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Alltag zwischen Armut und Angst:

Ein Markt im Zentrum von Gaza-Stadt. Erstaunlich betriebsam geht hier es zu. Auf den ersten Blick ein ganz normaler Markt, wie man ihn überall auf der Welt finden könnte. Doch der Eindruck täuscht. Zwar bieten hier Händler Gemüse, Kleidung oder Geschirr an. Aber kaum jemand kauft etwas. Die Palästinensergebiete, seit dem Ausbruch der Intifada vor zwei Jahren systematisch von Israel abgeriegelt, leiden unter einer nie da gewesenen Not.

Uwe Pollmann |
    Zur Zeit verdienen wir nichts und können unsere Familien kaum noch ernähren...

    ...stöhnt ein Spielzeughändler, der billige Plastikware aus China feilbietet. Ein benachbarter Gewürzhändler steht neben seinen Holzkübeln, gefüllt mit Kardamom, Curry oder Pfeffer. Die meiste Zeit langweilt man sich hier, sagt er. Käufer? Die gibt es selten. Spielzeughändler:

    Die Lage ist schlecht, seitdem kaum ein Arbeiter nach Israel reinkommt. Die haben bisher das meiste Geld mitgebracht. Aber das fehlt seit zwei Jahren. Außerdem ist der Gaza-Streifen in drei Zonen aufgeteilt. Keiner kann sich frei bewegen. Die Käufer nicht und wir Händler auch nicht.

    Mehrere Checkpoints der israelischen Armee behinderten den Geschäftsverkehr, sagen die Händler. Waren aus Palästina, Gemüse oder Früchte, sind kaum zu haben. Deshalb müsse man alles über Israel einführen. Zu hohen Preisen. Leisten könne sich das kaum jemand. So werde jede wirtschaftliche Entwicklung zunichte gemacht, erklärt auch Ragy Mousalm vom palästinensischen Industrieministerium:

    Sie versuchen, palästinensische Importeure, die direkte Verträge mit ausländischen Firmen überall auf der Welt haben - was ja auch die Verträge mit der PLO und der israelischen Regierung zulassen - versuchen halt, diese Importeure davon abzuhalten. Durch komplizierte Maßnahmen. Damit diese Importeure ihre Waren von Israel beziehen.

    Vor fünf Jahren kehrte Mousalm, der in Deutschland Ingenieurwesen studiert und einen deutschen Pass hat, mit seiner Familie in die Heimat zurück. Damals, als der Friedensprozess neuen Auftrieb versprach, wollte er am Aufbau Palästinas mitarbeiten. Doch dann kam die Intifada, kam die Abschottung der Palästinensergebiete.

    So ist der Aufschwung, den Gaza bis vor zwei Jahren erlebte, längst verebbt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 70 Prozent. Weil fast alle der über 100.000 Gastarbeiter in Israel entlassen wurden. Und weil Betriebe, die mit ausländischer Hilfe aufgebaut wurden, ihre Tore geschlossen haben oder von israelischen Panzern zerstört wurden. Der internationale Flughafen, den die Europäische Union gebaut hat, ist verwaist - Israels Armee hat die Landebahn aufgerissen. Nur einige fertig gestellte Hochhäuser und viele Rohbauten in Gaza-Stadt erinnern an die kurze Zeit des Friedens. Und ein paar noble, leer stehende Hotels. Die Wirtschaft liegt danieder. Es mangelt an Investitionen von außen. Und so hat auch die junge Generation kaum Kontakt zur Arbeitswelt. Eine fatale Entwicklung, sagt Manfred Off, Mitarbeiter der Vereinten Nationen in Gaza:

    Die Leute haben Theorie, Theorie, Theorie. Selbst zum Großteil die Lehrer. Denen fehlt die praktische Anknüpfung, wie wir sie in Deutschland gewöhnt sind, wo das zusammen mit den Firmen geschieht. Jeglicher Realitätsbezug zu tatsächlichen Firmen, zu real existierender Arbeit ist hier eigentlich gar nicht gegeben in der Ausbildung.


