Sonntag, 05. Mai 2024

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Allen Ginsberg. Eine kritische Biografie

Für den Biografen Michael Schumacher war Allen Ginsberg kein beliebiges Studienobjekt: "Als mein Buch fertig war", erinnert er sich an den Abschluß seiner Ginsberg-Biographie, "waren wir sehr gute Freunde. Ich vermisse Allen sehr. Vor zwei Jahren ist er von uns gegangen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke."

Christoph Schmitz | 01.01.1980
    Man wird natürlich skeptisch, wenn man erfährt, wie eng die Verbindung zwischen dem Biografen und dem Gegendstand seiner Untersuchungen gewesen ist. Wie hat er da die kritische Distanz wahren können? Doch Michael Schumacher ist der Balanceakt -Anteilnahme einerseits, Nüchternheit andererseits - in seinem Lebens- und Werkporträt über Allen Ginsberg geglückt. Die persönliche Nähe zu Ginsberg scheint den Biografen zur sorgfältigen Recherche, zur detailgetreuen und ausgewogenen Darstellung geradezu beflügelt zu haben. Liebevoll und minutiös zeichnet Schumacher die Tage eines bewegten und bewegenden Lebens nach, das wie nur wenige andere das Denken und Fühlen einer Generation ausgedrückt und geprägt hat.

    Zusammen mit Jack Kerouac und William Buroughs war Allen Ginsberg in den 50er und 60er Jahren Protagonist und Sprachrohr der Beat-Generation. Über fast vier Jahrzehnte galt er als der intellektuelle und dichtende Kopf der us-amerikanischen Gegen- und Protestkultur. Ginsberg erhob seine Stimme gegen den Vietnamkrieg, gegen Atomwaffen und Atomkraft, gegen die Umweltzerstörung, die Ausbeutunng der Dritten Welt und die Diskriminierung Homosexueller.

    Seine Nähe zu Allen Ginsberg machte Michael Schumacher Quellen zugänglich, von denen jeder Biograf nur träumen kann: "Er hat mir alle seine Archive geöffnet. Ich hatte ungehinderten Zugang zu seinen Tagebüchern und Aufzeichnungen, zu seinen Manuskripten und zu den Tonbandaufnahmen, die er von Interviews und Gesprä-chen gemacht hat; er war ganz groß darin, alles Mögliche aufzu-zeichnen, wie beispielsweise Tischgespräche in Restaurants. Er hat mir auch Interviews mit seiner Familie und seinen Freunden vermittelt, Verbindungen, die sonst nur schwerlich zustande gekommen wären."

    Acht Jahre lang hat Michael Schumacher an der Biografie gearbeitet, die auf sämtlichen veröffentlichten und unveröffentlichten Texten Ginsbergs und zahlreichen Interviews mit dem Autor basiert. Bisher unbekannte Fotos hat er zusammengestellt und kommentiert. Neben Darstellungen der Poetik Allen Ginsbergs und der Entstehung zentraler Werke wie "Das Geheul", "Kaddish" oder "Wichita Vortex Sutra", finden sich Porträts seiner Freunde und zeitgeschichtliche Exkurse. So ist diese Biografie auch eine Kulturgeschichte der amerikanischen Literaturszene und der Protestbewegung in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts. Auch hier berühren sich die Lebensgeschichten Ginsbergs und seines Biografen:

    "Ich bin", erzählt Schumacher, "ein alter Hippie, wie man das in Amerika so sagt. Die 60er Jahre waren meine Teenagerjahre. Ich hatte damals "Das Geheul" und "Kaddish" gelesen, und als mich im Verlauf der 60er Jahre die Tagespolitik mehr und mehr zu interessieren begann, fiel immer wieder der Name von Allen Ginsberg, vor allem im Zusammenhang mit der Antikriegsbewegung während des Vietnam-Kriegs. Was ich aber an ihm persönlich schätzte und was ich nie vergessen werde, war Allens Neugierde. Seine Neugierde hat ihn, glaube ich, so intelligent gemacht. Wenn wir in einer Stadt, beispielsweise in Chicago, unterwegs waren, hat er sich nach allem, was die Stadt betrifft, erkundigt, wer die politischen Führer sind, was allgemein so vor sich geht? - er war endlos neugierig, er wurde nie müde, noch mehr zu lernen. Ich habe ihn einmal gefragt, Allen, mußt du dir nicht auch mal einen Kinofilm ansehen oder irgendein Ballspiel? Mußt du dich nie entspannen? Und er sagte: Wir sind nicht allzu lange hier auf der Erde! Er wollte seine Zeit zum Lernen nutzen.

