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Alles über die Varusschlacht

"Varus, Varus, gib mir meine Legionen wieder!", soll Kaiser Augustus gerufen haben, als er erfuhr, dass sein Kommandant Varus ganze drei Legionen - wohl an die 20.000 Mann - bei einem Gemetzel im Teutoburger Wald verloren hatte. 2000 Jahre später beschäftigen sich gleich mehrere Bücher mit der Varusschlacht, wie sie die Historiker nennen beziehungsweise der Hermannschlacht - wie sie bei den deutschen Dichtern heißt.

Von Kai Brodersen | 29.12.2008
    Gaius Iulius Caesar hatte ganz Gallien für das Römische Reich erobert. Die Gebiete östlich des Rheins waren damals aber nicht Teil des Imperium Romanum geworden. Unter Kaiser Augustus wurden dann immer wieder Versuche unternommen, die rechtsrheinischen Gebiete zu romanisieren. Hier bot Rom mit der Einrichtung von Märkten und Foren manchen Stämmen die Möglichkeit, die Wirtschafts- und Rechtskultur des Imperium Romanum auch für sich zu nutzen. Für diese Form römischer Außenpolitik stand etwa der in der Zivilverwaltung erfahrene Statthalter Publius Quinctilius Varus. Die Stämme hingegen, die sich so nicht von der Überlegenheit Roms überzeugen ließen, suchte Rom mit militärischer Macht zu besiegen - und war dabei fast immer erfolgreich. Einen gewissen Rückschlag bedeutete allenfalls eine Schlacht im Teutoburger Wald, bei der im Jahr 9 n.Chr. ein römisches Heer unter Publius Quinctilius Varus von Truppen unter Führung des Cheruskers Arminius angegriffen und besiegt worden war.

    Unmittelbare Folgen hatte diese Schlacht damals nicht. Erst vor allem im 19. Jahrhundert wurde die "Varus-Schlacht", bei der Hermann - so übersetzte man den römischen Namen Arminius - die Römer besiegt hatte, zu dem Groß-Ereignis deutscher Geschichte stilisiert: Hermann wurde nun zum deutschen Nationalhelden, der die aus Frankreich kommenden Römer abgewehrt habe. Zwei Weltkriege und die erfolgreiche europäische Einigung trennen uns von der Deutung dieses antiken Ereignisses, das im Jahr 2009 genau 2000 Jahre zurückliegt.

    Anlass genug für etliche Ausstellungen und neue Literatur zum Thema! Da ist zunächst Ralf-Peter Märtins: "Die Varusschlacht: Rom und die Germanen” - eine recht phantasievoller Blick auf die Ereignisse von damals:

    Ein antiker Journalist, als Kriegsberichterstatter ins Lager des Arminius geschickt, hätte für seine römische oder griechische Leserschaft vor allem eines herausfinden müssen: Warum empörte sich der Mann gegen Rom? Arbeitete unser Mann für ein Boulevardblatt, würde er nach persönlichen Verletzungen seines Helden Ausschau gehalten haben: etwa einer Beleidigung durch den Statthalter oder einer Liebesbeziehung. Über das eine schweigen unsere Quellen, über das andere hat ein Heer von Romanschriftstellern spekuliert.

    Ralf-Peter Märtin nimmt in seinem Buch immer wieder die Rolle eines solchen fiktiven "antiken Journalisten” ein. Über vieles nämlich schweigen die antiken Quellen; ja, die schriftlichen Belege zur Varus-Schlacht füllen gerade einmal ein dünnes Reclam-Heft (das übrigens ebenfalls gerade neu erschienen ist). So bleibt viel Raum für Phantasie:

    Stellen wir uns die Situation plastisch vor: Im repräsentativen Stabsgebäude des großen Zwei-Legionen-Lagers von Vetera, wahlweise im Statthalterpalast von Köln, erscheinen zwei germanische Fürsten - Ségimer ist wie Arminius ein Mitglied der cheruskischen Oberschicht - und bitten Varus, drei Legionen mit allem, was dazugehört, zu mobilisieren und mit ihnen an die Weser in ihre Heimat zu ziehen. Der Statthalter ist ein konzilianter Mensch. Deshalb lädt Varus die beiden zur Audienz, obwohl er noch anderes zu tun hat an diesem heißen Sommertag.

    Ob und wo diese Audienz so stattfand, wissen wir aber tatsächlich nicht, und ob es ein heißer Sommertag war, erst recht nicht ... Ja, Märtin kann manchmal sogar in den Kopf seiner Helden schauen:

    Arminius wollte den höchsten Preis, die Königswürde und ein eigenes Reich. Dafür musste er eine Tat vollbringen, die so überragend war, dass ihm als gerechter Lohn die Führung der Cherusker zufiel.