    Die Israelis halten uns gefangen, und die Welt hat uns vergessen, sagen viele. In der Tat: Gaza ist ein Freiluftgefängnis, umgeben von Mauern und Stacheldraht, bewacht von Tausenden israelischen Soldaten. 1,2 Millionen Palästinenser leben in einem Gebiet, das nicht einmal so groß ist wie Köln. Der schmale Streifen Wüste an der Mittelmeerküste misst 50 Kilometer auf der Nord-Süd-Achse, von der Küste bis zur Ostgrenze sind es sechs bis acht Kilometer. Doch die Bewohner können sich selbst innerhalb dieses kleinen Gebietes nicht frei bewegen: Denn israelische Siedler haben einige Gemeinden im Gaza-Streifen gegründet. Die Zufahrtsstraßen zu diesen Orten dürfen nur von den Siedlern benutzt werden. Palästinensern ist das verboten. Darüber wacht rund um die Uhr die israelische Armee, die aus Sicherheitsgründen auch alle Felder der palästinensischen Bauern rings um die Siedlergemeinden vernichtet hat. Oft blockieren die Soldaten stundenlang palästinensische Straßen, die in der Nähe der Siedlungen liegen.

    Ein Grenzposten zum Dorf Al Mawasi im Süden Gazas. An einem Schlagbaum stehen mehrere Frauen mit Kindern und warten in der prallen Sonne. Etwa 100 Meter vor ihnen: das Grenzhäuschen. Dazwischen stehen im Abstand von 20 Metern mehrere Betonquader. An jedem dieser Quader harrt jeweils eine Gruppe von fünf, sechs Frauen und Männern aus. Geduldig starren sie auf das Grenzhäuschen und warten darauf, dass jemand sie heran winkt. Noch vergeblich. Wartende:

    Wir wollen endlich nach Hause. Aber man lässt uns nicht. Manchmal werden die Kinder hier krank, in der heißen Sonne. Frauen haben hier schon Babys zur Welt gebracht.

    Oft müssten sie sich vor den Soldaten da vorne nackt ausziehen, klagen einige Frauen. Immer würde man sie beleidigen. Autos dürften gar nicht passieren. Und Gemüse und Früchte dürfe man auch nicht mehr mitnehmen. Beides verfaule am Rande der wenigen Äcker. Nichts erreiche mehr die Märkte, die Städte. Eine Schande sei das.

    Das Flüchtlingslager Dschabalia am Rande von Gaza-Stadt. Mehr als 100.000 Menschen leben hier auf engem Raum in unverputzten kleinen grauen Häusern. Oft sind sie nur durch staubige Gassen zu erreichen, in denen sich schnell ein paar barfüßige Kinder zusammen finden, um Fremde zu begrüßen.

    Die Kinder erproben ihre ersten Englischkenntnisse. Bald zupfen sie an der Kleidung des Fremden und bitten freundlich, aber hartnäckig um "Schekel, Schekel”, die israelische Währung. Und wer das nicht versteht oder verstehen will, dem wird dann doch deutlich gesagt, was hier gefordert ist.

    Aber schnell greifen Erwachsene ein, denen die Bettelei peinlich ist. Bis vor zwei Jahren kannte man diese Not in Dschabalia nicht. 20.000 Arbeiter gingen von hier jeden Morgen in aller Früh an die nördliche Grenze. Dort wurden sie von Bussen abgeholt und zur Arbeit in israelische Betriebe gebracht. Salem El Katari war einer von ihnen. Der kräftige Mann wohnt in einem der schmalen Häuschen des verwinkelten Viertels. Bis vor zwei Jahren ging es ihm gut. Da verdiente er als Bauarbeiter 500 Euro im Monat. Dann kam die Intifada.

    Jetzt haben wir nichts mehr. Manchmal gibt es Hilfspakete, aber Arbeit gibt es nicht. Und um zu überleben, müssen meine Kinder vor und nach der Schule Süßigkeiten auf der Straße verkaufen.

    Die Preise sind hoch, sagt der Vater. So hoch wie in Israel und Europa. Aber seine Kinder brauchen doch etwas zu essen. "Was soll ich denn tun?" fragt er beschämt. Für seinen Ältesten, 12 Jahre alt, ist Arbeit längst Alltag.

    Nach der Schule gehe ich oft erst einmal auf die Straße und verkaufe etwas. Wie andere Kinder hier auch. Es ist wirklich schlimm. Wir haben kein Geld für Kleidung, Essen oder Schulgeld. An Spielzeug ist gar nicht zu denken. Das gibt’s für uns nicht mehr. Das können sich nur noch die leisten, die eine Arbeit haben.

