Im Allgäu leuchtet es – von den Sonnenhängen am Bodensee bis zu den saftig grünen Almweiden der Voralpen. Nicht nur die Apfelplantagen protzen prall mit Früchten, auch die knorrigen Stämme der Streuobstwiesen tragen schwer an ihrer Ernte.
Die Zeit ist reif. Aus den Scheunen riecht es bereits nach Heu und vergorenem Obst. Die Äpfel werden dunkel eingelagert, zu Saft gepresst oder zu Kompott gemacht, zu Most gegoren oder zu Schnaps gebrannt. Die Birnen gedörrt oder in Birnenbrot eingebacken, die Zwetschgen zu Muss verarbeitet, die Hagebutten zu Tee, Vogelbeeren und Holunder als Marmelade eingekocht.
Im Allgäu sind viele dieser überlieferten Bräuche noch lebendig – gerade an den unwirtlichen, abgeschiedeneren Orten. Die Natur sei schließlich die Apotheke Gottes, sagt man im Allgäu.
Bärbel Bentele sagt das nicht. Sie geht auch nicht mit Stock und Hut raus in die Natur, sondern steigt in die Berge wie auf den Dachboden ihrer Großmutter. Auch dort findet sich schließlich alles, was man braucht – solange man nur die Geduld hat zu suchen.
Barfuß steht die zierliche Frau am Herd und legt Holzscheite nach. Die langen, blonden Haare fallen ihr offen auf die Schultern. In der Spüle stapelt sich ein Heer leerer Flaschen und Weckgläser, alles steht bereit zum Abkochen und Einmachen.
"Ich finde, heuer sind noch ein paar mehr wieder dazu gezwungen worden. Das war ein bisschen so eine Stimmung wie im Märchen: So wie bei Frau Holle. Weil wirklich die ganzen Bäume, alles gerufen hat: Rüttle mich und schüttle mich, wir sind reif, mach was aus mir."
In der Stube ist es warm, es riecht nach selbst gebackenem Zwetschgenkuchen. Die beiden Söhne von Bärbel Bentele sitzen still am Küchentisch, vertieft in ihre Hausaufgaben.
"Natürlich stehst du den ganzen Tag am Herd, aber du bist froh müde am Abend. Du hast was geschaffen. Das gibt dir eine ganz große Zufriedenheit. Und es verbindet einen auch mehr mit der Heimat."
Bärbel Bentele wischt sich die verschwitzten Hände an der Schürze ab, dann greift sie zum Thermometer. Auf dem alten Küchenherd simmern zwei riesige Emailtöpfe mit Apfelsaft vor sich hin.
"Auch die Holunderbäume bei uns, die hängen schwer runter. Ich habe letztens gelacht, weil die Frau in Stiefenhofen in ihrem kleinen Laden, die hat Gläser verkauft en masse und die Dinge zum Einkochen. Es ist grundsätzlich etwas rückläufig. Es hat ja auch nicht jeder mehr alles da. Die Streuobstwiesen sind zurückgegangen. Und natürlich, man kann es ja auch viel einfacher kaufen im Geschäft. Aber wenn man es selbst macht, dann spürt man, dass es eine ganz andere Wertigkeit hat."
Mindestens 80 Grad muss der Saft heiß sein. Schon ihre Großmutter hat auf diese Weise Apfelsaft haltbar gemacht, erzählt die 42- Jährige. Ihre Mutter aber hat eines Tages angefangen, den Saft im Supermarkt zu kaufen.
"Man darf den Vorgängergenerationen das nicht übel nehmen, wo einfach nur der Not entronnen sind. Und in den Bergen war es nie leicht. Weil du hast immer gegen die Wildnis, gegen die ganze Naturgewalt im Allgäu – mein Gott, wir haben nun mal das halbe Jahr Winter. Also ich denke einfach, wo der Fortschritt gekommen ist, da war das damals für die Menschen schon eine Sehnsucht: Die haben sich einfach mehr Freizeit, mehr Erleichterung von dieser Schwere weg zu kommen."
Dennoch haben Mutter und Großmutter das Wissen, all die Bräuche ganz selbstverständlich an sie weitergegeben. So wie die Hühner oder das Spinnrad. Darüber ist sie heute froh. Heute.
"Also wir sind immer zum Kräutersammeln gegangen, wenn andere ins Schwimmbad gegangen sind. Weil ich war die Jüngste von den ganzen Kindern, meine Mama kann gar nicht schwimmen. Und da habe ich das nicht immer so toll gefunden, dass ich jetzt nicht ins Schwimmbad kann und auf so einen Berg muss und was sammeln muss."
