Angestellt bei einer Bank, ist Thomas Schwarz stellvertretender Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung. D. h.: Er sorgt für die termingerechte und unerbittliche Eintreibung der fälligen Kredite, auch wenn er damit ganze Familien in den Ruin stößt. Wer Hilfe braucht, hat keine verdient, heißt eine seiner neodarwinistischen und umstandslosen Maximen.
Thomas Schwarz ist zunächst wie wir alle - nichts weiter als Träger einer Versicherungsnummer. Darüber hinaus aber ist er drinnen: jung, verheiratet, erfolgreich und gutaussehend. Also einer, wie es sie heute viele gibt, ein schablonierter Business-Typ, ein Mensch ohne nennenswerte Biographie, smart, eitel und brutal in einem. Kein Einzelfall, sondern ein typischer Vertreter der Ich-Gesellschaft, ein Produkt des Turbo-Kapitalismus. Sein einziges Interesse gilt dem Fortgang der Karriere: Schwarz will vom stellvertretenden Leiter zum Leiter der Abteilung Abwicklung und Verwertung werden:
"Das würde bedeuten: hundertzwanzigtausend Fixgehalt plus Tantieme plus Dienstwagen (BMW der 3er-Klasse). Und das wäre gut."
Mein Auto, mein Haus, mein Schiff - ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Schwarz ist herablassend, voller Verachtung für die, die als Vorfall auf seinem Schreibtisch landen: die säumigen Zahler und Schuldner. Alles, was in seiner Umgebung passiert, wird von Schwarz beobachtet, analysiert und bilanziert. Er ist drinnen d. h. er sitzt hinter der Fassade, hinter jener virtuellen, weil auf Blendung basierenden Welt, die sich draußen als reale ausgibt eine Farce -, und von seinem Bürostuhl aus sieht er das Geschehen, wie es wirklich abläuft. Und es läuft so ab: die meisten brauchen Geld, und die anderen wenigen geben es ihnen in dem zynischen Wissen, daß es nie zurückbezahlt werden kann. Die moderne Form der Versklavung. Schwarz befindet sich auf der Seite der Mächtigen und registriert die Ohnmächtigen, wie ein Biologe die Mikroben unter seinem Mikroskop beobachtet. Doch er kämpft eigentlich gegen zwei Seiten, gegen unten und oben: denn er unterzieht auch die Bürokultur die eigentliche moderne Pest - einer genauen Analyse, beobachtet die, die mächtiger sind als er, ihre Rituale, Unverschämtheiten, Demütigungen.
"Endlich kommt ihr Anruf. Natürlich hat sie nicht einfach zum Hörer gegriffen und meine Nummer gewählt. Ihre Sekretärin hat meine Sekretärin angerufen und ihr gesagt, Rummenich wolle mich sprechen, woraufhin meine Sekretärin mich mit ihrer Sekretärin verbunden hat, die mich in herablassendem Ton hat wissen lassen: "Einen Augenblick, Frau Rummenich will Sie sprechen", um mich dann auf die Warteschleife zu schalten. Minutenlang lausche ich einer abscheulichen Einspielung von Vivaldis "Vier Jahreszeiten", bis sie sich meldet, mit einem kurzen, hochfahrenden "Ja!", als hätte ich sie gerade aus einer Arbeit gerissen, die weit wichtiger ist, als es mein Anliegen je sein könnte."
Marianne, die Ehefrau von Thomas Schwarz, arbeitet bei einer Werbeagentur nur folgerichtig in einer Welt, in der der Tauschwert den Gebrauchswert dominiert. Auch sie ist ehrgeizig, und vielleicht ist es überhaupt der Ehrgeiz, der die beiden noch zusammenhält. Im Grunde leben beide nebeneinander her, in einem Kokon milder, eingefahrener Zufriedenheit zwischen Konvention und Karriere, zwischen Langeweile, Hetze und Überarbeitung. Vielleicht ein bißchen so wie in der AOL-Fernsehwerbung, nur nicht ganz so hübsch ausgeleuchtet. Dazwischen gibt es kleinere und größere Streitereien, Avocado-Salat in der Küche, den lästigen Besuch der Tante und gelegentlichen Essen, zu denen Marianne ihre Arbeitskollegen einlädt aus strategischen Gründen, wie sich versteht.