    Ich bin ein Millionär, ruft ein alter, stämmiger Mann, der gerade aus seinem Haus auf die Gasse tritt und grimmig drein schaut. Wir hatten viel Land in Israel, haben Steuern gezahlt, schimpft der 77-jährige Juda Abu-Rugba. Aber dann sei die Familie vertrieben worden. Jetzt hätten sie nichts mehr. Nur ein kleines Haus, in dem 30 Menschen lebten. Großeltern, Eltern und Kinder. Schlecht sei es ihnen ergangen in den letzten Jahrzehnten. Aber noch nie so schlecht wie in den vergangenen zwei Jahren.

    Sehen Sie sich an, was wir essen. Abu Rugba zeigt auf seine Enkelkinder, die sich als Mittagsmahl einen trockenen Brotfladen teilen. Ist das unsere Zukunft? Keinen Hund lässt man in Europa so leiden, empört er sich. Alle hier seien krank und fertig mit den Nerven, weil die Unterdrückung kein Ende nehme.

    Die Not ist groß, und nur wenig Hilfe kommt aus dem Ausland. So werden Dietmar Stark und Rolf Ebbinghaus, zwei Deutsche aus Radevormwald, die in diesen Tagen nach Gaza gekommen sind, überall freundlich empfangen. Seit fünf Jahren unterstützt ihr deutsch-palästinensischer Freundschaftskreis Kinderprojekte in Gaza. Inzwischen geben sie die Spendengelder vor allem für Lebensmittel aus.

    Der deutsch-palästinensische Freundschaftsverein in Radevormwald möchte mit dieser Lebensmittelhilfe versuchen, die größte Not wenigstens bei einigen Familien zu lindern.

    Peinlich berührt senken viele bei den Verteilaktionen den Kopf. Natürlich, sie sind dankbar. Aber lieber würden sie arbeiten gehen, erklären sie Dietmar Stark.

    Die Situation ist erschreckend. Ich bin tief bewegt und betroffen von dem Leid, das ich hier gesehen habe. So hatte ich es mir nicht vorgestellt.

    Besonders die Schilderungen militärischer Angriffe in den Flüchtlingsvierteln entsetzen die Deutschen.

    Es hat sich eingeprägt natürlich die Hilflosigkeit insbesondere in den Kinderaugen, die vor zwei Jahren noch strahlen konnten. Heute hatte ich mehr den Eindruck, auch die Kinder sind psychisch gestört, verängstigt. Das alles sind Situationen, die uns sehr sehr nachdenklich gemacht haben.

    Eine besonders von Gewalt betroffene Flüchtlingssiedlung ist Rafah, im Süden des Gazastreifens an der ägyptischen Grenze. Hundert Meter entfernt, hinter einer Betonmauer, weht die Fahne des Nachbarlandes. Davor ein Streifen Niemandsland, wo viele Häuser von Israels Armee dem Erdboden gleichgemacht wurden. In einigen nicht zerstörten Rohbauten sitzen israelische Scharfschützen und beobachten die kleinen Häuser und Gassen des Flüchtlingsviertels. In einem der Häuschen am Rande des Viertels wohnt Leila Nufa mit Mann und fünf Kindern. Direkt in der Schusslinie.

    Schauen Sie, die Einschüsse in unserem Haus! Die Frau zeigt auf unzählige Narben von Granatsplittern und Kugeln. Mal sei das Dach eingebrochen, mal hätten Schüsse die Fenster zerstört. Doch bisher wurde - wie durch ein Wunder - niemand getroffen. Trotzdem: alle hier hätten Angst, wirft der 12-jährige Sohn Ismail ein. Einige seiner Freunde seien getötet worden.

    Es ist sehr schwer hier. Wenn ich draußen vor der Tür spiele, ist das gefährlich. Ich bin nie glücklich beim Spielen. Nein, ich habe immer Angst, dass gleich wieder geschossen wird. Wir können uns beim Spielen nicht freuen.



    Ich lebe in ständiger Angst, wenn die Kinder hier draußen in den Gassen spielen oder zur Schule gehen. Wenn geschossen wird, rufe ich sie sofort nach Hause. Sie schreien und weinen dann. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Wir wollen hier eigentlich weg. Aber wohin? Wir können die Mieten nicht zahlen. Wir haben ja kaum etwas zu essen.

    Rafah ist einer der Flüchtlingsorte in Gaza, wo das Elend am größten ist. Hier haben Kinder und Jugendliche in den vergangenen zwei Jahren oft mit Steinen israelische Soldaten angegriffen. Und die wiederum schießen scharf zurück, wie ein Student in den Gassen des Viertels berichtet.

    Alle Kinder hier haben Schussverletzungen. Am ganzen Körper. Mein Geschwister und ich auch.