Und noch heute lebt sie wohl zu eng mit und von der Natur, um sie verklären zu können. Ihr Wissen um die Heilkraft der Pflanzen gibt Bärbel Bentele als Wildkräuterführerin weiter – auch wenn sie sich selbst vermutlich nie so nennen würde.
"Wenn man das im Film immer so sieht, wie sie da so laufen mit ihren Körben, da habe ich mir oft gedacht: Die Realität ist oft anders. Natürlich, wenn man es erzählt, dann hast du die Romantik gleich da. Aber wenn du halt musst - dann regnet es oder du kochst den ganzen Tag Apfelsaft ein. Und in drei Monaten kippt er dir oder fängt an zu gären. Und dann denkst du: Warum mache ich das Ganze?"
Vielleicht, weil sie so ungern einkaufen geht. Und vielleicht auch, weil dem Apfelsaft aus dem Supermarkt DIE eine Birne fehlt, die Bärbel Bentele immer noch dazu gibt. Oder einfach für diesen Moment, wenn die Nachmittagssonne durch das Fenster über der Spüle scheint und die Flaschen mit dem eigenen Saft golden leuchten lässt.
"Das wächst einfach neben dem Haus. Und das Schöne ist: Wenn man noch ein bisschen von dem Wissen hat, was im Garten wächst, was um einen herum steht, dann gibt es dir eine Art von Freiheit. Also für mich ist das eine Art von Freiheit, wenn ich hinausgehen und sagen kann: Dies und dies nehme ich, das kann ich verwenden. Alles, was einen Nutzen hat, macht einen Sinn."
Sieben Wanderwege zu den schönsten Streuobstwiesen zwischen Bodensee und Alpenvorland hat der Bund Naturschutz in Bayern nun für die Gäste der Region ausgewählt. Jede der sieben Routen hat dabei ihren speziellen, ortstypischen Schwerpunkt: Mal geht es um Streuobst in den Hochlagen, mal um Bienen, Most und Brennereien. Am Wegesrand stehen Infotafeln, auf denen verschiedene Aspekte der Streuobstwiesen erklärt werden. Und ein Wanderführer listet die Adresse von Höfen am Wegrand auf, in denen man einkehren und hausgemachte, regionale Produkte kosten kann.
Wie in der Schwatzenmühle bei Lindau zum Beispiel, der Mosterei von Christian Knaus. Jeder, der Obstbäume in seinem Garten, Hof oder Feld hat, kann hier seine Ernte zu einem rentablen Preis abgeben – oder den Saft aus den eigenen Äpfeln wieder mit nach Hause nehmen. Auf Wunsch auch pasteurisiert oder zu Most veredelt.
"Es gibt schon eine Mindestmenge: Mit drei Äpfeln ist es ein bisschen wenig. Aber ab 20, 30 Kilo kann er zu uns kommen und sagen: Ich möchte den Saft genau dieser Äpfel – und dann pressen wir ihm den. Natürlich geben wir Empfehlungen, wie man den Saft noch besser gestalten kann. Weil meistens, wenn man nur einen Baum hat zu Hause, dann ist es auch nur eine Sorte. Und vom Geschmack her ist eine Mischung zwischen süß und säuerlichem Apfel die bessere Variante."
Aus 100 Kilo Äpfeln, erzählt Christian Knaus, lässt sich rund 75 Liter Saft produzieren, den Trester wiederum holen sich die Jäger ab, um ihn ans Wild zu verfüttern. Auch Most, also Apfelwein, stellt die Mosterei Knaus her.
"Früher hat man ja hauptsächlich Most produziert. Den hat man einlagern können, den hat der Bauer dann im Keller eingelagert und dann während des ganzen Jahres alkoholische Getränke konsumieren können. Und große Bauernhöfe haben dementsprechend 1.000, 2.000 Liter Most produziert – und für die Feldarbeit gibt’s eigentlich nichts Besseres wie ein durstlöschendes Getränk."
Gespritzt mit Brunnenwasser bekommt man den Most noch heute in den sogenannten "Rädlewirtschaften". Auch auf dem Hof von Christian Knaus hängt ein solches Wagenrad aus Holz, das anzeigt, dass hier der Bauer gerade selbst hergestellte Produkte zu verkaufen hat. Überall entlang der Streuobstwanderwege finden sich diese Besenwirtschaften und laden durstige Wanderer zur Rast ein.
