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Alles ist im Fluß

Die Mulde schlängelt sich mitten durch Sachsen, durch altes Kultur- und Ackerland. Sie gilt als Europas schnellster fließender Fluss und ist deshalb ideal für Wasserwanderer und Freizeitpaddler.

Von Anke Ulke |
    Fröhlich zwitschernd kommentiert ein Baumpieper den Transport des Rafting-Bootes ins Wasser. Luftig leicht ist das stabile Gummiboot, in dem zwei Personen ausreichend Platz für Paddel und Packtaschen haben. Vom Kanurastplatz Wiesenthal aus soll es heute 16 Kilometer flussabwärts gehen, bis nach Grimma. Vor dem Einsteigen gibt Bootsverleiher Michael Unger erst mal Tipps zum korrekten Paddelgebrauch:

    "Nicht so anpacken wie n Kochlöffel, wenn man alte Wäsche kocht, sondern eine Hand hier oben, eine Hand ziemlich weit unten, und wenn man hinten sitzt, kann man dieses Paddel wunderschön zum Steuern nehmen. Stellt euch vor, beim Passagierschiff gibt’s hinten die Sterreinrichtung, genauso kann man auch das Paddel verwenden."

    Die Mulde gilt als Europas schnellster fließender Fluss, aber Schwimmwesten sind - außer für Kinder und Nichtschwimmer - bei niedrigem Wasserstand nicht nötig. Günstig ist hier das leichte, weiche Gummiboot. Sein niedriger Tiefgang wühlt den kiesigen Untergrund nicht unnötig auf, wenn es mal zu flach ist, und bleibt es mal stecken, lässt es sich leicht in tieferes Wasser ziehen. Nach längeren Regenfällen führt der Fluss jedoch deutlich mehr Wasser und fließt stärker und schneller. Der Flussabschnitt von Wiesenthal nach Grimma gehört mit zu den schönsten Strecken an der Mulde. Doch das war nicht immer so. Michael Unger:

    "Die Mulde war zu DDR-Zeiten, so vor 20, 25 Jahren ein richtig verruchter, verseuchter Fluss. Die ganzen Industriebetriebe, Papierfabriken, die ganze Industrie um den Großraum Freiberg, wo halt für die gesamte DDR die Batterien hergestellt wurden – sämtliche Abwässer gingen zum Teil ungeklärt in den Fluss rein, grad so kurz vor der Wende, wo die ökonomischen Notwendigkeiten zwar schon anstanden, aber das Regime einfach kein Geld für Umweltschutz aufbringen wollte war das wirklich ne Kloake. Man kann sich das gar nicht vorstellen – der Fluss galt als biologisch tot und niemand wäre auf die Idee gekommen, hier drin zu baden, gar Boot zu fahren. Nach der Wende kamen Umweltauflagen und Klärlagen, und inzwischen hat die Mulde Gewässergüteklasse 2, Tendenz steigend – zwischen schlängelnden Wasserpflanzen gehen Zander, Barsch und Hecht auf die Jagd, und Angler versuchen sie dabei herauszufischen. Doch das Boot wartet und endlich geht’s auf ’s Wasser!"

    Gleich am Einstieg in Wiesenthal schwankt und schlingert das Boot über die ersten kleinen Stromschnellen, kräftiges Paddeln und Lenken ist nötig. Nach diesem kurzen Nervenkitzel wird es ruhiger. Gemächlich fließt die Mulde in breiten Kurven dahin, mal flach, mal etwas tiefer, vorbei an Äckern und Wäldern. Vorsichtig überqueren wir Kiesbänke, das Ufer ist grün und dicht bewachsen, kein Mensch weit und breit und auch kein anderes Boot. Mitten in der Woche ist erholsame Ruhe.