    Allen Ginsberg war immer unterwegs, in den USA, in Europa, Indien, Mexiko und Südamerika. Immer war er auch auf der Suche; zum Buddismus zog es ihn hin, zu immer neuen Grenzerfahrungen durch Sex und Drogen. Es war seine Grundüberzeugung, daß alle gesellschaftlichen Flurschäden ihre Ursache in der Reglementierung individueller Emotionen haben. Darum wollte er seine eigenen auslo-ten und ausleben. Zugleich zeigt Schumacher, daß Ginsbergs Rast-losigkeit auch als Flucht vor seiner ungeliebten Existenz, seinem Judentum und seiner Homosexualität, gedeutet werden kann:

    "Das Bild, das die Leute von Allen Ginsberg haben, entspricht jener berühmten Fotografie, die ihn mit einem sehr langen schwarzen Bart, langen Haaren und einem großen Onkel-Sam-Zylinder auf dem Kopf zeigt. Man betrachtet ihn ausschließlich als die Stimme der Hippie- und Protestbewegung der 60er Jahre. Mein Buch, das in drei Teile gegliedert ist, will dieses Bild korrigieren: Ein Teil widmet sich dem Dichter, der er ohne Zweifel war, er war ein erstaunlich guter Dichter, seine Arbeiten sind denen Walt Whitmans vergleichbar. Und er war - darum geht es im zweiten Teil - die prophetische Stimme, im biblischen Sinne des Wortes; er war eine Art Zeuge seiner Zeit. Allen kannte sich in der Geschichte sehr gut aus. So konnte er die Ereignisse seiner Zeit in einen historischen Zusammenhang bringen und Entwicklungen in die Zukunft projizieren. Wenn man sich seine Texte aus den 40er und 50er Jahren ansieht, stellt man fest, daß er sich um den Zustand der Welt, um ökologische Probleme Sorgen gemacht hat. Bis in die 60er Jahre hinein aber war Ökologie noch gar kein Thema. Im dritten Teil zeige ich ihn als Lehrer, eine Rolle, die er liebte. Er betrat beispielsweise einen Raum, in dem 200 Leute saßen, und sagte: Ich bringe euch jetzt bei, wie man meditiert. Er erklärte, was die Meditation bewirkt, daß man lernt, geduldiger zu sein, großzügiger - was er von den Buddisten gelernt hatte -, daß die Welt dann ein besserer Ort zum Leben würde, weniger aggressiv, weniger feindselig. Allen Ginsberg war also Dichter, Prophet und Lehrer.

    Michael Schumacher hat einen differenzierten Blick für die lite-rarische Qualität des Ginsbergschen Werkes. Die Schwächen mancher Gedichte, die sich in nebulösem Pathos selbst zu ersticken scheinen, zeigt er ebenso klar wie er andere Arbeiten als Meisterwerke von kanonischem Rang bezeichnet:

    "Was mir an meiner Biografie bis heute am besten gefällt, sind jene Teile, in denen es um Allens Reisen geht, um seine Reisetagebücher, die er aufbewahrt hat. Sie sind ausgezeichnet! Sie waren für mich eine Entdeckung."

    Während Allen Ginsbergs Reisetagebücher über Indien, Europa und Mexico aus den 50er Jahren veröffentlicht worden sind, steht die Publikation der späteren über Südamerika noch aus. In den USA, so Schumacher, erscheinen in diesen Monaten Ginsbergs Interviews, seine letzten Gedichte und ein Band mit Prosaarbeiten und Essays. Welchen Einfluß der Lyriker Allen Ginsberg auf die amerikanische Literatur hatte, zeigt die Biografie unter anderem an der Begegnung zwischen Gingsberg und Bob Dylan. Bob Dylans Liedtexte sind nach Schumacher ohne Ginsberg kaum vorstellbar:

    "Allen Ginsbergs Lebensweise hatte einen großen Einfluß auf Menschen. Manchmal ist es ja sehr schwierig, Literatur und Lebensweise voneinander zu trennen; Allen war davon überzeugt, daß es beim Schreiben immer um persönliche Erfahrungen gehen müsse. Viele seiner Gedichte sind wie kurze Tagebucheintragungen. Allen Ginsberg hat die Menschen befreit, nämlich darüber zu schreiben, worüber sie schreiben wollen, und zu fühlen, daß das in Ordnung so ist. Erster Gedanke, bester Gedanke. Man muß sich nicht fürchten, wenn die eigene Erfahrung nicht die Erfahrung anderer ist. So hat er auch selbst gelebt."