Seit mehr als 150 Jahren prägen Streuobstwiesen die Landschaft am Bodensee und im Westallgäu. Robuste Obstbäume mit hohen Stämmen und ausladenden Kronen, großzügig über Wiesen und Äcker verteilt: Apfel- und Birnbäume, Kirschbäume, Nussbäume, Zwetschgen. Sie liefern den Bauern Obst, betten die Gehöfte harmonisch in die sie umgebenden Felder ein und bieten dem Vieh Schutz bei Regen und Sonne. Im 19. Jahrhundert sollte diese Form der Mehrfachnutzung die Landwirtschaft revolutionieren: Unter den Bäumen durften die Kühe weiden, eine Etage höher konnte man die Früchte ernten und mit dem Schnittholz wiederum die Holzöfen befeuern.
Mehr und mehr jedoch verschwinden die Streuobstwiesen aus der Landschaft – altersbedingt, aber auch durch Rodung. Denn der hochstämmige Obstanbau gilt heute als nicht mehr rentabel genug und wurde vielerorts längst durch Hochleistungsplantagen ersetzt: Nicht so mühsam, weniger Handarbeit, mehr Ertrag. Zudem ist Streuobst meist kein Tafelobst, sondern Fallobst – wurde also immer schon zu Saft und Most verarbeitet, zum Dörren, Backen oder Brennen verwendet. Je weniger diese traditionellen Kulturtechniken praktiziert werden, desto mehr geht jedoch auch das Wissen darum verloren, wie sich all die verschiedenen, alten Sorten schmackhaft verwerten und lange konservieren lassen. Ganz zu schweigen von den Sorten selbst.
Diese Vielfalt will Hans-Thomas Bosch nicht so einfach verloren geben. Bekommt er einen Hinweis auf einen alten Obstbaum, macht sich der Pomologe mit Hund und Kleinbus auf den Weg. Pomologie ist die Kunde von den Obstsorten - nicht nur vom Apfel, wie der Name vermuten ließe. Fürs Land Bayern erfasst und bestimmt er alte Obstbäume, für die Hochschule Weihenstephan betreut Hans-Thomas Bosch eine Versuchsstation, in der die alten Sorten wieder angepflanzt werden.
Dafür muss er sie allerdings erst mal aufspüren. Und so ist Hans-Thomas Bosch oft unterwegs – heute früh zum Beispiel ist er zwei Stunden vom Bodensee bis ins Ostallgäu gefahren.
"Ich brauche noch meine Ausrüstung: Verschiedene Kisten, in die ich dann die Proben einsortieren kann: Jede Probe kriegt ein Schälchen und ein Begleitblatt. Das ist meine Pflückstange hier. Genau, das ist eine Teleskopstange, also ein Teleskoppflücker. Den kann ich jetzt ausfahren bis auf 4 Meter 20, da kommt dann noch meine Körpergröße dazu. Man kommt also bis auf 5 Meter 50 an das Objekt der Begierde ran, an die Früchtchen."
Hans-Thomas Bosch hängt sich eine große Ledertasche um, schultert seine Pflückstange und geht mit großen Schritten auf das alte Bauernhaus zu, in dessen Schatten ein knochiger Apfelbaum und zwei Birnbäume stehen. Das Gras ist noch nass vom Tau. Eine ältere Bäuerin, den Rücken gebeugt von Jahrzehnten an der Sense, öffnet zaghaft die Tür.
"Ich würde vorschlagen, dann gucken wir uns den Apfelbaum mal zusammen an. Kommen Sie gerade mit raus?"
"Ich kann schon mit rauskommen, aber ich weiß genau so viel wie Sie."
"Aber Sie können mir vielleicht noch sagen.
"Ja, ich komme hinten raus."
Große, gelbe Äpfel hängen am Baum – viele liegen auch schon im Gras, angefault und von Wespen umschwirrt. Die Bäuerin zeigt auf einige Zweige an der Rückseite des Stammes, wo eine ganz andere Sorte zu wachsen scheint. Die Äpfel sehen kleiner, fester und viel grüner aus als die anderen. Sie bückt sich schwerfällig und klaubt einen Apfel aus dem feuchten Gras.
"Das ist der Grüne, oder? Und Sie meinen, das ist ein Anderer? – Das ist ein Anderer.
"Oder sind sie grün, weil sie im Schatten wachsen?"
"Das kann schon auch sein."
"Das glaube ich nicht, das ist schon eine andere Sorte."
"Das kann sein, dass das einfach die alte Sorte ist und das mit dem dann umveredelt hat. Das kann schon sein."
Häufig, erklärt Hans-Thomas Bosch ihr, hat man auf den Stamm eines Apfelbaums eine andere Sorte aufgepfropft, weil die ertragreicher oder schmackhafter war als die ursprüngliche. So kann es kommen, dass zwei unterschiedliche Sorten Äpfel an einem Baum wachsen. Cäcilia Pracht, die Bäuerin, drückt dem Pomologen verschmitzt den grünen Apfel in die Hand, den sie aus dem Gras aufgelesen hat.
