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Alles über Franz

Knapp zwei Monate vor Franz Kafkas 125. Geburtstag widmet München dem Schriftsteller schon einmal eine Ausstellung, die das aus Kafkas Werk destillierte Kafka-Bild über den Haufen wirft. Das Literaturhaus ist mit 140 Fotografien des Schriftstellers bestückt und räumlich gegliedert wie die elterliche Wohnung damals in der Prager Niklasstrasse.

Von Bernd Noack |
    "Ich denke mir manchmal: Kafka würde jetzt auf die Welt kommen, noch einmal, und würde unter uns wandeln. Er wäre äußerst erstaunt über die Wellen, die sein kurzes irdisches Wirken geschlagen hat, und er würde gar nicht glauben, dass sich das auf ihn bezieht, wie ich ihn kenne","

    mutmaßte Max Brod, der lebens- und werkvertraute Freund Franz Kafkas, 1968 in einem Fernseh-Interview. Stellen wir uns also einmal vor: Kafka geht in diesen Tagen ins Literaturhaus in München. Sicher, er wäre äußerst erstaunt: Überall würde er dort auf sich selber und seine Welt von gestern stoßen. Überall Fotografien, aufgereiht wie gerahmte Erinnerungen auf dem Kaminsims: Sie zeigen ihn vom Baby bis zum reifen jungen Mann.

    Auf ihnen sähe er Prag, sein überschaubares Universum, oder die ländlichen Stationen seiner letztlich ergebnislosen Genesungsreisen, seine Wohnungen, aus denen er immer wieder flüchtete. Seine Handschrift sähe er, seine Zeichnungen. Die Fotos zeigen die Familie, im Mittelpunkt den Vater, den Seelen-Tyrann - chronologisch, wie der sehnsüchtig liebende Dichter es bestimmt selber nicht mehr auf die Reihe gebracht hätte -, dann die vielen Frauen seines kurzen Lebens, die Damen und Halbwelt-Geliebten, die Angebeteten, Verstoßenen, Unerreichbaren, mit Liebe und Zweifeln Verfolgten.

    In einem Video-Raum stünde er dann vor einer Leinwand wie in den Kinematographen, die ihn so faszinierten. Er sähe den Freund Max Brod überlebensgroß sitzen, Zigarette in der Hand. Aber der spricht nun nicht zu, der redet über ihn:

    ""Er war nicht so depressiv, wie er heute gesehen wird, aber Frohnatur kann man ihn nicht nennen. Er war, wenn man mit ihm allein war oder in einem kleinen Kreis, von einer bezaubernden Witzigkeit und Spritzigkeit. Aber in großer Gesellschaft verstummte er. Einer seiner tschechischen Freunde bezeichnete ihn mal mit dem sehr prägnanten tschechischen Wort, das heißt 'Ruhe'. Also, man müsste das so ins Deutsche übersetzen: Er war ein großer Schweigerich.

    Aber unter vier Augen oder in unserem kleinen Kreis von vier Menschen und acht Augen, war er sehr lebhaft und auch aggressiv. Wenn ihm etwas nicht gefiel, so nahm er kein Blatt vor den Mund. Allerdings, das äußerste ablehnende Wort, das ich von ihm gehört habe, war ein charakteristisches 'abscheulich'. Zu einer stärkeren Invektive habe ich ihn nie greifen gehört."
    Kafka wäre gewiss verwirrt ob des Aufsehens um und des Nachforschens über seine Person. Aber im Literaturhaus würde er sich dann doch auch wieder auskennen, ein wenig zuhause fühlen: die Ausstellung, die mit 140 Fotografien aus der unerschöpflichen Sammlung des Kafka-Forschers Hartmut Binder bestückt wurde, ist räumlich gegliedert wie die elterliche Wohnung damals in der Prager Niklasstrasse. Und damit hat sie auch den Grundriss, der dem Leser aus der "Verwandlung" vertraut ist, wo sich Gregor Samsa im Zimmer verschanzt.

