Archiv


"Alles oder nichts" fürs Tübinger Zimmertheater?

Sie geht gerne dorthin, ins Theater und in die Oper, und sie ist eine engagierte Kulturpolitikerin, die Vize-Präsidentin des deutschen Bundestags Antje Vollmer. Im letzten Sommer hatte sie einen Vorschlag gemacht, der vielleicht wenig realistisch war, aber doch erhellend für einen Sachverhalt, der leicht übersehen wird. Vollmer schlug vor, die reiche und dichte deutsche Theaterlandschaft als Weltkulturerbe schützen zu lassen. Dann sei das deutsche Theater doch nur noch ein Museumsfall, meinten Kritiker, dabei sollten die vielen großen und kleinen Bühnen eher ein Zukunftslabor für Kunst und Gesellschaft sein. Zukunftslaboratorien in einem engmaschigen städte- und provinzweiten Netz von Theatern wäre aber doch ein Ideal, zumal es eine reale Grundlage hat, eben in den vielen auch kleinen Häusern, wo mitunter höchste Qualität gezeigt wird. Wie in Tübingen. Das Zimmertheater dort zeigt ab morgen fünf frühe und weitgehend unbekannte kurze Stücke von Thomas Bernhard. Theater als Zukunftslabor, gefährdet durch die Kommune.

Von Cornelie Ueding |
    Man sieht nichts. Ahnt nur im Dämmerlicht eine in Packpapier gewickelte Rolle auf dem Boden, dazu friedliches Glockengeläut - und schon schnattert eine Vertreterin des gesunden Volksempfindens sich in Rage, überwältigt ihre Begleiterin mit Mutmaßungen, was das ist: "A Doda". Ein Käuzchenschrei signalisiert den Einbruch des Unheimlichen: Krimiphantasien! ein Edgar Wallace gar mitten in der (Schein-) Wirklichkeit - und schnell verdichtet sich die phantasiebeflügelte Ahnung der Kirchgängerin zu einer (naturgemäß falschen) Gewissheit. Denn natürlich ist kein Toter drin, dafür etwas, was nicht tot zu kriegen ist: Hakenkreuzplakate.

    Diese Enthüllung ist allenfalls für das Publikum ein Schock. Bei der redseligen Dame dominiert die Wut darüber, wie man mit solch kostbarer Last so fahrlässig umgehen könne, schließlich sollen die Plakate heute noch geklebt werden. Daran kann nur einer schuld sein: ihr "Mo". Eine brillante Studie in Sachen Vorurteilsbildung und Vorverurteilung. Kurz und schmerzlos kanns der Bernhard also auch. Und so richtig gemein von unten nach oben treten wie in seinen fast unbekannten Dramoletten, von denen Vera Sturm fünf zu einem ebenso komischen wie giftigen Theaterabend zusammengefasst hat.

    Als gegen Ende der 70er Jahre erst die Spitze des Eisbergs unserer inzwischen flächendeckend zum Mainstream-Phänomen angeschwollenen Spaß-, Blödel- und Event-Kultur zu erkennen war, trieb der Altmeister der so genannten "Übertreibung" bereits seine Farce darüber auf dem Theater: Bundeskanzler, Präsident und handtäschchenschwenkende Außenministerin, die Spitzen des deutschen Eisbergs, lassen sich in der Gewinn-Spiel-Show vom launigen Moderator nach allen Regeln der Manipulations-Kunst vorführen. Auf der Jagd um Wählerstimmen durchs Jauchefass zu kriechen - kein Problem. Siegreich schwenken die Politiker ihre kotgetränkten Stimmzettel-Trophäen. Was tut man nicht für die Wählergunst. Notfalls alles, und wenn man sich - aus Versehen? - als Nazi outet.

    Bernhards Stücke sind Lehrstücke ohne Moral über das Entstehen von dumpfem Geraune und diffusen Meinungen. Über das Entstehen und Machen von Stimmungen scheinbar aus dem Nichts. Aus heiterem Himmel. Im kleinen privaten wie im großen, öffentlich-rechtlichen Raum. Und sie sind, hier und heute und gerade in dem kleinen, feinen Tübinger Zimmertheater aufgeführt, von einer erschreckenden Aktualität. Soll doch - die Lage ist ernst und gespart werden muss überall - nach dem Willen einiger Gemeinderatsfraktionen dem Zimmertheater der städtische Zuschuss, das bedeutet der Gesamtetat, gestrichen werden. Nicht 10 oder 20 Prozent weniger, nein: Keine faulen Kompromisse mehr, Tabus müssen endlich gebrochen und Zeichen gesetzt werden.

    Eine tückische Forderung die, die man freilich, einmal in die Welt gesetzt, nicht mehr einfach zurücknehmen kann. Schon nämlich melden sich Stimmen zu Wort, die mit fatalen, kurzsichtigen und kurzschlüssigen Alternativen vom Typ 'entweder Kindergärten oder Theater' operieren, die, wenn sie nur oft genug wiederholt werden - siehe Bernhard - nicht plausibler, aber: selbstverständlicher werden.

    In allen falschen Alternativen sitzt der Spaltpilz. So weckt man Sozialneid, blockiert die Fähigkeit zum Dialog, und an die Stelle des Nachdenkens tritt die starre Behauptung. Ganz abgesehen davon, dass die aus dem Kindergarten ins Leben entlassenen Menschenkinder fast nur noch im Theater erleben können, wie leibhaftige Menschen als fiktive aber greifbare Figuren uns etwas vormachen; einsichtig und nachvollziehbar machen, was geschieht. Die Kinderbetreuung endet eben nicht mit dem Kindergarten - und das Theater ist eine unverzichtbare Schule der Wahrnehmung.

    Selbst dann noch, wenn es weniger gut ist als Vera Sturms Inszenierungen. Die nämlich zeigt mit Witz und leichter Hand Typen als unsere um Wahrheit unbekümmerten, stets zu bissigem Klatsch aufgelegten Nachbarn, und Repräsentanten als ganz durchschnittliche, nur eben professionell deformierte und psychisch lädierte Menschen. Bernhards Kunstbayrisch entfaltet sie zusammen mit großen, für jede Produktion aufs neue handverlesenen Schauspielern als komisch entlarvende Klangpartituren der Heuchelei, Dummheit und Gemeinheit. Und durch die mal lächerlich synchrone, dann wieder biestig gegenläufige, fast choreographische Bewegtheit kommen alle Figuren zur Kenntlichkeit. Und mit ihnen der politische Kern der Stücke. So kann man sich mit Blick auf die kommunale Kulturpolitik nur Bernhards Stoßseufzer anschließen.