"Das ist doch eine andere Sorte, da sind immer so richtig grüne Äpfel. Die kann man gar nicht essen. Holzäpfel. Müssen Sie auch probieren, reinbeißen! – Na ja, hört sich jetzt nicht so verlockend an."
Hans-Thomas Bosch holt einen Handcomputer mit Luftbildern aus dem Kartierungsgebiet hervor, öffnet die Karte für das südliche Ostallgäu und vermerkt den Apfelbaum unter der Nummer 1242. Dann beginnt die Detektivarbeit mit einem Fragenkatalog: Wann wurde der Baum gepflanzt? Wann genau sind die Äpfel reif? Wie lange halten sie sich? Die Bäuerin kommt ins Erzählen: Seit 1965 kennt sie den Baum, damals war sie 29 und heiratete auf den Hof, der wiederum ist schon 300 Jahre alt. Seither macht sie jeden Herbst Apfelküchlein und Kompott aus den Äpfeln, weil die sich nicht länger als ein, zwei Wochen halten und recht sauer schmecken. Zu sauer für meine Enkel, sagt die Witwe. Aber das war bei den alten Sorten doch schon immer so, erinnert sie Hans-Thomas Bosch. Die meisten waren Wirtschaftssorten und nie für die Obstschale – also für den Frischverzehr – gedacht.
"Also man hat sie hauptsächlich verarbeitet und auf der anderen Seite hieß das auch, dass sie nicht so schmackhafte Früchte waren. Unter den alten Sorten gibt es zwar auch einige, die ganz feine Aromen haben, aber der überwiegende Teil hat den Leuten früher schon nicht geschmeckt. Nur war das auch kein Thema. Man wusste halt, das ist eine hervorragender Mostapfelsorte, das ist eine hervorragende Dörrbirne, das ist eine Kochbirne. Die war einfach noch nicht reif in aller Regel. Wer eine Kochbirne versucht zu essen, ist auf dem Holzweg."
Cäcilia Pracht nickt zustimmend. Die kleinen Birnen von ihren beiden Bäumen zum Beispiel, die würde sie niemals roh essen. Die dörrt sie immer. Ganz kleine, mehlige Birnen sind das, die über Wochen auf dem Herd stehen und trocknen und dabei so süß und weich werden wie Feigen. Zum Advent verbackt die Bäuerin sie dann zu Birnenbrot – eine Spezialität aus der Region. Die übrigens am besten schmeckt mit den sogenannten Würgebirnen.
"Und die Kinder früher wussten schon, wo diese garstigen Mostbirnen hingen, die man eigentlich nicht essen konnte. Die haben schon gewusst, bei welchem Nachbarn, von welchem Baum die etwas schmackhafteren Früchte angeboten waren."
Und auch, wo nichts zu holen ist, rutscht es der Bäuerin raus. Die 75-Jährige grinst wie ein junges Mädchen und hält sich verlegen die Hand vor den Mund.
"Darf ich ja gar nicht sagen! Die Birnenbettler."
Birnenbettler - so wurden die Trauchgauer in Buchingen deshalb genannt, weil sie selbst kein Obst hatten. Trauchgau liegt nämlich in einer Senke.
"Die sind immer gekommen und haben Birnen geholt. Früher, wo man nicht so viel zu essen gehabt hat. Weiß ich noch. Als Kind hat man immer Birnen gegessen. Selbst im Garten gehabt und was runtergefallen ist, hat man gegessen. Da hat man immer Birnen gekaut."
Hans-Thomas Bosch fährt seine Pflückstange aus, holt sich einen der großen, gelben Sorte Äpfel aus dem Baum, schneidet ihn auf, schaut sich Stengel und Kern an, steckt sich einen Schnitz in den Mund und überlegt. Dann schüttelt er bedauernd den Kopf.
"Also er zählt jetzt sicher nicht zu den bekannteren, verbreiteten Sorten, sondern das ist bestimmt eine seltene Sorte. – Aber das ist schade, dass man das nicht weiß."
Der Pomologe verspricht, sich noch mal in der Gegend umzuhören, ob nicht doch jemand diese Apfelsorte von früher kennt. Er weiß, wie wichtig das den Menschen ist.
"Das ist, was die Leute ganz stark motiviert. Also die interessieren sich jetzt nicht so für die Details meiner Arbeit, sondern für die ist ganz wichtig, dass sie noch mal den Namen erfahren. Also neulich hatte ich so eine ältere Frau, die war schon um die achtzig und sagte: Noch nie hat jemand gewusst, wie die Sorte heißt – und jetzt wissen wir es."
