Kremer schaut bei diesem Projekt unleugbar zurück. Er ist inzwischen Ende der 50 und er hat in seinem Künstlerleben wahrhaftig viel bewegt. Als er in den 70er Jahren aus der damaligen Sowjetunion in den Westen übersiedelte, faszinierte er unter anderem mit radikal expressiven Deutungen der Bach'schen Solosonaten und -partiten, mit Interpretationen, denen es nicht um den schönen Klang zu tun war, sondern um eine rücksichtslos wahrhaftige Darstellung eines kompromisslosen Textes. Die d-moll-Partita mit der großen Chaconne wird sicher jedem unvergesslich bleiben, der Kremer damals hören konnte.
Nun hat er sich also erneut aufgemacht, die Wahrheit der Bach'schen Texte zu ergründen. Es ist - und darauf weist er in einem außerordentlich lesenswerten Geleitwort ausdrücklich hin - inzwischen eine andere Wahrheit. Das Geleitwort ist denn auch überschrieben: "Versuch einer Annäherung". Ein Satz hat Bekenntnischarakter: "Von mir selber kann ich zu dieser Einspielung nur sagen: Sie ist wie der 'Nachlass' eines Spielmannes, der sich seiner Grenzen in der Zeit und im Können bewusst war, der es sich doch erlaubte - in der Hoffnung, dass es im Dienste der Musik passiert -, ein letztes Geständnis (eine 'Lesung' dieser Töne) abzugeben."
Die Sonaten nahm Kremer in seiner Geburtsstadt Riga auf, und zwar im Studio. Auch dem mag man Symbolwert zuerkennen. Für die Partiten ging er in die Pfarrkirche St. Nikolaus in Lockenhaus, dorthin also, wo er seit vielen Jahren zusammen mit Freunden ein grandioses Kammermusikfestival bestreitet. Auch dahinter steht ein Konzept, und der Unterschied in der Klangatmosphäre lässt wieder je andere Aspekte der Werke zutage treten. Der Kirchenraum lässt die Musik freier atmen. Das Rigaer Studio fokussiert die Konzentration des Hörers sehr auf die strukturellen Seiten der Interpretation.
Wieder ist es auch ein radikales Konzept. Kremer geht es mehr denn je um die Musik hinter den Noten. Und das Adagio zur Sonate Nr.1 in g-moll, gerät in der Tat zum großen Entrée.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 1. Adagio aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 für Violine solo
Gidon Kremer mit dem Adagio aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 von Johann Sebastian Bach. Schon hier zeigt sich, dass Kremer unter anderem das Konzept verfolgt, den Ton der Violine um Ausdrucksformen zu bereichern, die aufs Cembalo, auf das Pianoforte, wohl gar auf die Laute hindeuten. Das kontrollierte Verklingen des Tones imaginiert eine andere Welt als die der Streichinstrumente, und tatsächlich hat Bach ja die Mehrstimmigkeit von Laute und Cembalo auf die Violine übertragen. Die anschließende Fuge macht freilich auch deutlich, dass da ein bedeutender Geiger den Zenit der virtuosen Fähigkeiten schon vor einiger Zeit überschritten hat. Nicht alles an dieser 1. Sonate klingt wirklich gut. Einerseits darf man also keine allzu empfindlichen Ohren haben, anderseits zwingt einen die Stringenz der Artikulation sehr wohl zum Zuhören. Es geht Kremer offenkundig darum, darzulegen, wie sehr Bach in diesen Werken rhetorische Energien in Form zu bannen suchte und wie leicht diese Energien die Formen auch zu sprengen vermögen. Dabei wird einem eine bemerkenswerte Erfahrung zuteil, und zwar unabhängig davon, ob Gidon Kremer den Notentext einigermaßen lupenrein realisiert oder nicht: dieser Musiker erbaut mit seinem Spiel, mit dem Klang seiner Guarneri del Gesù, spirituelle Räume, die sehr wohl physisch erfahrbar scheinen, die vor allem aber den Platz schaffen für einen mehrdimensionalen Disput der musikalischen Charaktere untereinander.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 2. Fuga. Allegro aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 für Violine solo
