In ein Konzert mit Giulini zu kommen, habe ich nie geschafft. An Versuchen hat es nicht gefehlt; zuvorderst in der Berliner Studentenzeit, wo man sich auch Mitte der 70er Jahre rechtzeitig für begehrte Karten anstellen musste (aber wahrscheinlich bin ich nicht wirklich früh genug aufgestanden); insbesondere erinnere ich mich - Giulini galt einfach als der leibhaftige Antipode Karajans und man musste ihn erlebt haben - an einen weiteren Anlauf in Wien. Da versuchte ich aufrichtig, eine Karte zu erstehen. Aber die Schlange vorm Konzerthaus war so elend lang und die Aussichten dann doch bald so aussichtslos, dass der Versuch abgebrochen wurde. Später konnte man sich dann die perfekte Produktion der vier Symphonien von Johannes Brahms, das einzige größere zyklische Vermächtnis Giulinis, im Plattenladen erwerben.
Er war Perfektionist und zugleich Anti-Star: Carlo Maria Giulini, der es Mitte der 50er Jahre zum Chefdirigenten der Mailänder Scala brachte und - gerade auch im Kontext von Maria Callas - zu Weltruhm aufstieg. Zur Welt gekommen war er 1914 in der apulischen Hafenstadt Barletta, doch siedelte die Familie nach dem Ende des ersten Weltkriegs nach Südtirol über - vom fünften Lebensjahr an erhielt Carlo Violinunterreicht. Er war gerade einmal 16, als er nach Rom ans Conservatorio di Santa Cecilia und in die Geigenmeisterklasse von Remy Principe kam. Freilich sorgte der junge Giulini für einen breiteren musikalischen Horizont, indem er auch Komposition studierte. Mit 19 saß er in Rom als Tutti-Bratscher im Orchestra Augustea, dem damals führenden Klangkörper Italiens - Giulini spielte unter Bruno Walter und Willem Mengelberg, unter Erich Kleiber und Otto Klemperer; als Italien sich in den zweiten Weltkrieg verwickelte, erwarb er bei Bernardino Molinari ein Dirigentendiplom, wurde dann aber rasch zum Dienst an der Front eingezogen.
Giulini desertierte und musste für fast ein Jahr untertauchen. Nach der Befreiung war er zur Stelle und stand beim ersten Konzert des Orchestra Augustea in der neuen Zeit am Dirigentenpult. Diese Zeit war ihm, der alles diktatorische und imperiale Gebaren strikt ablehnte und vermied, wie selbstverständlich gewogen. Rasch und steil entwickelte sich die Karriere: Giulini übernahm die Leitung des Rundfunkorchesters in Rom, baute von 1950 an das RAI-Orchester in Mailand auf und dirigierte dort eben auch Oper, setzte mit "L'incoronazione di Poppea" des damals noch völlig als Außenseiter gehandelten Monteverdi ebenso ein Zeichen für ein neues Repertoire wie mit Bartóks "Blaubart" - und er begann Mitte der 50er Jahre die produktive Zusammenarbeit mit Lucchino Visconti und Franco Zeffirelli sowie das Engagement bei den Festivals in Aix-en-Provence, Edinburgh und Glyndebourne.
Respekt vor dem Werk zeichnete Giulini aus. Vermutlich war er der erste Kapellmeister von internationalem Rang, der sich als dienstbarer Geist der Sache und als Musiker und Musikern verstand - als Primus inter pares, wobei die Primaten-Funktion nicht betont wurde. Seinem Arbeits-Ethos entsprach, dass er sich vom Theater zurückzog, als der Opernbetrieb Ende der 60er Jahre dem verschärften Zugriff der Kulturindustrie unterworfen und noch hektischer wurde, als er es ohnedies bereits war. Er konzentrierte sich auf seine Tätigkeit als erster Gastdirigent in Chicago und die Chefposition in Los Angeles, und daneben die Wiener und die Berliner Philharmoniker zu vernachlässigen.
Giulini war nicht nur ein bescheidener, sondern wohl zugleich ein tief religiöser Mensch. Seine Spiritualität manifestierte sich nicht nur in der wiederkehrenden Hinwendung zu Oratorien und anderen geistlichen Großwerken von Bach bis Fauré, sondern auch in der Handhabung des klassischen symphonischen Repertoires.