Die Zeit ist reif. Aus den Scheunen riecht es bereits nach Heu und vergorenem Obst. Die Äpfel werden dunkel eingelagert, zu Saft gepresst oder zu Kompott gemacht, zu Most gegoren oder zu Schnaps gebrannt. Die Birnen gedörrt oder in Birnenbrot eingebacken, die Zwetschgen zu Muss verarbeitet, die Hagebutten zu Tee, Vogelbeeren und Holunder als Marmelade eingekocht.
Im Allgäu sind viele dieser überlieferten Bräuche noch lebendig – gerade an den unwirtlichen, abgeschiedeneren Orten. Die Natur sei schließlich die Apotheke Gottes, sagt man im Allgäu.
Bärbel Bentele sagt das nicht. Sie geht auch nicht mit Stock und Hut raus in die Natur, sondern steigt in die Berge wie auf den Dachboden ihrer Großmutter. Auch dort findet sich schließlich alles, was man braucht – solange man nur die Geduld hat zu suchen.
Barfuß steht die zierliche Frau am Herd und legt Holzscheite nach. Die langen, blonden Haare fallen ihr offen auf die Schultern. In der Spüle stapelt sich ein Heer leerer Flaschen und Weckgläser, alles steht bereit zum Abkochen und Einmachen.
"Ich finde, heuer sind noch ein paar mehr wieder dazu gezwungen worden. Das war ein bisschen so eine Stimmung wie im Märchen: So wie bei Frau Holle. Weil wirklich die ganzen Bäume, alles gerufen hat: Rüttle mich und schüttle mich, wir sind reif, mach was aus mir."
In der Stube ist es warm, es riecht nach selbst gebackenem Zwetschgenkuchen. Die beiden Söhne von Bärbel Bentele sitzen still am Küchentisch, vertieft in ihre Hausaufgaben.
"Natürlich stehst du den ganzen Tag am Herd, aber du bist froh müde am Abend. Du hast was geschaffen. Das gibt dir eine ganz große Zufriedenheit. Und es verbindet einen auch mehr mit der Heimat."
Bärbel Bentele wischt sich die verschwitzten Hände an der Schürze ab, dann greift sie zum Thermometer. Auf dem alten Küchenherd simmern zwei riesige Emailtöpfe mit Apfelsaft vor sich hin.
"Auch die Holunderbäume bei uns, die hängen schwer runter. Ich habe letztens gelacht, weil die Frau in Stiefenhofen in ihrem kleinen Laden, die hat Gläser verkauft en masse und die Dinge zum Einkochen. Es ist grundsätzlich etwas rückläufig. Es hat ja auch nicht jeder mehr alles da. Die Streuobstwiesen sind zurückgegangen. Und natürlich, man kann es ja auch viel einfacher kaufen im Geschäft. Aber wenn man es selbst macht, dann spürt man, dass es eine ganz andere Wertigkeit hat."
Mindestens 80 Grad muss der Saft heiß sein. Schon ihre Großmutter hat auf diese Weise Apfelsaft haltbar gemacht, erzählt die 42- Jährige. Ihre Mutter aber hat eines Tages angefangen, den Saft im Supermarkt zu kaufen.
"Man darf den Vorgängergenerationen das nicht übel nehmen, wo einfach nur der Not entronnen sind. Und in den Bergen war es nie leicht. Weil du hast immer gegen die Wildnis, gegen die ganze Naturgewalt im Allgäu – mein Gott, wir haben nun mal das halbe Jahr Winter. Also ich denke einfach, wo der Fortschritt gekommen ist, da war das damals für die Menschen schon eine Sehnsucht: Die haben sich einfach mehr Freizeit, mehr Erleichterung von dieser Schwere weg zu kommen."
Dennoch haben Mutter und Großmutter das Wissen, all die Bräuche ganz selbstverständlich an sie weitergegeben. So wie die Hühner oder das Spinnrad. Darüber ist sie heute froh. Heute.
"Also wir sind immer zum Kräutersammeln gegangen, wenn andere ins Schwimmbad gegangen sind. Weil ich war die Jüngste von den ganzen Kindern, meine Mama kann gar nicht schwimmen. Und da habe ich das nicht immer so toll gefunden, dass ich jetzt nicht ins Schwimmbad kann und auf so einen Berg muss und was sammeln muss."
Und noch heute lebt sie wohl zu eng mit und von der Natur, um sie verklären zu können. Ihr Wissen um die Heilkraft der Pflanzen gibt Bärbel Bentele als Wildkräuterführerin weiter – auch wenn sie sich selbst vermutlich nie so nennen würde.