    Somit wagt die Münchner Schau erneut die Grenzüberschreitung, ohne die man bei der Beschäftigung mit Kafka nicht mehr auskommt: den permanenten Wechsel von der realen Welt des Dichters in die fiktive seiner Romane und Erzählungen - und zurück. Der Betrachter, ausgestattet mit einem allwissenden Audio-Guide - der "Schweigerich" Kafka würde sich das sprechende Gerät verstört vom großen Ohr halten - , wird zum Voyeur einer Existenz, die freilich schon den engsten Freunden zu Lebzeiten des Dichters weitgehend verschlossen blieb.

    "Ein 22-jähriger Umgang, wie ich ihn mit ihm gehabt habe, bei dem wir uns täglich gesehen haben, manchmal zweimal im Tag, ist sicher eine Brücke zu dem Geheimnisvollen, das bei all dem sicher in Kafka geblieben ist, dem Rätselhaften, Unenträtselbaren, das schließlich im Individuum eines jeden Menschen, aber eines hochentwickelten Menschen ganz besonders, steckt","
    sagt Max Brod zwar. Aber auch ihm bleibt schließlich nichts anderes übrig, als Franz Kafka, den sich Wissenschaft und Leser gerne als geheimnisvoll und rätselhaft bewahren möchten, auf einen banalen Wesenszug zu reduzieren:

    ""Er nahm eben alles schwer. "

    Und so ist auch diese Ausstellung ein ebenso magisches wie zweifelhaftes Vergnügen. Sie will uns zu intimen Zeugen eines Lebens machen (und das gelingt ihr!), von dem wir beanspruchen, dass es wie ein offenes Buch vor uns liegen darf. Die Gefahr, dass unser fest geprägtes Kafka-Bild dabei verrückt und auf den Kopf gestellt werden könnte, haben wir längst neugierig akzeptiert. Es geht anscheinend nunmehr darum, immer mehr Details aus diesen 41 Jahren eines Einzigartigen zu erfahren.

    Die literarischen und biografischen "Feierlichkeiten" zum anstehenden 125. Geburtstag im Juli versprechen Befriedigung und lassen Übersättigung befürchten. Die Ergebnisse bewegen sich schon in München zwischen charmant und ernüchternd. Wenn etwa Alice Herz-Sommer, die heute über 100-jährige Schwägerin des Kafka-Freundes Felix Weltsch, in einem weiteren Video von "Franz, dem herrlichen Kerl" spricht, der stets wie ein Kind geschaut hätte, das die Welt gerade entdeckt, dann trägt sie auch bei zur Entzauberung dieser widersprüchlichen Figur, wie es Max Brod tut, der das Visionäre in Kafkas Werk ein wenig zurechtrückt.

    "Gerade mit dem Prophetischen: Es finden sich ja Themen im 'Prozess', die dann später Wirklichkeit geworden sind. Es finden sich unter seinen Tagebuchaufzeichnungen Berichte, die wie Berichte aus dem Krieg klingen und vor dem Krieg geschrieben sind. Und einmal schildert er sogar eine Deportation, den Schmerz der Kinder, die Verzweiflung der Eltern, es bricht dann ab -das klingt wie seherische Vision dessen, was dann später geschehen ist. Aber es war eine intuitive Anlage, er hat aus seinem Sehertum nicht etwa einen Beruf oder ein Hauptanliegen seines Lebens gemacht."
    Aber dann sagt Max Brod doch noch einen Satz, der wie eine Absolution klingt für alle, die es wieder nicht lassen konnten und weiterhin nicht lassen können, in die privaten und literarischen Welten des Prager Dichters abzutauchen. Und man ist traurig neidisch auf den Freund, der an der Zigarette zieht und versonnen einen Zeitsprung macht:

    "Ich glaube nicht, dass es ein Vorteil ist, Kafka nicht gekannt zu haben."