Und dann, von einem Tag auf den anderen, gibt es ein doppeltes Drama: Thomas Schwarz wird von einer unsympathischen und resoluten Dame namens Rummenich plötzlich selbst abgewickelt, von einer Frau, die man ihm ein halbes Jahr zuvor vor die Nase gesetzt hat. Der Weg nach draußen stellt sich als viel kürzer heraus als gedacht. Und beinahe gleichzeitig wird auch Marianne entlassen, die sich bei einer von ihr zu verantworteten Werbekampagne einen unverzeihlichen Fauxpas geleistet hat.
Jetzt, wo sich die ungeheure Brüchigkeit einer Existenz erweist, die dem Terreur der Ökonomie nichts entgegenzusetzen hat die nicht weiß, was sie jenseits eines ewigen "nach oben!" noch mit sich anfangen könnte jetzt geht alles sehr schnell: Marianne zieht aus, die Ehe verliert, was sie nie besessen hat Halt und es dauert nicht lange, da findet Thomas Schwarz - ohne Boden unter den Füßen, emotional verwahrlost - sich im kriminellen Milieu wieder, ein Abzocker unter Abzockern, gewissermaßen im gleichen Status wie drinnen, nur auf der anderen Seite, also eben draußen. Was passiert, ist eine stille, nahezu lautlose Art des Amoklaufs. Ein hilfloser Rachefeldzug. Schwarz dreht einen riskanten Coup, flüchtet mit einer käuflichen Blondine nach Monte Carlo und setzt dort alles Geld auf die Null. Er versucht, loszuwerden, was er nach eigenem Dafürhalten ohnehin nie besessen hat: eine Identität.
"Wir werden die hundert Meter zum Casino in dieser Limousine zurücklegen, dort wird sie vor das imposante Portal rollen. Das dortige Personal wird in der von ihm erwarteten Demut herbeispringen und uns die Türen öffnen. Wir werden aussteigen und dabei das herrliche Lächeln von künftigen Königen auf unseren Gesichtern tragen. Durch riesige Portale und Hallen werden wir schreiten, unter den neugierigen und bewundernden Blicken aller Anwesenden. Ich werde Jetons kaufen. Mit der größten denkbaren Beiläufigkeit werde ich für dreihunderttausend Mark Jetons kaufen. Dann werden wir uns einen Spieltisch aussuchen. Den, an dem sich die meisten Spieler befinden. Beim nächsten Spiel werden wir das Maximum auf die Null setzen. Wie hoch ist das Maximum in Monte Carlo? Zehntausend? Zwanzigtausend? Egal. Wir werden auf die Null setzen. Immer auf die Null. Den ganzen Abend lang. So lange, bis die dreihunderttausend weg sind. Dann werden wir die Hallen mit dem gleichen königlichen Lächeln wieder verlassen, mit dem wir sie betreten haben."
Georg Oswald hat mit "Alles was zählt" ein intelligentes und amüsantes Buch geschrieben das Porträt eines Menschen, dessen innere Verfassung sich nicht wesentlich unterscheidet von der Einrichtung eines modernen, zwischen Schäbigkeit und Chickheit merkwürdig unentschiedenen Büros. Was altmodisch innerer Reichtum heißt, ist hier so verarmt wie ein Bürokomplex. Hier, in dieser inzwischen alles beherrschenden Welt des Angestellten, regiert die Bilanz und die Kalkulation, der Schweiß, der Teppichboden und das Flimmern der Monitore. Und das fruchtlose Denken an das Vorankommen. Wenn die Null jene rätselhafte Zahl ist, die Rechnen überhaupt erst ermöglicht, so ist es nur logisch, wenn Thomas Schwarz am Ende alles auf eben diese Null setzt. Die Null legt das Wesen aller Tauschverhältnisse blank.
Irgendwie erinnert der Roman an Kracauers "Die Angestellten" ist sozusagen dessen romaneske Erneuerung. Dabei bleibt der Text aber - auch wenn seine Lektüre Spaß macht merkwürdig harmlos. Der Hauptfigur fehlt es, superaltmodisch gesprochen, an wirklicher Bosheit oder Abgründigkeit. An Dreidimensionalität. Sie fühlt sich an wie eine Figur aus einer gewagten ZDF-Vorabendserie. Das soll nicht unbedingt ein Einwand sein. Es soll sagen: Ein gelungenes Porträt des Bürostandorts Deutschland.