"Wenn man das im Film immer so sieht, wie sie da so laufen mit ihren Körben, da habe ich mir oft gedacht: Die Realität ist oft anders. Natürlich, wenn man es erzählt, dann hast du die Romantik gleich da. Aber wenn du halt musst - dann regnet es oder du kochst den ganzen Tag Apfelsaft ein. Und in drei Monaten kippt er dir oder fängt an zu gären. Und dann denkst du: Warum mache ich das Ganze?"
Vielleicht, weil sie so ungern einkaufen geht. Und vielleicht auch, weil dem Apfelsaft aus dem Supermarkt DIE eine Birne fehlt, die Bärbel Bentele immer noch dazu gibt. Oder einfach für diesen Moment, wenn die Nachmittagssonne durch das Fenster über der Spüle scheint und die Flaschen mit dem eigenen Saft golden leuchten lässt.
"Das wächst einfach neben dem Haus. Und das Schöne ist: Wenn man noch ein bisschen von dem Wissen hat, was im Garten wächst, was um einen herum steht, dann gibt es dir eine Art von Freiheit. Also für mich ist das eine Art von Freiheit, wenn ich hinausgehen und sagen kann: Dies und dies nehme ich, das kann ich verwenden. Alles, was einen Nutzen hat, macht einen Sinn."
Sieben Wanderwege zu den schönsten Streuobstwiesen zwischen Bodensee und Alpenvorland hat der Bund Naturschutz in Bayern nun für die Gäste der Region ausgewählt. Jede der sieben Routen hat dabei ihren speziellen, ortstypischen Schwerpunkt: Mal geht es um Streuobst in den Hochlagen, mal um Bienen, Most und Brennereien. Am Wegesrand stehen Infotafeln, auf denen verschiedene Aspekte der Streuobstwiesen erklärt werden. Und ein Wanderführer listet die Adresse von Höfen am Wegrand auf, in denen man einkehren und hausgemachte, regionale Produkte kosten kann.
Wie in der Schwatzenmühle bei Lindau zum Beispiel, der Mosterei von Christian Knaus. Jeder, der Obstbäume in seinem Garten, Hof oder Feld hat, kann hier seine Ernte zu einem rentablen Preis abgeben – oder den Saft aus den eigenen Äpfeln wieder mit nach Hause nehmen. Auf Wunsch auch pasteurisiert oder zu Most veredelt.
"Es gibt schon eine Mindestmenge: Mit drei Äpfeln ist es ein bisschen wenig. Aber ab 20, 30 Kilo kann er zu uns kommen und sagen: Ich möchte den Saft genau dieser Äpfel – und dann pressen wir ihm den. Natürlich geben wir Empfehlungen, wie man den Saft noch besser gestalten kann. Weil meistens, wenn man nur einen Baum hat zu Hause, dann ist es auch nur eine Sorte. Und vom Geschmack her ist eine Mischung zwischen süß und säuerlichem Apfel die bessere Variante."
Aus 100 Kilo Äpfeln, erzählt Christian Knaus, lässt sich rund 75 Liter Saft produzieren, den Trester wiederum holen sich die Jäger ab, um ihn ans Wild zu verfüttern. Auch Most, also Apfelwein, stellt die Mosterei Knaus her.
"Früher hat man ja hauptsächlich Most produziert. Den hat man einlagern können, den hat der Bauer dann im Keller eingelagert und dann während des ganzen Jahres alkoholische Getränke konsumieren können. Und große Bauernhöfe haben dementsprechend 1.000, 2.000 Liter Most produziert – und für die Feldarbeit gibt’s eigentlich nichts Besseres wie ein durstlöschendes Getränk."
Gespritzt mit Brunnenwasser bekommt man den Most noch heute in den sogenannten "Rädlewirtschaften". Auch auf dem Hof von Christian Knaus hängt ein solches Wagenrad aus Holz, das anzeigt, dass hier der Bauer gerade selbst hergestellte Produkte zu verkaufen hat. Überall entlang der Streuobstwanderwege finden sich diese Besenwirtschaften und laden durstige Wanderer zur Rast ein.
Seit mehr als 150 Jahren prägen Streuobstwiesen die Landschaft am Bodensee und im Westallgäu. Robuste Obstbäume mit hohen Stämmen und ausladenden Kronen, großzügig über Wiesen und Äcker verteilt: Apfel- und Birnbäume, Kirschbäume, Nussbäume, Zwetschgen. Sie liefern den Bauern Obst, betten die Gehöfte harmonisch in die sie umgebenden Felder ein und bieten dem Vieh Schutz bei Regen und Sonne. Im 19. Jahrhundert sollte diese Form der Mehrfachnutzung die Landwirtschaft revolutionieren: Unter den Bäumen durften die Kühe weiden, eine Etage höher konnte man die Früchte ernten und mit dem Schnittholz wiederum die Holzöfen befeuern.