Noch einmal Gidon Kremer, dieses Mal mit der Fuge aus der 1. Sonate für Violine solo g-moll von Johann Sebastian Bach. Auch das Presto-Finale dieser Sonate scheint an manchen Stellen gewöhnungsbedürftig, ist aber nichtsdestoweniger in seinem Aplomb überaus glaubwürdig. Hört man dagegen die Gigue aus der d-moll-Partita, nimmt einen die spielerische Leichtigkeit gefangen, mit der Kremer diesen Satz Gestalt werden lässt. Und die Chaconne überwältigt mit der schieren Überfülle von Gefühl - vom wilden Aufbegehren bis hin zur resignativen Melancholie wird da etwas ausgebreitet, was wohl schon irgendwie das Leben selbst ist.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 5. Ciaccona (Ausschnitt) aus der Partita Nr. 2 d-moll, BWV 1004 für Violine solo
So sehr die Chaconne aus der d-moll-Partita vom Leben erzählt, so sehr gewinnt die anschließende Sonate Nr. 3 in C-dur religiöse Dimension. Kremer vereint da die Emphase einer Passion mit einer radikal begriffenen musikalischen Rede, die das Geräuschhafte des Konsonanten zu Klang von neuer, überraschender Schönheit werden lässt.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 1. Adagio (Ausschnitt) aus der Sonate Nr. 3 C-dur, BWV 1005
Diese neue Einspielung sämtlicher Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach durch Gidon Kremer bezwingt trotz aller gelegentlichen Vorbehalte nicht zuletzt durch die umfassende Gesamtdisposition. Und sie überzeugt dadurch, dass der, der da die Musik Bachs darlegt und gleichzeitig sein eigenes Leben, doch letztlich hinter der Musik zurücktritt. Kremers Spiel bleibt frei von jeglicher Prätention und zeigt sich einem Ernst verpflichtet, der von der eigenen Person abzusehen nötigt. Der Zyklus, der in der 2. Partita und in der 3. Sonate zweifellos seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, klingt freilich versöhnlich aus, und wer die erwähnte d-moll-Partita oder die wuchtige Predigt der C-dur-Fuge hinter sich gebracht hat, bei der einem schier alle Sünden einfallen können, der wird von dem charmanten Konversationston überrascht, mit dem ein großer Geiger, Musikdenker und - wie sagt er doch selbst? - ein "Spielmann" die Gigue in E-dur zu einem geradezu eleganten und fast verbindlichen Finale des Ganzen werden lässt.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 7. Gigue aus der Partita Nr. 3 E-dur, BWV 1006 für Violine solo
"Johann Sebastian Bach - The Sonatas and Partitas for Violin Solo"
Gidon Kremer, Violine
Label: ECM
Labelcode: LC 02516
Bestell-Nr.: 1926/27 4767291
Nun hat er sich also erneut aufgemacht, die Wahrheit der Bach'schen Texte zu ergründen. Es ist - und darauf weist er in einem außerordentlich lesenswerten Geleitwort ausdrücklich hin - inzwischen eine andere Wahrheit. Das Geleitwort ist denn auch überschrieben: "Versuch einer Annäherung". Ein Satz hat Bekenntnischarakter: "Von mir selber kann ich zu dieser Einspielung nur sagen: Sie ist wie der 'Nachlass' eines Spielmannes, der sich seiner Grenzen in der Zeit und im Können bewusst war, der es sich doch erlaubte - in der Hoffnung, dass es im Dienste der Musik passiert -, ein letztes Geständnis (eine 'Lesung' dieser Töne) abzugeben."
Die Sonaten nahm Kremer in seiner Geburtsstadt Riga auf, und zwar im Studio. Auch dem mag man Symbolwert zuerkennen. Für die Partiten ging er in die Pfarrkirche St. Nikolaus in Lockenhaus, dorthin also, wo er seit vielen Jahren zusammen mit Freunden ein grandioses Kammermusikfestival bestreitet. Auch dahinter steht ein Konzept, und der Unterschied in der Klangatmosphäre lässt wieder je andere Aspekte der Werke zutage treten. Der Kirchenraum lässt die Musik freier atmen. Das Rigaer Studio fokussiert die Konzentration des Hörers sehr auf die strukturellen Seiten der Interpretation.
