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Alles über Erziehungswissenschaften

Nach vier Jahren Redaktionsarbeit legt der traditionsreiche Schöningh-Verlag ein neues Handbuch der Erziehungswissenschaften vor: Das 3000 Seiten starke Werk stellt die Vielfalt der unterschiedlichen, meist sehr praxisbezogenen pädagogischen Disziplinen vor, fächert spezifische Probleme und aktuelle Tendenzen auf.

Von Barbara Leitner |
    "In den letzen 40 Jahren hat sich unsere Disziplin enorm aufgefächert. In zum Beispiel Schulpädagogik, allgemeine Erziehungswissenschaft, Erwachsenenpädagogik, Medienpädagogik, interkulturelle, vergleichende, und in der Summe ist da ein riesiges Theoriegebäude daraus geworden, das mittlerweile, wenn wir die Professoren und die Studierenden dazu zählen, im universitären Bereich an zweiter Stelle - direkt nach der Medizin in Deutschland - rückt. Und diese Unübersichtlichkeit, die entstanden ist, ist so groß, dass man, wenn man noch die Heterogenität der Vertreter und der Ansätze betrachtet, tatsächlich so etwas wie einen orientierenden ersten Überblick braucht."

    Gerhard Mertens, Professor für Anthropologie und Ethik an der Universität Köln und einer der vier Herausgeber des Handbuchs für Erziehungswissenschaften. Er blickt 40 Jahre zurück, weil Ende der 70er-Jahre das letzte vergleichbare komplexe Handbuch für diese Wissenschaft erschien. In dieser Zeit nach den Studentenunruhen und der demokratischen Öffnung verband man Gesellschaftsveränderung mit erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen, mit Bildung und Entwicklungschancen für alle. Damals reifte das Fach zu einer Leitdisziplin. Das ist vorbei. Zwar kommen bis heute durch die neuen Studiengänge viele weitere Bindestrich-Pädagogiken hinzu, wie die Freizeit-Pädagogik beispielsweise. Dennoch geben sich nur wenige Absolventen gern als Erziehungswissenschaftler zu erkennen:

    "Das ist für mich ein Hinweis darauf, dass die Idee von Entwicklungsfähigkeit und Gestaltbarkeit des Individuums - obwohl jetzt immer mehr gefordert - auch nachgelassen hat."

    Wiltrud Gieseke, Professorin für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Humboldt-Universität Berlin, Dekanin der Philosophischen Fakultät und eine der über 300 Autorinnen:

    "Das Handbuch stellt auch eine Leistungsbilanz dar, die vielerlei Zugänge, die möglich waren, die aber häufig nicht mit Pädagogik verbunden werden. Also das klassische Denken im Alltag besetzt pädagogisches Handeln immer auf Schule, da ist in der Bevölkerung der Diskus ist zu eng. Wir haben inzwischen durchpädagogisierte Konzepte beim Fernsehen, beim Rundfunk, in den Kulturinstitutionen, und alle bedienen sich im Grund beim pädagogischen Wissen, ohne dass es benannt wird. Wir kommen ohne Strukturierung und Aufarbeitung von Wissen überall nicht mehr aus, wenn es eine Wissensgesellschaft ist."

    Den Auftrag, dieses Handbuch für Erziehungswissenschaften zu schreiben, gab die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Als eine Plattform "aus der Tiefe des jüdisch-christlich geprägten abendländischen Denkens" sollte es zugleich in seiner wissenschaftlichen Fundierung auf der Höhe der Zeit wirken. Dabei beleuchten die Bände nicht nur, wie Kinder und Jugendliche in Familie und in Institutionen erzogen und gebildet werden. Sie untersuchen auch pädagogische Handlungsfelder für Erwachsene ein Leben lang, beispielsweise den Einfluss von Medien und der Umwelt oder von Beratungs- und Coachingprozessen.

    "In den ersten beiden Grundlagenbänden war für mich von immenser Bedeutung, dass die Zieldimension - nicht so wie das in der Nach-Pisa-Zeit verengt gesehen wird - nur auf ein kognitives Wissen dargestellt wird, sondern dass da Zieldimensionen gesehen werden, die den ganzen Menschen ausmachen; also den Menschen in seiner leiblichen, seiner sinnlich-ästhetischen Dimension. Über die ästhetische Dimension sind Werteerfahrungen, ist emotionales Erleben erst möglich, gehen Bildungsmomente in die Tiefe rein, die - wir haben es genannt - 'die religiös kontemplativen Dimensionen'. Und dass man sich danach fragt, welche Formen, welche Methoden, um solche Ziele zu erreichen. Nicht nur in der Schule, sondern auch wenn eine Mutter mit ihrem Kind spricht. Erziehen als Ermutigung, als Trösten, als Zurechtweisen und so weiter. Also eine kleine Topografie davon, was man unter Erziehung versteht. Das finden sie auch sonst in kaum einen Handbuch."