    Ab und an fliegt ein Graureiher auf, gelegentlich kreist ein Raubvogel am Himmel, Fische jagen nach Insekten und fallen platschend ins Wasser. Plaudernd paddeln wir den Fluss hinunter, freuen uns über die Stille und hübsche Wasserpflanzen mit kleinen erdbeerähnlichen Blüten. Nach gut eineinhalb Stunden schimmern dicken Mauern durch die Bäume – Schloss Podelwitz ist erreicht. Vor der Mittagspause muss unbedingt die skurrile "Heimatstube" besichtigt werden!

    Hier hat die Familie Knochenmus über Jahrzehnte gesammelte Alltagskultur ausgestellt: Alte Möbel, wertvolles Steingut, silberne Teller, glänzende Gläser mit und ohne Goldrand, ausgestopfte Tiere, alte Ladeneinrichtungen, Spielzeug, die Augen wissen nicht, wohin sie zuerst schauen sollen – so voll, überladen und gleichzeitig liebevoll nach Themen geordnet ist alles. Vieles haben die beiden Eheleute vom "Schuttchen" – vom Schutt im Nachbarort Colditz. Irmgard Knochenmus:

    "In Colditz gab’s so viele Schamottewerke, die wurden dann zugemacht und diese Tonlöcher und was die brauchten, wurden die Löcher zugeschüttet und jeder hat seinen Müll, was er loswerden wollte, in die Schutthalde geschafft. Wir sind dann losgemacht, bei Wind und Wetter ob das Sonntag war, sind mir dorthin und haben das Zeug geholt."

    Die Eheleute haben alles gesammelt, was ihnen wertvoll schien und in Schuppen und Garagen aufbewahrt. Bis sie vor 14 Jahren ihre umfangreiche Sammlung auf eine Schlossetage verlegen durften. Zwischen Alltag und Antike steckt viel DDR-Nostalgie. Eine Post, eine alte Kneipeneinrichtung, ein Laden. Ines Nebelung aus Leipzig, meine Paddelpartnerin, schwelgt in Erinnerungen:

    "Hier ist ja der alte Präsentkorb, den es immer im Delikat-Laden gab! Ich kann mich erinnern, immer wenn jemand krank war und dem wollte man was Gutes tun, dann ist man in den Delikat gegangen und hat dann so n Präsentkorb gekauft. Schokolade, Wein, Edelbrände – im Korb war Gutes was nicht nur den Leib, sondern vor allem die Seele stärkte. Es war ja so, wenn man im Delikatladen was kaufte, das schmeckte auch, da fuhr man immer gut. - Das war der Intershop des Ostens, ja."

    Weiter geht es nach der Rast, Mulde abwärts. Kurz vor Grimma, an der Schiffmühle, einem Nachbau typischer Flussmühlen, beenden wir die Tour, aber noch nicht den Tag. Ein Spaziergang von wenigen Minuten bringt uns ins Dorf Höfgen, zur alten Wassermühle, inzwischen Museum und historisches Restaurant. Seit 150 Jahren ist die Mühle im Besitz der Familie Ruhmer – und wenn es nach Hans-Henning Ruhmer geht, dann soll es auch noch lange so bleiben. Eine Führung durch die alte Mühle zeigt, wie schwer und auch laut die Arbeit einst hier war:

    "Jetzt haben sich draußen wieder drei Zellen gefüllt, und dann ist soviel Kraft auf dem Mühlrad, dass sich das wieder n paar Mal dreht. Wenn wir jetzt den Schieber lösen würden, könnt es permanent sich drehen. Es klappert die Mühle dieses romantische Geräusch, wenn Sie das n ganzen Tag hören, ist es n ganz penetrantes Geräusch und würd’ Sie aufregen und nicht beruhigen, aber die Mühle gibt gleich Ruhe."

    Es gibt noch mehr Kultur, hier mitten auf dem Land, an den Ufern der Mulde. Sebastian Bachran aus Grimma hat die Führung übernommen und zusammen mit ihm geht es zum Jutta-Park, einem Landschafts- und Skulpturenpark am Ortsrand von Höfgen.