Wieder ist es auch ein radikales Konzept. Kremer geht es mehr denn je um die Musik hinter den Noten. Und das Adagio zur Sonate Nr.1 in g-moll, gerät in der Tat zum großen Entrée.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 1. Adagio aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 für Violine solo
Gidon Kremer mit dem Adagio aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 von Johann Sebastian Bach. Schon hier zeigt sich, dass Kremer unter anderem das Konzept verfolgt, den Ton der Violine um Ausdrucksformen zu bereichern, die aufs Cembalo, auf das Pianoforte, wohl gar auf die Laute hindeuten. Das kontrollierte Verklingen des Tones imaginiert eine andere Welt als die der Streichinstrumente, und tatsächlich hat Bach ja die Mehrstimmigkeit von Laute und Cembalo auf die Violine übertragen. Die anschließende Fuge macht freilich auch deutlich, dass da ein bedeutender Geiger den Zenit der virtuosen Fähigkeiten schon vor einiger Zeit überschritten hat. Nicht alles an dieser 1. Sonate klingt wirklich gut. Einerseits darf man also keine allzu empfindlichen Ohren haben, anderseits zwingt einen die Stringenz der Artikulation sehr wohl zum Zuhören. Es geht Kremer offenkundig darum, darzulegen, wie sehr Bach in diesen Werken rhetorische Energien in Form zu bannen suchte und wie leicht diese Energien die Formen auch zu sprengen vermögen. Dabei wird einem eine bemerkenswerte Erfahrung zuteil, und zwar unabhängig davon, ob Gidon Kremer den Notentext einigermaßen lupenrein realisiert oder nicht: dieser Musiker erbaut mit seinem Spiel, mit dem Klang seiner Guarneri del Gesù, spirituelle Räume, die sehr wohl physisch erfahrbar scheinen, die vor allem aber den Platz schaffen für einen mehrdimensionalen Disput der musikalischen Charaktere untereinander.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 2. Fuga. Allegro aus der Sonate Nr. 1 g-moll, BWV 1001 für Violine solo
Noch einmal Gidon Kremer, dieses Mal mit der Fuge aus der 1. Sonate für Violine solo g-moll von Johann Sebastian Bach. Auch das Presto-Finale dieser Sonate scheint an manchen Stellen gewöhnungsbedürftig, ist aber nichtsdestoweniger in seinem Aplomb überaus glaubwürdig. Hört man dagegen die Gigue aus der d-moll-Partita, nimmt einen die spielerische Leichtigkeit gefangen, mit der Kremer diesen Satz Gestalt werden lässt. Und die Chaconne überwältigt mit der schieren Überfülle von Gefühl - vom wilden Aufbegehren bis hin zur resignativen Melancholie wird da etwas ausgebreitet, was wohl schon irgendwie das Leben selbst ist.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 5. Ciaccona (Ausschnitt) aus der Partita Nr. 2 d-moll, BWV 1004 für Violine solo
So sehr die Chaconne aus der d-moll-Partita vom Leben erzählt, so sehr gewinnt die anschließende Sonate Nr. 3 in C-dur religiöse Dimension. Kremer vereint da die Emphase einer Passion mit einer radikal begriffenen musikalischen Rede, die das Geräuschhafte des Konsonanten zu Klang von neuer, überraschender Schönheit werden lässt.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 1. Adagio (Ausschnitt) aus der Sonate Nr. 3 C-dur, BWV 1005
Diese neue Einspielung sämtlicher Sonaten und Partiten für Violine solo von Johann Sebastian Bach durch Gidon Kremer bezwingt trotz aller gelegentlichen Vorbehalte nicht zuletzt durch die umfassende Gesamtdisposition. Und sie überzeugt dadurch, dass der, der da die Musik Bachs darlegt und gleichzeitig sein eigenes Leben, doch letztlich hinter der Musik zurücktritt. Kremers Spiel bleibt frei von jeglicher Prätention und zeigt sich einem Ernst verpflichtet, der von der eigenen Person abzusehen nötigt. Der Zyklus, der in der 2. Partita und in der 3. Sonate zweifellos seinen dramatischen Höhepunkt erreicht, klingt freilich versöhnlich aus, und wer die erwähnte d-moll-Partita oder die wuchtige Predigt der C-dur-Fuge hinter sich gebracht hat, bei der einem schier alle Sünden einfallen können, der wird von dem charmanten Konversationston überrascht, mit dem ein großer Geiger, Musikdenker und - wie sagt er doch selbst? - ein "Spielmann" die Gigue in E-dur zu einem geradezu eleganten und fast verbindlichen Finale des Ganzen werden lässt.
* Musikbeispiel: Johann Sebastian Bach - 7. Gigue aus der Partita Nr. 3 E-dur, BWV 1006 für Violine solo
"Johann Sebastian Bach - The Sonatas and Partitas for Violin Solo"
Gidon Kremer, Violine
Label: ECM
Labelcode: LC 02516
Bestell-Nr.: 1926/27 4767291