    Die insgesamt mehr als 3.000 Seiten umfassenden drei Bände des Handbuchs "Erziehungswissenschaften" zeigen den Zusammenhang zwischen den vielen einzelnen Richtungen. Als deren gemeinsamen Gegenstand verstehen sie die Idee, die besten Saiten eines Menschen zum Klingen zu bringen. Mit dieser humanistischen Haltung forscht die Disziplin, wo sich gesellschaftliche Hemmnisse und Blockaden der Selbstentfaltung von Gruppen oder Milieus entgegen stellen und weist Perspektiven für die Veränderung durch pädagogisches Handeln. Das allerdings ist nicht die bestimmende Tendenz im gesellschaftlichen Diskurs über Bildung. Da sollen vor allem Ergebnisse gemessen werden.

    "Messen ist wichtig, aber die Ausdifferenzierung, wie man fördert, welche Entwicklungschancen wie entstehen, das ist das Interessante des Lernens, ob es mehr beziehungsorientiert abläuft oder selbst gesteuert, die Antworten haben wir noch gar nicht, und das sind eigentlich die zukünftigen Herausforderungen. Und dieses Handbuch eröffnet ein ganzes Panorama an Diskursen, und nun wird man sehen, was beim Generationswechsel auch der Lehrstuhlbesetzung auch da wirklich berücksichtigt wird."
    Mit einem wieder erstarkenden Selbstbewusstsein wenden sich die Herausgeber mit einem eigenen Teilband dem Thema Schule zu. Gerade diesen Lebensraum könnten innovative Ideen von Erziehungswissenschaften enorm bereichern, meint Gerhard Mertens.

    "Es müsste einerseits eine heutige Schule sich öffnen, wenn sie eine human-ökologische Schule ist: Sie müsste sich öffnen auf die unmittelbare Umgebung dieser Schule. Und umgekehrt müsste diese Lebenswelt auch in diese Schule selber hineinkommen und die Ziele müssten doch so sein, dass jene, die die Schule nach zehn oder zwölf Jahren verlassen, tatsächlich gefestigt sind als Persönlichkeit in dieser fragmentierten Gesellschaft und auch in diese hochanspruchsvollen Arbeitsmarktsituation sich zu bewähren. Und meine Befürchtung ist, dass wir zurzeit zu sehr intellektualisiert Sachen klären und für die Stärkung von Menschen keine Zeit mehr haben."

    Die Auswirkungen davon sind auch in der Erwachsenenbildung zu spüren. Die findet längst nicht mehr nur in klassischen Weiterbildungsinstitutionen wie den Volkshochschulen statt. Die Forschung bezieht auch informelles, selbst gesteuertes Lernen und die Personal- und Organisationsentwicklung in ihre Betrachtung ein. Dabei zeichnet die Weiterbildung aus, dass - anders als in Schule - Anbieter und Lehrende sowie Lernende in freiwilligen und kurzfristig ausgerichteten Suchbewegungen aufeinander zugehen, und dies in großer Freiheit. In einer Wissensgesellschaft allerdings kann Weiterbildung nicht mehr nur neben- oder nachberuflich erfolgen, meint Thomas Fuhr, Professor für Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Pädagogischen Hochschule Freiburg:

    "Wir brauchen auch in der Arbeitswelt, die Möglichkeit, Zeit uns frei zu nehmen für Bildung; sei, dass der Arbeitgeber anerkennt, dass wir auch lesen müssen und uns im Internet informieren müssen über neue Tendenzen, und es gibt immer mehr Lernen am Arbeitsplatz, dass also die Arbeitgeber es Menschen ermöglichen und sie auch dazu ermuntern in Zeiten, in denen die Arbeit vielleicht ein bisschen entspannter ist, diese Zeiten auch zu nutzen für die Informationssuche und für ihre eigene Weiterbildung bis hin zu zertifizierten Abschlüssen, die man auf diese Art und Weise erwerben kann."

    Thomas Fuhr ist verantwortlich für den Teilband zum Thema Erwachsenenbildung und Weiterbildung. Dabei geht es auch darum, was Menschen brauchen, um sich auf ein lebenslanges Lernen einlassen zu können; nämlich vor allem Zeit.

