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"Alles ist religiös, sogar mystisch"

Den Bilderkosmos Marc Chagalls bevölkerten immer wieder die gleichen Figuren: Liebespaare, biblische Gestalten und Tiere wie der Hahn oder der Fisch. Durch ihre Darstellung erzählte er auf seinen Bildern seine eigene Lebensgeschichte. Chagalls zweite Heimat wurde Frankreich, doch seine russisch-jüdische Herkunft bestimmte sein künstlerisches Schaffen.

Von Björn Stüben |
    "Einsamkeit" heißt das in kontrastreich komponierten Grau-, Weiß- und Blautönen gemalte Ölbild, das einen Rabbiner zusammengesunken, mit einer tiefroten Thorarolle im Arm, vor einer Dorfkulisse sitzend zeigt. Ein Engel schwebt über der Szenerie. Dem Maler dieses Werks, Marc Chagall, attestierte der befreundete Guillaume Apollinaire, dass "seine Kunst sehr sinnlich" sei. In Künstlerkreisen nannte man ihn daher den "Poeten". Chagall, der am 7. Juli 1887 im weißrussischen Witebsk als Kind jüdisch-orthodoxer Eltern geboren wurde, passte so gar nicht in die Stilschubladen der modernen Kunstgeschichte. Der französische Kunsthistoriker Daniel Marchesseau:

    "Zuerst wurde Chagall von einer sehr akademischen Ausbildung in Witebsk geprägt. Schon spürbar auf die Moderne ausgerichtet waren dann seine Studien in Sankt Petersburg. Und schließlich folgte in Paris das, was er mit "Licht der Freiheit" umschrieb. Er trat in engen Kontakt zu den Avantgardekünstlern des Montparnasse. Er hatte also drei sehr unterschiedliche Formen der Ausbildung durchlaufen, doch jede bot ihm Elemente, die er für seine Kunst aufnehmen konnte. Aus dieser Symbiose gestaltete er dann kraftvoll sein ganz eigenes Universum, dem er konsequent treu blieb."
    Paris übte seit 1910 auf den jungen Chagall sicher den größten Einfluss aus. Er studierte in Museen und Galerien die Werke Gauguins und van Goghs, entdeckte den Fauvismus und ließ sich vom Kubismus inspirieren. 1913 machte er in Berlin mit einer ersten Einzelausstellung in der Galerie Sturm von sich reden. Da der Kriegsausbruch seine Rückkehr nach Paris verhinderte, besuchte er wieder seine Heimat Witebsk. Hier lernte er seine erste Frau Bella kennen. Die Revolutionen 1917 in Russland begeisterten Chagall. Doch sein kurzzeitiges Engagement dort scheiterte an seinem Konkurrenten Malewitsch, dessen Suprematismus zunächst als regimekonformer galt. 1922 endlich kehrte Chagall nach Paris zurück; wo ihm Verträge mit Kunsthändlern ein finanzielles Auskommen sicherten. 1930 widmete er sich verstärkt einem Thema, das ihn schon immer beschäftigt hatte: die Bibel. Chagall erinnert sich:

    "In ihr entdeckte ich eine Philosophie, die mich sehr stark bewegt hat. Ich meine nicht Religiosität, denn alles ist religiös, sogar mystisch. Die Poesie, die in der Bibel steckt, ist enorm. Erst danach kommt für mich Shakespeare."

    In die Bibel als Quelle der Poesie vertiefte sich Chagall als er nach dem Zweiten Weltkrieg die monumentalen Kirchenfensterzyklen für Metz, Reims oder Mainz schuf. Auch die siebzehn großen Leinwände zur Biblischen Botschaft, für die in Nizza 1973 eigens ein französisches Nationalmuseum errichtet wurde, gingen auf sein Bibelstudium zurück. Chagalls Bildwelt war jedoch noch vielschichtiger, wie Daniel Marchesseau unterstreicht:

    "Seine Malerei ist wie eine lange Geschichte, die von seinen Freuden, seinem Schmerz und seinen Gefühlen erzählt. Diese Geschichte handelt vor allem von der Liebe, der Liebe zu seiner Frau Bella, zu seinen Kindern, aber er liebt auch die russischen Traditionen, die ganz alltäglichen Dinge wie eine gute Tasse Tee oder einen Samovar. All dies gehört zu einem ländlichen Kosmos, der oft vergessen zu sein scheint, aber immer wieder in populären Romanen auftaucht. Chagalls Bildelemente sprechen direkt das Gefühl des Betrachters an, der in einer Art von kollektivem Gedächtnis diesen Kosmos wiedererkennt und davon tief berührt wird."

    Chagall reagierte künstlerisch auch auf den Antisemitismus, den er Ende der dreißiger Jahre in Osteuropa zu spüren bekam, während in Nazideutschland Dutzende seiner Bilder als entartet gezeigt wurden. 1941 flüchtete er als Jude in die USA. Kurze Zeit später starb seine Frau. 1948 kehrte er nach Frankreich zurück, wo er Walentina Brodsky heiratete. Chagalls Werke wurden rund um den Globus auf Ausstellungen gezeigt; Aufträge für Wanddekorationen von New York über Paris bis Tokio machten ihn zu einem der erfolgreichsten und berühmtesten Künstler seiner Epoche. Marc Chagall starb im Alter von 97 Jahren 1985 an der Côte d’Azur, begraben liegt er in Saint-Paul-de-Vence.