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Allgäuer Alpen
Gigantischer Felssturz am Hochvogel erwartet

In den Allgäuer Alpen steht ein Naturschauspiel von verheerender Zerstörungskraft bevor: Der Gipfel des Hochvogels - 2592 Meter hoch - bricht auseinander. Schon jetzt klafft ein riesiger Felsspalt im Gestein. Bis zu 260.000 Kubikmeter Fels könnten ins Tal stürzen. Geologen überwachen den Berg.

Von Susanne Lettenbauer | 23.11.2018
    Der metergroße Spalt auf dem Gipfel des Hochvogels im Allgäu
    Der metergroße Spalt auf dem Gipfel des Hochvogels im Allgäu (picture alliance / Florian Mädler)
    In der Nacht hat es gefroren in Hinterstein, die Hänge des schmalen Allgäuer Tals glitzern vom Rauhreif, ganz oben auf den Bergen liegt Schnee. Wie ein riesiger sitzender Adler wirkt der Hochvogel aus der Ferne, deshalb der Name:
    "Man kann sagen, der Hochvogel ist das Matterhorn der Allgäuer Alpen",
    erklärt Heimatforscher Wolfgang Keßler stolz. Jedes Jahr kommen Tausende Wanderer auf die Prinz-Luitpold-Hütte, das Basislager des Alpenvereins vor dem Aufstieg auf 2.600 Meter Höhe.
    Leben im Schatten des Hochvogel
    Dort, wo man nur noch zu Fuss weiterkommt Richtung Hochvogel, wartet der alte Bergführer Heinrich Besler:
    "Mein großer Bruder, der 15 Jahre älter war, wir waren zehn Kinder, ich bin der Kleinste, der hat mich damals mit drei Jahren auf den Berg getragen."
    Mit fünf Jahren stieg der heute 85-Jährige zum ersten Mal selbst hinauf, teilweise barfuss. Über Geröllhalden, Schotterstrecken und Schneefelder. Mittlerweile hält er den Rekord von über 300 Gipfelbesteigungen, mit und ohne Gästen aus aller Welt. Die große Spalte, die jetzt Wissenschaftler und umliegende Dörfer elektrisiert, kennt er natürlich. Er hat oft zum Schutz vor Wind und Wetter da drin gesessen:
    "Hab gleich meinen Rucksack da hingepackt, bin die zwei Meter runter und hab da meinen Sitz gehabt."
    Felsspalte seit fast 200 Jahren bekannt
    Angst vor einem Auseinanderbrechen des Berges, wie es jetzt befürchtet wird, habe er nie gehabt. Die Spalte ist seit der Erstbesteigung im 19. Jahrhundert bekannt. Dass sie sich jeden Monat um mehrere Millimeter auseinander bewegt, sei ihm vor 30 Jahren das erste Mal aufgefallen, den erst seit 2014 offiziell gesperrten Wanderweg auf der österreichischen Seite mied er seitdem. Er warb beim Alpenverein für eine kontrollierte Sprengung, zumindest des oberen Bergabschnitts. Keine Reaktion.
    "Da haben sie mich, ich will sagen, belächelt, nicht ausgelacht, und heute ist das das Thema."
    Hightech-Überwachung am Berg
    "Man sieht hier, wir haben Sensoren eingebaut, das sind lange Röhren, die sind über drei Meter und überbrücken den Spalt und die können in Hundertstel Millimeter messen. Davon haben wir zehn Stück oben und wir sehen jetzt hier die neuesten Messungen."
    In München beobachtet Michael Krautblatter vor seinem Monitor die Bewegungen des Hochvogels. Die seismografischen Kurven seines Projektes AlpSenseBench zeigen rote Striche für eine Erwärmung des Berges und blaue für die Abkühlung. Und jedes Mal wird der Spalt ein Stück breiter. In den vergangenen Monaten wurde der Berg komplett verkabelt, Sensoren kontrollieren jede Bewegung des Gesteins.
    "Das Schöne am Hochvogel ist, dass jeder, der darauf schaut, sofort sieht, wo sich der Berg spaltet. Er sieht ja aus wie das Matterhorn und spaltet sich wirklich in der Mitte durch."
    Ein Forscherteam bei der Arbeit auf dem 2592 Meter hohen Hochvogel
    Im Allgäu droht riesiger Felssturz (picture alliance / Florian Mädler)
    Momentan ist der Riss gut 40 Meter lang, acht Meter tief und drei Meter breit. Und er wächst stetig. Noch nie hatte man die Gelegenheit, solche Bergbewegungen zu dokumentieren, berichtet der Professor für Hangbewegungen an der Technischen Universität München. Im Internet kann es jeder auf der Plattform Vimeo per 3D RealityMaps anschauen:
    "Womit wir rechnen, ist, dass zwei, drei Tage, bevor es passiert, eine Beschleunigung passiert, das heißt, dass wir von einem Zentimeter pro Tag, einem Zentimeter pro Stunde reden. Und in dieser Zeit würden wir direkt nochmal warnen. Denn das Problem ist, es gibt generelle Sperrungsschilder seit drei, vier Jahren, es halten sich nicht alle an diese Weggebote."
    Immer häufiger kommt es in den Alpen zu Felsabgängen und Bergstürzen, sagt der Wissenschaftler. Das liege an der Erwärmung der Berge, dem Auftauen des Permafrostes. Das Gestein lockere sich dadurch. Deshalb hofft er, künftig weitere Berge verkabeln zu können, bei denen Bergbewegungen gemessen werden.
    Gigantischer Felssturz in naher Zukunft
    Kommt es zum "worst case scenario" am Hochvogel, könnten bis zu 260.000 Kubikmeter Fels ins Tal poltern. Eine riesige Staubwolke wäre die Folge, die sich über das gesamte Tal ausbreiten könnte. Für die Bevölkerung bestehe, so die Einschätzung der Behörden, allerdings keine Gefahr. Die einzig bewirtschaftete Schutzhütte in Nähe des Hochvogels, das Prinz-Luitpold-Haus, liegt - im wahrsten Sinne des Wortes - zu weit weg "vom Schuss". Tobias Hipp, Geowissenschaftler vom Deutschen Alpenverein und zuständig für die Wegesicherung, zeigt sich erleichtert:
    "Also momentan ist der Weg von Norden über das Prinz-Luitpold-Haus nicht gesperrt und nicht gefährdet. Also die gibt es keine Gefährdung, da können Wanderer laufen. Von Süden ist es gesperrt, also von Tiroler Seite."
    Der Berg bricht - der alte Bergführer Heinrich Besler nimmt es ziemlich gelassen. Was kommt das kommt, sagt er. Und fügt hinzu: Vor einer Weile wurde am Hochvogel eine weiße Gams entdeckt. Sie sei erschossen worden, ein Tabu seit Jahrhunderten. Einer alten Berglegende nach gibt es kurz darauf einen Todesfall.