner Piraten. Nur noch wenige Tage bis zum Bundesparteitag in Offenbach. Jeder ist willkommen. Alte Hasen, neue Mitglieder, Neugierige und die Presse. Alles ist transparent.

    "Wer mag denn mitschreiben, ich hab weder Laptop, wer mag denn Protokoll führen."

    30 Piraten und kein Laptop - ungewöhnlich. Das Protokoll des Abends wird auf der Rückseite der Speisekarte notiert. Die Piraten ganz analog. Basisdemokratische Meinungsfindung Stufe eins. Bei Frikadelle, Grünkohl und Kölsch.

    Tagesordnungspunkt eins. Die Idee, eine parteinahe Stiftung zu gründen. Nach Vorbild der etablierten Parteien.

    "Bei dem Wort Stiftung sind alle erstmal auf Habtachtstellung, ist alt, das hat was Geheimgesellschaft, oder was von Nebenpartei an sich."

    Eine Viertelstunde lang stellt Michael seine Idee vor. Ein Gedanke, der schon länger in der Partei herumgeistert, aber die Anwesenden schnell misstrauisch werden lässt. Passt eine parteinahe Stiftung zu den Piraten oder passt sie nicht?

    "weil damit würdest du alles, wofür sich die Piraten in den letzten Jahren eingesetzt hat, konterkarieren."

    Schnell geht es ums Grundsätzliche. Es geht um das zentrale Politikverständnis Element der Piratenpartei: Alle entscheiden alles. Alle können zu jedem Zeitpunkt, an jedem Entscheidungsprozess mitwirken.

    "Ich bin stinksauer."

    Der Diskussionsleiter schweigt. Er unterbricht keinen. Jeder am Tisch hat das Recht, gehört zu werden. Rund eineinhalb Stunden streiten die Kölner Piraten über die Stiftungsidee. Mal über Halbsätze, mal über Grundsätzliches. Bis einer in der Runde eine Zigarettenpause verlangt. Die Diskussion wird abgebrochen - ohne Ergebnis.

    Mike Nolte lehnt an einem Stehtisch. Er ist gerade vom Rauchen zurückgekommen. Er ist der 1. Pirat in Köln. Der Generalsekretär.

    "Mir wäre es zwar lieber, wenn das Ganze etwas kompakter wäre, aber ich bin noch lange nicht genervt, weil Basisdemokratie bedeutet, dass jeder die Möglichkeit haben muss, gehört zu werden. Man kann niemandem den Mund verbieten, das fände ich undemokratisch."

    Basisdemokratie kostet Nerven und Zeit. Jeder in der Runde darf seine Meinung kundtun. Ob Mitglied der Partei oder nicht. Nolte nennt es Sorgfaltspflicht. Und die kann dauern.

    "Es gibt ja den berühmten Spruch, es wurde alles gesagt - nur noch nicht von jedem. Das halte ich für unnötig, aber ich will doch niemanden beeinflussen, dass er damit aufhört."

    Es wird viel gesprochen, diskutiert und verhandelt bei der Netzpartei. Kommunikation geht über alles - offline oder online, in der Kneipe oder im Internet.
    Im Forum "Dicker Engel" zum Beispiel.

    "Der Dicke Engel ist online abhängen, da entsteht manchmal per Zufall ein vernünftiger Gedankengang."

    Nolte untertreibt etwas. Der "Dicke Engel" ist sozusagen die Online-Kneipe. Der Piraten-Stammtisch im Internet. Per kostenfreiem Programm kann sich jeder, egal ob Pirat oder nicht, einloggen, sich verabreden und Meinungen austauschen. Über eine Art Online-Telefonkonferenz.

    "Hallo so, herzlich willkommen, zu unserm Themenabend zum Thema Demokratie und Wahlrecht hier im Dicken Engel. Wir haben heute viele Antragsteller anwesend."

    Vor dem Bundesparteitag am Wochenende wird der Dicke Engel besonders rege frequentiert. Hier werden Anträge und Positionspapiere erst vorgestellt und dann von den Online-Besuchern kritisch hinterfragt. Auch der Bundesvorsitzende Sebastian Nerz ist öfter im "Dicken Engel". Freie Internet-Programme wie eben dieser virtuelle Speakers Corner oder das Abstimmungstool Liquid Feedback sind quasi das Rückgrat der Partei, wie Nerz sagt.

    "Also, wenn ich einen Antrag stellen möchte zu einem Thema, zum Beispiel Wirtschaftspolitik, dann kann ich den Antrag bei "Liquid Feedback" einstellen und darüber Rückkopplung kriegen, kann den Antrag so verbessern, dass er sogar vielleicht mehrheitsfähig in der Partei wird. Was ohne diese Tools nur in einem sehr kleinen Personenkreis möglich wäre."

    Und mehr noch: Die Internetgemeinde entscheidet, welche Anträge auf dem Bundesparteitag behandelt werden. Über 400 sind eingegangen. Durch mehrere Onlineumfragen haben die Mitglieder dann die drängendsten Themen für das Treffen in Offenbach bestimmt. .Ganz vorne gelandet sind die Themen Drogenpolitik, Trennung von Staat und Religion sowie das bedingungslose Grundeinkommen.

    Die intensive Nutzung des World Wide Web – für die Piraten gelebte Demokratie parteiintern. Ein Meinungsbildungsprozess, der für den Bundesvorsitzenden allerdings Grenzen hat.

    "Wenn man ein solches Tool für Entscheidungen nutzt, habe ich persönlich Probleme damit, weil ich glaube, dass die Möglichkeit bestehen muss dort anonym einzubringen, was bei Online-Abstimmungen aus technischen Gründen nicht möglich ist. Deshalb habe ich das für Entscheidungen sehr kritisch gesehen. Aber der Einsatz als Meinungsbildungstool, den halte ich für sehr konstruktiv."

    Die reale Diskussion, wie am Kölner Stammtisch und die reale Abstimmung ersetzen die Onlinetools der Piraten nicht. Der Parteitag, auf dem die Piraten ihr Programm weiterentwickeln wollen, wird im Netz vorbereitet. Aber endgültig entschieden wird nicht virtuell – sondern real. Aber eben von allen und nicht von Einzelnen, wie der Kölner Mike Nolte betont.

    "Bei den anderen Parteien ist es so, dass die Anträge von oben nach unten durchgeprügelt werden. Und im Grunde haben die Delegierten, die wir schon mal nicht haben, das zweifelhafte Vergnügen, die Vorschläge ihrer Bosse abzunicken. Eine echte Diskussion findet da in den seltensten Fällen statt. Und bei uns ist es halt andersrum, bei uns wird noch alles von der Basis ausgearbeitet und dementsprechend diskutiert."

    Da verwundert es wenig: Fünf Jahre nach ihrer Gründung ist das Grundsatzprogramm der Piraten immer noch 26 Seiten dünn. Ein Drittel im Vergleich mit den großen Volksparteien.