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"Alle wichtigen Dinge im Leben haben immer etwas mit Fühlen zu tun"

Der deutsche Maler und Zeichner gehörte zu den Gründern der sogenannten Leipziger Malerschule. Sein Erbe ist das Bauernkriegspanorama bei Bad Frankenhausen, das erst kurz vor der Wende fertiggestellt wurde.

Von Rainer Berthold Schossig | 30.07.2009

    Wer je das große Bauernkriegspanorama auf der Höhe überm thüringischen Bad Frankenhausen besucht hat, wird einen Eindruck mitgenommen haben von der geradezu pandämonischen Bild-Erfindungskraft seines Schöpfers Werner Tübke. Landsknechtshaufen überschwemmen friedlich blühende Landschaften mit blitzenden Schwertern, Spießen und Hellebarden. Ritter in unheilvoll schimmernden Panzern schlagen drein auf rebellierende Bauern und wehrlose Jungfrauen in knitterfaltigen Gewändern. Dörfer und Städte leuchten im Widerschein des Roten Hahns. Prediger und Heerführer, Könige, Propheten und Harlekine wimmeln durcheinander; am flackernden Horizont scheint das jüngste Gericht heraufzudämmern...

    "Das Schwierigste mit war eigentlich die perspektivische Frage. Wie groß müssen die Figuren sein, damit sie von zehn Meter Entfernung lebensgroß wirken? Kein Mensch weiß, ich hab's auch nicht gewußt, es musste experimentiert werden. Sie sind etwa vier Meter groß, damit sie auf diese Entfernung unten als normal groß wirken - zum Teil eine umgekehrte Zentralperspektive."

    Sachlich, doch nicht ohne Stolz, erläuterte Tübke 1989 vor dem fertigen Panorama die formalen Probleme des vielfigurigen Bilder-Reigens. Man hat dem SED-Mitglied Tübke immer wieder vorgeworfen, er habe mit Auftragswerken wie diesem das DDR-Regime gestützt; doch eigentlich war Tübke nur einige Jahrhunderte zu spät geboren.

    "Wenn mir etwas zu dumm gekommen wäre, was ich nicht verantworten könnte, besonders was die Kunst betrifft, dann schlägt Tübke die Tür aber sehr schnell zu. Es gibt auch keine Arbeiten aus diesen Jahren, wo sagen könnte: Ach, hier, das ist in den 50er-Jahren - wer war denn da damals Kultusminister oder irgend so etwas. Es hätte auch niemand mit Erfolg nachweisen können, dass meinetwegen Arbeiten der 50er- oder 60er-Jahre ganz anders waren."

    Tübkes Aufstieg im SED-Staat war weder steil noch direkt. Am 30. Juli 1929 im Magdeburgischen Schönebeck an der Elbe in einer Kaufmannsfamilie zur Welt gekommen, war er nach dem Studium in Magdeburg und Leipzig, u. a. bei dem Zeichner Ernst Hassebrauk, freischaffend tätig. Auf der Höhe seiner Karriere war er kurze Zeit Rektor der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst; 1976 erhielt er den Nationalpreis, verweigerte sich allerdings eigensinnig dem vorherrschenden Sozialistischen Realismus. Nicht staatliche Macht oder Partei-Ruhm interessierten ihn, sondern der unendliche Bilder-Reichtum der Kunstgeschichte.

    "Ich muss es in Kauf nehmen, dass ich mich der Gefahr aussetze, dass man sagt, aha, das ist ja der junge Dürer, oder das ist Tintoretto oder was weiß ich alles. Es stört mich nicht mehr. Und ich glaube in der Lage zu sein, mit diesem Vokabular die Thematik unserer Zeit anzutuschen."

    Tübkes historisierender Mal- und Zeichenstil beschwor auf einzigartige, modern gefilterte Weise spätgotisches Vokabular und manieristische Allegorik. Die Kunst des traumwandlerischen Widergängers der Stile kollidierte mit den ästhetischen Dogmen des Sozialismus; seine akribischen Kompositionen infizierten die Öde der DDR-Agitpropkunst wie real existierende Alpträume. Denn Tübke kopierte nicht, er zitierte aus seinem Blickwinkel - diesseits der Aufklärung.

    "Alle wichtigen Dinge im Leben, wo es ganz ernst wird, haben immer etwas mit Religion und mit Tod und Ende und vertikalem Denken und horizontalem Denken und Fühlen immer was zu tun. Das heißt, wenn auch auf die indirekteste Weise, kann man ohne da ganz oben ja nicht weiter, sonst geht es ja hier unten irgendwie in die Hose alles."

    Künstlerisch inspiriert durch die Malerei Italiens und Spaniens, nahm Tübke in einem surrealistischen Willensakt abgebrochene Traditionen abendländischer Kunst wieder auf. Seine Wahlverwandten reichten von Hieronymus Bosch bis zu Agnolo Bronzino, von Altdorfer und Dürer bis zu El Greco und Piranesi. Sein Werk ist ein Glücksfall; es gehört zum wenigen Bleibenden des verblichenen Arbeiter- und Bauernstaates. Zugleich ist es ein Beitrag zur gesamtdeutschen Kunst, so formal streng, wie gedanklich reich und historisch paradox. Im Jahr 2004 ist Werner Tübke in Leipzig gestorben. Er hat - wenn auch als Exot zwischen den deutsch-deutschen Stühlen - der Epoche ein Stück weit seine grüblerische Signatur aufgeprägt.