    Am Rande einer Lichtung thront der Jutta-Turm. Wer die Türen öffnet, bekommt etwas auf die Ohren. In diesem Turm ist eine Klanginstallation von Erwin Stache versteckt, ein Klangkünstler, der hier durch physikalische Meisterleistungen und durch Druckausgleich Klänge erzeugen kann, die in dieser Spirale nach oben gehen und sich dann zum Klingen bewegt. Es sind Metallplatten die dann einfach vibrieren und einen Klang erzeugen. 'Tür zu, es rauscht!' heißt die Installation und solange sich Luft im Turm bewegt, ist Klang.

    Weiter geht’s zur Denkmalschmiede Höfgen im Ortsteil Kaditzsch. Schon zu DDR-Zeiten war der alte Vierseithof Künstlertreff – äußerst misstrauisch beäugt von der Stasi. Ein Leipziger Physiker hat die Schmiede in den 70er Jahren gegründet – seine Stasi-Akten, an die dunklen Holztüren der Bar gepinnt, machen Geschichte lebendig. Das Leben der Anderen – hier fand es statt, unter Beobachtung aus dem einstigen Konsum gegenüber:

    "Die Person Andrich Uwe plant für den 30. April 1985 ein großes Zusammentreffen im Kreis Grimma. Er besitzt dort ein ausgebautes Bauerngehöft. Circa. drei bis fünf Personen sind eingeladen –es gab Hammel vom Spieß, Fassbier und Limonade. Äußerlich machten die meisten der Anwesenden den Eindruck von Trampern und Gammlern."

    Der erste Tag an der Mulde endet in Grimma. Abendsonne taucht die blendend restaurierte Stadt in warmes Licht.

    Am Ufer, entlang der Stadtmauer, Baustellen – Schutzmaßnahmen fürs nächste Hochwasser. Auf der Stadtmauer – Gartenlauben mit Muldeblick, einst illegal gebaut, inzwischen gerne geduldet. Sebastian Bachran kennt jede Einzelne, die bekannteste ist die Stollelaube – ein kleiner, zartgelber Teepavillon:

    "Der Besitzer früher dieser Laube, das war der Ferdinand Stolle, das war der erste Journalist, der auch die erste Zeitung herausgab, die Gartenlaube, er war ein grandioser Grimmasympathisant, der sehr viel für die Stadt getan hat. Der hat sich die Freiheit genommen und diese schönste Laube erbaut und dieser Balkon ähnliche Blick ins Muldental hat schon einen großen Hauch von Dolce Vita."

    Ab ins Boot geht es wieder am nächsten Tag, diesmal auf der Zwickauer Mulde, bei Wechselburg. Michael Unger hat auf dem Hänger ein Einerkajak mitgebracht. Auf dem Weg liegt das große Benediktinerkloster Wechselburg, ein mächtiger Bau mit viel Rotem Porphyr, dass von sieben Mönchen in Schuss gehalten wird.

    Die Wechselburg steht oberhalb der Mulde, unten plätschert der Fluss über Steine, auch hier locken immer wieder leichte Stromschnellen. Dieser Abschnitt der Zwickauer Mulde sieht völlig anders aus: Dichter Wald reicht bis ans Ufer. Paddelexperte Michael Unger schätzt dieses Stück Mulde sehr:

    "Das Besondere sind diese Vulkanfelsen, dieser Rote Porphyr der hier überall in den Dörfern, den Schlössern, den Burgen verbaut worden ist – wenn wir den Fluss n Stück runterschauen, sehen wir diese großen steilen aufragenden Felsklippen aus diesem typisch roten Gestein und das ist halt das Vulkangestein, und die Zwickauer Mulde hat auf diesem Stück bis nach Rochlitz sich tief in dieses Gestein eingefressen, viele Kurven, viele Mäandern, kleine Inseln und das ist so einer der schönsten Wasserwanderabschnitte, den wir hier in ganz Sachsen zu bieten haben."