Mehr und mehr jedoch verschwinden die Streuobstwiesen aus der Landschaft – altersbedingt, aber auch durch Rodung. Denn der hochstämmige Obstanbau gilt heute als nicht mehr rentabel genug und wurde vielerorts längst durch Hochleistungsplantagen ersetzt: Nicht so mühsam, weniger Handarbeit, mehr Ertrag. Zudem ist Streuobst meist kein Tafelobst, sondern Fallobst – wurde also immer schon zu Saft und Most verarbeitet, zum Dörren, Backen oder Brennen verwendet. Je weniger diese traditionellen Kulturtechniken praktiziert werden, desto mehr geht jedoch auch das Wissen darum verloren, wie sich all die verschiedenen, alten Sorten schmackhaft verwerten und lange konservieren lassen. Ganz zu schweigen von den Sorten selbst.
Diese Vielfalt will Hans-Thomas Bosch nicht so einfach verloren geben. Bekommt er einen Hinweis auf einen alten Obstbaum, macht sich der Pomologe mit Hund und Kleinbus auf den Weg. Pomologie ist die Kunde von den Obstsorten - nicht nur vom Apfel, wie der Name vermuten ließe. Fürs Land Bayern erfasst und bestimmt er alte Obstbäume, für die Hochschule Weihenstephan betreut Hans-Thomas Bosch eine Versuchsstation, in der die alten Sorten wieder angepflanzt werden.
Dafür muss er sie allerdings erst mal aufspüren. Und so ist Hans-Thomas Bosch oft unterwegs – heute früh zum Beispiel ist er zwei Stunden vom Bodensee bis ins Ostallgäu gefahren.
"Ich brauche noch meine Ausrüstung: Verschiedene Kisten, in die ich dann die Proben einsortieren kann: Jede Probe kriegt ein Schälchen und ein Begleitblatt. Das ist meine Pflückstange hier. Genau, das ist eine Teleskopstange, also ein Teleskoppflücker. Den kann ich jetzt ausfahren bis auf 4 Meter 20, da kommt dann noch meine Körpergröße dazu. Man kommt also bis auf 5 Meter 50 an das Objekt der Begierde ran, an die Früchtchen."
Hans-Thomas Bosch hängt sich eine große Ledertasche um, schultert seine Pflückstange und geht mit großen Schritten auf das alte Bauernhaus zu, in dessen Schatten ein knochiger Apfelbaum und zwei Birnbäume stehen. Das Gras ist noch nass vom Tau. Eine ältere Bäuerin, den Rücken gebeugt von Jahrzehnten an der Sense, öffnet zaghaft die Tür.
"Ich würde vorschlagen, dann gucken wir uns den Apfelbaum mal zusammen an. Kommen Sie gerade mit raus?"
"Ich kann schon mit rauskommen, aber ich weiß genau so viel wie Sie."
"Aber Sie können mir vielleicht noch sagen.
"Ja, ich komme hinten raus."
Große, gelbe Äpfel hängen am Baum – viele liegen auch schon im Gras, angefault und von Wespen umschwirrt. Die Bäuerin zeigt auf einige Zweige an der Rückseite des Stammes, wo eine ganz andere Sorte zu wachsen scheint. Die Äpfel sehen kleiner, fester und viel grüner aus als die anderen. Sie bückt sich schwerfällig und klaubt einen Apfel aus dem feuchten Gras.
"Das ist der Grüne, oder? Und Sie meinen, das ist ein Anderer? – Das ist ein Anderer.
"Oder sind sie grün, weil sie im Schatten wachsen?"
"Das kann schon auch sein."
"Das glaube ich nicht, das ist schon eine andere Sorte."
"Das kann sein, dass das einfach die alte Sorte ist und das mit dem dann umveredelt hat. Das kann schon sein."
Häufig, erklärt Hans-Thomas Bosch ihr, hat man auf den Stamm eines Apfelbaums eine andere Sorte aufgepfropft, weil die ertragreicher oder schmackhafter war als die ursprüngliche. So kann es kommen, dass zwei unterschiedliche Sorten Äpfel an einem Baum wachsen. Cäcilia Pracht, die Bäuerin, drückt dem Pomologen verschmitzt den grünen Apfel in die Hand, den sie aus dem Gras aufgelesen hat.