    Deshalb habe Arminius die Seiten gewechselt und gegen die Römer gekämpft. Von der entscheidenden Schlacht zeugen, so Märtin, Befunde, die in den letzten Jahrzehnten bei Kalkriese ans Licht gekommen sind. Genau hier hätten Arminius und seine Leute sich plötzlich gegen ihre römischen Kampfgefährten gewendet:

    Gut vorstellbar, dass die Legionäre das Erscheinen ihrer Hilfstruppen nach Soldatenart mit kernigen Sprüchen kommentierten: "Kommt ihr endlich, ihr Schlafmützen!”, rufen oder frivole Anspielungen machen auf nächtliche Freuden, die der rasche Aufbruch verdarb. Der eine oder andere mag einen Bekannten erkennen, ein Zenturio aus der Reihe der Marschierenden heraustreten und einem der Reiter zurufen, wo denn ihr Befehlshaber, der Präfekt Arminius sei? Die Antwort war eine Wurf-Lanze.

    Nichts davon ist in den Quellen belegt. Es ist vor allem Märtins literarische Kunst und historische Phantasie, die ein buntes Bild von "Rom und den Germanen” schafft.

    Märtins Bild ist allerdings nicht das einzige denkbare - und vielleicht auch gar nicht das richtige. Mit dem nüchternen Blick des Historikers nähert sich Reinhard Wolters Hermann dem Cherusker und der Varus-Schlacht:

    War der Cherusker Anführer einer nationalen Bewegung zur Befreiung der Germanen - und kann eine solche Sichtweise überhaupt den zeitgenössischen gesellschaftlichen und politischen Strukturen der Bewohner rechts des Rheins entsprechen? Welcher Art war die Struktur der germanischen Stämme, worauf beruhte überhaupt die Führungsstellung des Cheruskers, und auf welche Weise konnte er den so erfolgreichen Angriff organisieren? Ursächlich für die unterschiedlichen Deutungen sind die Lückenhaftigkeit der Überlieferung und nicht weniger die Widersprüche, die bereits in den antiken Quellen enthalten sind.

    Wo Märtin Antworten bietet, die unter dem Einsatz von Phantasie die Lücken in der Überlieferung überdecken und aus widersprüchlichen Aussagen eine als plausibel auswählen, stellt Wolters Fragen und zeigt, welcher intellektuelle Reiz gerade in den Lücken und Widersprüchen unserer Quellen und in der Vielfalt der möglichen Antworten steckt. Nicht zuletzt zeigt Wolters auch, dass sogar der Versuch der Lokalisierung der Varus-Schlacht bei Kalkriese mehr Fragen aufwirft als beantwortet:

    Der im Boden erhaltene, scheinbar unverfälschte primäre Befund wird genutzt, um die literarische Überlieferung zu kontrollieren und Lücken zu schließen. Doch tatsächlich trägt auch der neue Platz eher noch zu einer Vermehrung der Bilder bei: neue Fragen erwachsen aus dem vorliegenden archäologischen Befund im Hinblick auf Größe und Dauer des militärischen Ereignisses. ... Auch nach der Entdeckung von Kalkriese ist die Frage der Verortung des Geschehens ... noch nicht für alle wirklich abschließend beantwortet.
    Wolters bietet uns alle Informationen, suggeriert aber nie, was wir uns "plastisch vorstellen" müssen. Vielmehr bleibt uns die Aufgabe, die Zeugnisse selbst zu studieren. In Kenntnis der Quellen und unterschiedlicher Deutungen können wir schließlich unser eigenes Bild entwerfen. Dabei dürfen wir, wie Wolters sicher zu Recht betont, nicht die Frage ausklammern, ob die Varus-Schlacht überhaupt die Bedeutung hatte, die ihr heute zugewiesen wird:

    Dem Untergang des Varus-Heeres kommt im Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit nicht nur der Platz eines radikalen Wendepunkts in der Beziehung zwischen Römern und Germanen zu, sondern ihm werden auch bis in die Gegenwart reichende Konsequenzen für die europäische Geschichte, wenn nicht für die Weltgeschichte überhaupt zugemessen. Um die Perspektive der Zeitgenossen handelt es sich dabei freilich nicht: Die Varus-Katastrophe stellte weder militärisch noch politisch einen Einschnitt dar.

    Sowohl Wolters' nüchterne Aufforderung zum Selbst-Denken als auch Märtins phantasievolles Bild enden mit einem Ausblick auf das "Nachleben” der Varus-Schlacht. Hatten die römischen Zeitgenossen die Schlacht nur als einen gewissen Rückschlag wahrgenommen, war es erst die Neuzeit, die der Varus-Schlacht eine Bedeutung als historischer Wendepunkt zumaß: Die Schlacht wurde zum Urbild der Auseinandersetzung des "freien Germanien" mit dem "Erbfeind", mit Frankreich. Letztlich verdankt sich dieser nationalistischen Deutung auch die Tatsache, dass aktuelle Ausstellungen und Bücher über ein eher unbedeutendes Ereignis vor zwei Jahrtausenden nun so große Aufmerksamkeit finden.


    Ralf-Peter Märtin: "Die Varusschlacht: Rom und die Germanen”, Frankfurt: S. Fischer, 2008. 464 Seiten, 22,90 Euro

    Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald: Arminius, Varus und das römische Germanien”, München: C.H.Beck, 2008. 253 Seiten, 19,90 Euro

    Walther Lutz: "Varus, Varus! Antike Texte zur Schlacht im Teutoburger Wald”. Zweisprachige Ausgabe, Reclams Universalbibliothek 18587,
    Stuttgart: Reclam, 2008. 160 Seiten, 4,80 Euro