    Natur pur, niemand sonst paddelt, niemand spricht oder lärmt. Vögel zwitschern, am Ufer grast ein Reh, wieder fliegen Fischreiher auf. Ein Glück - die dicken Bremsen, die frisches Blut saugen wollen, können dank des Doppelpaddels, das ständig in Bewegung ist, nicht landen! Nach einer guten Stunde auf dem Fluss und einigen sanften Stromschnellen ist Rochlitz erreicht. Mächtig thront das 1000 Jahre alte spätgotische Schloss mit seinen zwei beeindruckenden Türmen hoch auf einem Felsen. Kaiser und Könige sind hier einst ein- und ausgegangen. Museumspädagogin Carola Schwarze schließt alle möglichen Räume immer wieder auf und zu:

    "Wir stehen jetzt in unserer Schlossküche, die ist knapp 100 m2 groß, heißt auch nicht umsonst die große Hofküche, wie Sie sehen, wir haben n großen ebenerdigen Herd, man hat damals hier ganz viele Feuer gemacht, dort hinten in der Ecke, wo der Balken so verbrannt ist, da hat man n sogenanntes Erhaltungsfeuer gemacht, wenn sie nach m Sommer das erste Mal wieder anheizen, dann hat man ja keinen Zug. Und um diesen Zug im Ofen zu haben, Sie sehen ja, der Schornstein ist riesengroß, hat man halt n großes Feuer gemacht und von da aus sich immer einzelne Glutnester geholt und da seine Essen gekocht. Man hat bis zu 1000 Leute hier bewirtet, Reiseresidenzen, da hat man natürlich den Hof mitgenutzt."

    Die Reise auf und entlang der Mulde nähert sich ihrem Ende. Das Kajak ist aufgeladen, mit dem Auto geht es von Rochlitz aus zurück nach Grimma, noch ein letztes Mal an die Mulde. Denn nur einen Spaziergang weit flussaufwärts, ein Stück hinter dem Kloster Nimbschen, wartet noch ein touristisches Highlight, eine alte Gierseilfähre. Gierseilfähren nutzen zur Überfahrt die Strömung des Flusses und die Fähre zwischen Nimbscher und Höfger Ufer gibt es schon seit Jahrhunderten – denn als es weder Fahrräder, Busse, noch Autos gab, mussten die Menschen trotzdem sicher über den Fluss. Diese "fliegende Brücke", wie die Fähren auch genannt wurden, hängt mit einer dicken Kette an einem Stahlseil, das über den Fluss gespannt ist. Mit einer langen Stange stakend setzt Fährmann Manfred Görnitz vom anderen Ufer über und legt schwungvoll an:

    "An der Stelle, da ist eine Strömung bei gutem Wasser und da wird dann der Fährkahn schräg gegen die Strömung gestellt, das nennt sich das Gieren. Das zieht sich mit Druck und Wasserkraft rüber. Und wenn das Wasser fällt, lässt die Strömung nach und dann muss ich mit der Stake nachhelfen. (..) Wir haben kein Ruderblatt drin, wie ne Schwanzflosse, damit ich den Kahn in die Strömung stellen kann, sondern ich muss mit dem Fährstab, der Stake nachhelfen, damit ich von links nach rechts komme."

    Je voller der Kahn, desto leichter lässt er sich lenken, erklärt Fährmann Görnitz. Den Fluss und seine Strömung muss er natürlich auch kennen:

    "Man muss mit Schwung vom Ufer wegkommen – gegen die Strömung oder mit der Strömung oder der Wind der vom Tal kommt und mich nach oben drückt oder von oben ist starker Strom und starker Wind und dann muss ich zusehen, dass ich die Kette nicht zwischen die Beine kriege und die mich dann in die Mulde wirft sonst mache ich dann den Fährmannschwung mal mit. Der ist nicht angenehm."

    Heute gibt es keinen Fährmannsschwung. Friedlich und ruhig fließt die Mulde dahin, trügerische Sanftheit bei Niedrigwasser? Mal langsam und gemächlich, mal schnell und lebhaft begleitet der Fluss eine alte Kulturlandschaft in Mittelsachsen, die zu entdecken sich lohnt."