"Das ist doch eine andere Sorte, da sind immer so richtig grüne Äpfel. Die kann man gar nicht essen. Holzäpfel. Müssen Sie auch probieren, reinbeißen! – Na ja, hört sich jetzt nicht so verlockend an."
Hans-Thomas Bosch holt einen Handcomputer mit Luftbildern aus dem Kartierungsgebiet hervor, öffnet die Karte für das südliche Ostallgäu und vermerkt den Apfelbaum unter der Nummer 1242. Dann beginnt die Detektivarbeit mit einem Fragenkatalog: Wann wurde der Baum gepflanzt? Wann genau sind die Äpfel reif? Wie lange halten sie sich? Die Bäuerin kommt ins Erzählen: Seit 1965 kennt sie den Baum, damals war sie 29 und heiratete auf den Hof, der wiederum ist schon 300 Jahre alt. Seither macht sie jeden Herbst Apfelküchlein und Kompott aus den Äpfeln, weil die sich nicht länger als ein, zwei Wochen halten und recht sauer schmecken. Zu sauer für meine Enkel, sagt die Witwe. Aber das war bei den alten Sorten doch schon immer so, erinnert sie Hans-Thomas Bosch. Die meisten waren Wirtschaftssorten und nie für die Obstschale – also für den Frischverzehr – gedacht.
"Also man hat sie hauptsächlich verarbeitet und auf der anderen Seite hieß das auch, dass sie nicht so schmackhafte Früchte waren. Unter den alten Sorten gibt es zwar auch einige, die ganz feine Aromen haben, aber der überwiegende Teil hat den Leuten früher schon nicht geschmeckt. Nur war das auch kein Thema. Man wusste halt, das ist eine hervorragender Mostapfelsorte, das ist eine hervorragende Dörrbirne, das ist eine Kochbirne. Die war einfach noch nicht reif in aller Regel. Wer eine Kochbirne versucht zu essen, ist auf dem Holzweg."
Cäcilia Pracht nickt zustimmend. Die kleinen Birnen von ihren beiden Bäumen zum Beispiel, die würde sie niemals roh essen. Die dörrt sie immer. Ganz kleine, mehlige Birnen sind das, die über Wochen auf dem Herd stehen und trocknen und dabei so süß und weich werden wie Feigen. Zum Advent verbackt die Bäuerin sie dann zu Birnenbrot – eine Spezialität aus der Region. Die übrigens am besten schmeckt mit den sogenannten Würgebirnen.
"Und die Kinder früher wussten schon, wo diese garstigen Mostbirnen hingen, die man eigentlich nicht essen konnte. Die haben schon gewusst, bei welchem Nachbarn, von welchem Baum die etwas schmackhafteren Früchte angeboten waren."
Und auch, wo nichts zu holen ist, rutscht es der Bäuerin raus. Die 75-Jährige grinst wie ein junges Mädchen und hält sich verlegen die Hand vor den Mund.
"Darf ich ja gar nicht sagen! Die Birnenbettler."
Birnenbettler - so wurden die Trauchgauer in Buchingen deshalb genannt, weil sie selbst kein Obst hatten. Trauchgau liegt nämlich in einer Senke.
"Die sind immer gekommen und haben Birnen geholt. Früher, wo man nicht so viel zu essen gehabt hat. Weiß ich noch. Als Kind hat man immer Birnen gegessen. Selbst im Garten gehabt und was runtergefallen ist, hat man gegessen. Da hat man immer Birnen gekaut."
Hans-Thomas Bosch fährt seine Pflückstange aus, holt sich einen der großen, gelben Sorte Äpfel aus dem Baum, schneidet ihn auf, schaut sich Stengel und Kern an, steckt sich einen Schnitz in den Mund und überlegt. Dann schüttelt er bedauernd den Kopf.
"Also er zählt jetzt sicher nicht zu den bekannteren, verbreiteten Sorten, sondern das ist bestimmt eine seltene Sorte. – Aber das ist schade, dass man das nicht weiß."
Der Pomologe verspricht, sich noch mal in der Gegend umzuhören, ob nicht doch jemand diese Apfelsorte von früher kennt. Er weiß, wie wichtig das den Menschen ist.
"Das ist, was die Leute ganz stark motiviert. Also die interessieren sich jetzt nicht so für die Details meiner Arbeit, sondern für die ist ganz wichtig, dass sie noch mal den Namen erfahren. Also neulich hatte ich so eine ältere Frau, die war schon um die achtzig und sagte: Noch nie hat jemand gewusst, wie die Sorte heißt – und jetzt wissen wir es."