    "Wenn man untersucht, unter welcher Voraussetzung Menschen - sei es in die Volkshochschule gehen, sei es ein Zweitstudium machen oder später, viele fangen erst mit 30 ein Studium an und wenn man sich das anschaut - sieht man, der Zeitfaktor ist ein ganz zentraler, und die Menschen, die wenig Zeit haben, zum Beispiel Familien mit Kindern, nehmen auch nur ganz unterdurchschnittlich an Weiterbildungen teil und haben auch selbst das Gefühl, dass sie diesen informellen Bildungsleistungen nicht so verfolgen können wie sie das gerne würden."

    Inzwischen stellen sich etliche Bildungseinrichtungen auf diese Bedürfnisse ein; bieten auch Seminare mit Kinderbetreuung an oder Kurse vormittags oder am Wochenende. Gerade Eltern benötigen mehr Unterstützung, um Arbeit, Weiterbildung und Familienalltag miteinander zu verbinden. Familie wird zwar in der öffentlichen Diskussion kaum als Bildungsort wahrgenommen. Doch vor allem in ihr werden die für die persönliche Entwicklung relevanten Regeln, Handlungsstrategien und Beziehungsmuster gelernt.

    "Das ist die edelste Aufgabe immer noch, nur das wird gar nicht mehr betont heute, eine moralische Orientierung zu geben. Also den Kindern Regeln und Werte zu zeigen, sie einzuüben und sie dahin zu bestärken, selber eine moralische Orientierung später leben zu können und ein sicheres Urteil in diesem Bereich zu fällen. Únd das sind so Felder, die fehlen in der Forschung heute und die wir eben versuchen neu zu betonen."

    Hildegard Macha, Professorin für Pädagogik an der Universität Augsburg. Sie bearbeitete den Band, der sich den Themen Familie, Kindheit, Jugend, Gender zuwendet. Darin wird erstmals eine erziehungswissenschaftliche Theorie der Familie entwickelt.

    "Der ganze Ansatz, der in dem Buch tragend ist, ist der systemisch ökologische Ansatz; also die Familie als ein gemeinsames System zu sehen, dass eine Familienbiografie schreibt ist sozusagen der Leitgedanken in dem gesamten Buch."

    Unabhängig davon, in welcher Form wenigstens zwei Generationen zusammenleben, formen sich in einer Familie gegenseitig verbunden und voneinander abhängige biografische Identitäten. Daraus entsteht - wie Macha es nennt - ein "gemeinsames narratives Patchwork von Erleben und Erinnern" aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Tochter sieht die gleiche Konstellation anders als der Vater. Gerade diese innere Dynamik und Kokonstruktion hält Familie auch angesichts der Wandlungen in der Gesellschaft zusammen und prägt überdauernde Bindungen. Familie bleibt immer bestehen. Dabei ist in dieser erziehungswissenschaftlichen Beschreibung Familie nicht länger eine natürlich gegebene Ressource oder isolierte Keimzelle der Gesellschaft, in der die Erziehung und Bildung der Kinder als Privatsache verhandelt werden kann. Vielmehr formulieren die Autoren:

    "Eine neue Vision von Familie als Ko-Konstruktion gibt die Abgeschlossenheit der Kernfamilie auf zugunsten einer Integration von Familie in die gesellschaftlichen Netzwerke und ergänzt die Privatheit der Familienaufgaben durch Netzwerke mit Dienstleistungen, die sich jedoch der Erziehungs- und Bildungsaufgabe der Eltern unterordnen und nach Wahl hinzugezogen werden können."

    Mit anderen Worten: Familie ist nicht nur privat. Was in der Familie passiert, hat gesellschaftliche Folgen. Ein historischer Rückblick erinnert: Familie war bis in das 19. Jahrhundert hinein ein plurales Modell und gleichbedeutend mit "das ganze Haus". Unter einem Dach arbeiteten und lebten Bauern- beziehungsweise Handwerksfamilie in verschiedensten Modellen, und die Kinder erlebten ungefiltert die Welt der Erwachsenen. Erst die Kaufleute und höheren Beamten schufen die Familie als Erziehungsinstitution und die dazu gehörige Rollenteilung der Geschlechter, und auch die Erziehungswissenschaften schrieben seit der Aufklärung der Frau die unbezahlte Fürsorge für die Kinder als natürliche Aufgabe zu. Männer orientierten sich seitdem an Individualität und Leistung, und das wirkt bis in die Gegenwart in die Beziehungen hinein.

    "Das Gespräch zwischen den Partnern ist der Punkt, der sehr problematisch ist heute."

