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Allein unter Fangesängen

Distanz und Sachlichkeit waren die Tugenden, die den verstorbenen Torwart Robert Enke auszeichneten. Vielleicht hat gerade deshalb fast niemand etwas von seiner schweren Depression gewusst. Aber hätte sich Enke eine Auszeit vom Profisport nehmen können?

Von Christian Gampert |
    Dem Monteur Josef Bloch, "der früher ein bekannter Tormann gewesen war", zerfällt die Welt – in lauter überscharfe Wahrnehmungen und in den Terror der Sprache. Peter Handkes Erzählung zeigt uns, wie sich jemand fühlt, der nicht dazugehört. Die Nicht-Zugehörigkeit ist etwas, was im Fußball nicht gern gesehen wird; Distanz und Sachlichkeit waren allerdings genau die Tugenden, die den Torwart Robert Enke auszeichneten, der heute zu Grabe getragen wurde.

    Dass man nichts gemerkt habe vom wahren Zustand des Spielers: das ist der Hauptvorwurf, den sich die meisten Beteiligten heute machen. Der ständig angespannte, angstvolle Gesichtsausdruck des Nationalkeepers, die selbstbestrafend immer kürzer, fast KZ-artig geschorenen Haare – man sah das offenbar als normale Begleiterscheinung eines auch psychisch belastenden Profibetriebs und nahm Enke ansonsten als guten Kumpel wahr. Entsprechend ist der Schock; Schock verlangt nach Bewältigung, und man findet sie im Ritual.

    Hier haben Politiker und vor allem die Kirchen Gelegenheit zur Selbstdarstellung – noch am letzten Mittwoch behauptete die Bischöfin Margot Käßmann, Robert Enke sei "Vorbild und Hoffnungsträger" gewesen. Vorbild? Hoffnungsträger? Entschuldigung: der Mann hat sich umgebracht. Auch wurde die Depression in diversen Veröffentlichungen als "heimtückische Krankheit" gebrandmarkt, wie ein seltsamer Virus, der uns von außen überfällt. Auch hier Einspruch: es mag Prädispositionen geben, aber Depression hat mit uns selber zu tun und mit unserer Lebensgeschichte.

    Die heutige Trauerfeier dagegen war, entgegen allen Befürchtungen, gezeichnet von einem ehrlichen Bemühen, etwas zu verstehen. Zwar gab es den offenbar unverzichtbaren musikalischen Kitsch, der solche Veranstaltungen immer umrankt, zwar gab es dieses diffuse, selbstbetroffene Gefühl des "Jetzt muss alles anders werden", das man auch bei Kirchentagen findet. Allerdings wollen wir dem frei sprechenden DFB-Präsidenten Theo Zwanziger gern glauben, dass er Schwäche und Fehlbarkeit auch im Profisport für normal hält und dem von Medien und Vereinsbossen gescholtenen sogenannten Versager – oder auch nur dem Ängstlichen - mehr Toleranz wünscht. Die Frage ist nur, ob er das durchsetzen kann.

    Über den Trauertransparenten für Robert Enke hingen, einen Stock höher, die Werbebanderolen für einen "Finanzoptimierer", und in der Bundesliga hat nicht Zwanziger das Sagen, sondern Figuren wie der Fleischfabrikant Ulrich Hoeness, der den beständigen Konkurrenzkampf im Team propagiert und durch immer mehr Druck immer mehr Leistung erreichen will. Der Maulkorb für angeblich mündige Spieler und drakonische Strafen bei abweichender Meinung sind für Hoeness normales Geschäftsgebaren. Und das Bewusstsein, dass im Leistungssport Menschenhandel betrieben wird, ist auch den Medien weitgehend abhanden gekommen.

    Robert Enke hatte völlig recht, sich nicht zu offenbaren: für den Depressiven ist kein Platz in diesem Geschäft – sein Kollege Sebastian Deisler hat das erfahren müssen. Enke hätte allerdings aus dem Feld gehen, die Karriere beenden, im Abseits vielleicht gesunden können – aber was reden wir: es war ihm offenbar nicht möglich. Wer ständig unter Beobachtung der Medien steht, reagiert anders als wir Normalverbraucher, er kann nur Fehler machen. Kein Politiker, kein Künstler, kein Sportler, der hier dauerhaft gute Figur macht.

    Die Medien können die Menschen nicht in Ruhe lassen – und erzeugen so Frust und Aggression und manchmal Ausweglosigkeit. Dass der Torwart, der sich nicht mehr in die Ecke, sondern vor den Zug wirft, auch einen großen Selbsthass offenbart und andere in Mitleidenschaft zieht, ist aus Gründen der Pietät bislang nicht thematisiert worden. Hier fand ein Versteckspiel sein aggressives Ende, hier wollte jemand nicht mehr. "You never walk alone" sang man in Hannover. Das ist ein Irrtum: Robert Enke war elend allein, inmitten all der Fangesänge.