Was die Größe eines Dirigenten letztlich ausmacht, ist nur bis zu einem gewissen Grad durch objektivierbare Kriterien zu bestimmen. Dass Giulinis Reichweite nicht noch größer war, mag an Begrenzungen des von ihm favorisierten Repertoires gelegen haben. Aber heute besteht wenig Zweifel, dass er einer der wirklich Großen des 20. Jahrhunderts war - und als der greise Horowitz 1987 noch einmal Mozart einspielen wollte, sorgte er dafür, dass Giulini noch einmal dem Orchester vorstand. Die "Huldigung an Zerlina", der letzte Satz des großen A-Dur-Konzerts, mutet an wie eine lange liegen gebliebene Postkarte von einer fernen Insel.
Am Dienstag starb Giulini, 91jährig, nach langer Krankheit in Brescia.
Er war Perfektionist und zugleich Anti-Star: Carlo Maria Giulini, der es Mitte der 50er Jahre zum Chefdirigenten der Mailänder Scala brachte und - gerade auch im Kontext von Maria Callas - zu Weltruhm aufstieg. Zur Welt gekommen war er 1914 in der apulischen Hafenstadt Barletta, doch siedelte die Familie nach dem Ende des ersten Weltkriegs nach Südtirol über - vom fünften Lebensjahr an erhielt Carlo Violinunterreicht. Er war gerade einmal 16, als er nach Rom ans Conservatorio di Santa Cecilia und in die Geigenmeisterklasse von Remy Principe kam. Freilich sorgte der junge Giulini für einen breiteren musikalischen Horizont, indem er auch Komposition studierte. Mit 19 saß er in Rom als Tutti-Bratscher im Orchestra Augustea, dem damals führenden Klangkörper Italiens - Giulini spielte unter Bruno Walter und Willem Mengelberg, unter Erich Kleiber und Otto Klemperer; als Italien sich in den zweiten Weltkrieg verwickelte, erwarb er bei Bernardino Molinari ein Dirigentendiplom, wurde dann aber rasch zum Dienst an der Front eingezogen.
Giulini desertierte und musste für fast ein Jahr untertauchen. Nach der Befreiung war er zur Stelle und stand beim ersten Konzert des Orchestra Augustea in der neuen Zeit am Dirigentenpult. Diese Zeit war ihm, der alles diktatorische und imperiale Gebaren strikt ablehnte und vermied, wie selbstverständlich gewogen. Rasch und steil entwickelte sich die Karriere: Giulini übernahm die Leitung des Rundfunkorchesters in Rom, baute von 1950 an das RAI-Orchester in Mailand auf und dirigierte dort eben auch Oper, setzte mit "L'incoronazione di Poppea" des damals noch völlig als Außenseiter gehandelten Monteverdi ebenso ein Zeichen für ein neues Repertoire wie mit Bartóks "Blaubart" - und er begann Mitte der 50er Jahre die produktive Zusammenarbeit mit Lucchino Visconti und Franco Zeffirelli sowie das Engagement bei den Festivals in Aix-en-Provence, Edinburgh und Glyndebourne.
Respekt vor dem Werk zeichnete Giulini aus. Vermutlich war er der erste Kapellmeister von internationalem Rang, der sich als dienstbarer Geist der Sache und als Musiker und Musikern verstand - als Primus inter pares, wobei die Primaten-Funktion nicht betont wurde. Seinem Arbeits-Ethos entsprach, dass er sich vom Theater zurückzog, als der Opernbetrieb Ende der 60er Jahre dem verschärften Zugriff der Kulturindustrie unterworfen und noch hektischer wurde, als er es ohnedies bereits war. Er konzentrierte sich auf seine Tätigkeit als erster Gastdirigent in Chicago und die Chefposition in Los Angeles, und daneben die Wiener und die Berliner Philharmoniker zu vernachlässigen.
Giulini war nicht nur ein bescheidener, sondern wohl zugleich ein tief religiöser Mensch. Seine Spiritualität manifestierte sich nicht nur in der wiederkehrenden Hinwendung zu Oratorien und anderen geistlichen Großwerken von Bach bis Fauré, sondern auch in der Handhabung des klassischen symphonischen Repertoires.
Was die Größe eines Dirigenten letztlich ausmacht, ist nur bis zu einem gewissen Grad durch objektivierbare Kriterien zu bestimmen. Dass Giulinis Reichweite nicht noch größer war, mag an Begrenzungen des von ihm favorisierten Repertoires gelegen haben. Aber heute besteht wenig Zweifel, dass er einer der wirklich Großen des 20. Jahrhunderts war - und als der greise Horowitz 1987 noch einmal Mozart einspielen wollte, sorgte er dafür, dass Giulini noch einmal dem Orchester vorstand. Die "Huldigung an Zerlina", der letzte Satz des großen A-Dur-Konzerts, mutet an wie eine lange liegen gebliebene Postkarte von einer fernen Insel.
Am Dienstag starb Giulini, 91jährig, nach langer Krankheit in Brescia.