    Im Verhältnis zu den Kindern wurden viele Familien inzwischen zu Verhandlungshaushalten. Die Mädchen und Jungen dürfen daheim in vielen alltäglichen Angelegenheiten mitreden, werden gefragt und dabei teilweise auch überfordert. Für das Gespräch zwischen den Partnern allerdings fehlt oft noch die notwendige emotionale Offenheit. Dabei wandelt sich die Familie von der Geburt eines Kindes bis zu dessen Auszug unentwegt. Unzählige kommunikative Aushandlungen führen die Eltern darüber, wie Fürsorge und Gerechtigkeit verstanden wird. In der Hoffnung, die Rollen zwischen Müttern und Vätern gerechter zu teilen, werden dabei heute vorschnell die unterschiedlichen Bedürfnisse zwischen den Geschlechtern und den Generationen geleugnet; ohne dass sich dadurch die Geschlechter besser verstehen. Frauen und Mütter brauchen deshalb vor allem eine andere Bewertung der überwiegend von ihnen geleisteten, anstrengenden Fürsorgearbeit.

    "Und die Väter wiederum leiden darunter, dass sie zu wenig in die Entscheidungen der Familie und in die Alltagsabläufe mit den Kindern einbezogen sind. Sie möchten viel mehr in das Innere der Familie hineinkommen, mit Entscheidungen treffen, wieder ein Vorbild sein, und sie wiederum haben das auch nicht gelernt in ihrer Sozialisation. Sie lernen nur, für ihren Beruf zu planen, aber nicht für die Familie. Und das ist das große Dilemma der Paare heutzutage."

    Ein ganzes Panorama von überlegenswerten Themen eröffnet dieses Handbuch. Aus natur- und kultur-anthropologischer, neurophysiologischer und biologischer Perspektive fundieren die Erziehungswissenschaftler wie bei der Erwachsenenbildung und der Familienerziehung an vielen Punkten ihre Positionen. In der Erwachsenenbildung, in der es auch um die Grenzen der Belastbarkeit angesichts der Anforderungen in der Leistungsgesellschaft geht, tun sich dabei neue Schnittstellen zur Gesundheits- und Umweltbildung auf. Bereits jetzt beobachten die Wissenschaftler, dass in der Freizeit vor allem die emotionale, körperliche, spirituelle Vervollkommnung gesucht wird.

    "Sie können das nachlesen, nachschauen, dass die Gesundheitsbildung in der Erwachsenenbildung und sonst, nicht im Sinne von Sport im engeren Sinne, immense Nachfragen hat, seit den 80er-Jahren. Die Bevölkerung weiß intuitiv offensichtlich in vielen Teilen, das kann man in der Programmforschung gut nachvollziehen. Sie schützen sich selbst gegen Überforderung, gleichen sich selbst ihren Haushalt aus und fragen das in klassischen Erwachsenenbildungsinstitutionen nach oder in modernen Vereinen, GmbH. Und das sind Verschiebungen. Für viele klassische Erziehungswissenschaftler sind das eher unangenehme Felder, dass das dazugehören soll. Aber wenn eine Disziplin auf Gestaltung, Reaktion auf Veränderungen in der Gesellschaft eingeht, auf Nachfrage nach bestimmten Kompetenzen - deshalb ist der Kompetenzbegriff so stark - bekommt man mit, was notwendig ist, um sich körperlich, leiblich, geistig in dieser Zeit zu stabilisieren. Wenn das nicht wäre, dann wäre eine Disziplin tot."

    Wie lebendig die Erziehungswissenschaften sind, kann man beim Thema Medienwelten und ihre Bedeutung auch für das Lernen ebenso nachlesen wie beim Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt und Internationalisierung, den Themen ökologischer Bildung und Nachhaltigkeit. Wer sich über den Stand der Forschung in dem Fach übergreifend und fern von ideologischen Debatten informieren will, der wird auf diese drei Bände des Handbuchs Erziehungswissenschaften zurückgreifen müssen. Der Gebrauchswert dieses gut lesbaren, informativen und anregenden Kompendiums stiege dabei allerdings enorm, würde der Verlag zusätzlich noch ein schmales Bändchen mit einem Autoren- und Sichtwortverzeichnis vorlegen.

    "Handbuch der Erziehungswissenschaften, im Auftrag der Görres-Gesellschaft"
    Herausgegeben von Gernhard Mertens, Ursula Frost, Winfried Böhm, Volker Ladenthin
    Schöningh Verlag
    108, 118 und 108 Euro