    Schnell bildet sich eine Traube von Kindern um ihn.

    Sehen Sie. Dieses Kind hat eine Schussverletzung am Bein. Der Junge hat mit Freunden auf der Straße gespielt und israelische Soldaten haben ihn angeschossen. Jetzt kann er nichts mehr tragen und auch nicht mehr richtig spielen.

    Fast jede Nacht dringen Soldaten in die Viertel ein. Auf der Suche nach Terroristen der islamistischen Gruppen Hamas oder Dschihad durchstöbern sie Gassen und Häuser. Und immer gibt es Tote. Aber das Ziel der Eingriffe scheint nicht nur die Suche nach Terroristen zu sein. Sondern auch Einschüchterung oder Vertreibung. Nur: Wo sollen die Menschen hin, die hier so eng zusammengepfercht leben? Im Gazastreifen ist kaum Platz. Vor diesem Hintergrund empfinden viele Palästinenser Israels Eingriffe als sinnlosen Terror. Der vor allem Kinder stark belastet. Einige Jungen:

    Oft fahren sie mit großen Panzern in die Viertel hinein. Dann hören wir sie schon, wenn sie von den großen Straßen ins Viertel einbiegen.



    Meistens kommen sie nachts, gehen durch die Straßen. Schießen um sich. Dann schließen wir schnell Fenster und Türen.

    Doch auch tagsüber sind manchmal Kinder in Gefahr, Schulkinder vor allem. Immer wieder wurden öffentliche Einrichtungen der palästinensischen Autonomiebehörde mit Raketen zerstört. Einrichtungen, die direkt neben Schulen liegen.

    All das hat dramatische Folgen für die Kinder, warnt Manuel Musallam, Oberhaupt der lateinischen Kirchen in Gaza. Der Pfarrer leitet zwei Schulen. Oft, sagt er, erlebten seine Schüler Diskriminierung, Luftangriffe oder Schusswechsel. Angsterfüllt kämen sie in den Unterricht, seien still, introvertiert oder nässten wieder ein.

    Auch die Vereinten Nationen beklagen zunehmende psychosomatische Störungen. Solche Erfahrungen prägen sich jungen Menschen tief ein. Und vor allem Extremisten nutzen das aus. Zum Beispiel die islamistische Organisation Hamas, die überall Zulauf findet. Auch weil sie medizinische und Lebensmittelhilfe leistet. Die Hamas betrachtet einen Friedensprozess mit Israel als Zeitverschwendung. Das wisse auch die Jugend, so ein Hamas-Mitglied:

    Bei vielen Jugendlichen genießen wir mehr Vertrauen, weil wir die Menschen in eine goldene Zeit führen wollen. Mit Hilfe des Korans. Die Israelis haben unser Land besetzt. Wir können da nicht einfach zuschauen. Wir müssen unser Land befreien und gegen die Israelis kämpfen. Wir haben keine andere Wahl.

    Kompromisslos setzen Hamas und Dschihad auf Gewalt - bilden Selbstmordattentäter und Terrorkommandos aus. Dass man so eine militärische Großmacht wie Israel kaum besiegen kann, das beschäftigt ihre starrköpfigen Führer nicht. Und immer mehr Jugendliche schließen sich den Extremisten an. Keiner sagt das offen. Aber überall in den Straßen Gazas hängen die Plakate junger Selbstmordattentäter. Für viele sind sie Helden. Mühsam versuchen moderate palästinensische Politiker den Eindruck zu verwischen. Nein, die meisten Palästinenser seien gegen Gewalt und für eine friedliche Lösung, sagt auch das Oberhaupt der Kirchen, Pfarrer Musallam:

    Viele Europäer glauben, Palästina bestehe nur aus Hamas und Dschihad. Und die Jugendlichen würden gern Anschläge auf Israel ausüben. Das ist falsch und ungerecht. Die Kinder und Jugendlichen erleben zwar viel Gewalt und Terror. Aber sie wissen auch, dass es sich lohnt zu leben, die Not zu ertragen und jene zu akzeptieren, die einen selbst zur Zeit nicht akzeptieren.


    Wie lange lässt sich diese Gewalt aushalten? Sicher, sagt ein Junge in einem Flüchtlingslager, sterben wolle hier keiner. Jeder wolle nur Frieden. Aber den gebe es nicht. Also müsse man doch was tun gegen die Israelis.

    Früher haben die Kinder hier Steine geworfen. Aber heute? Da wird man gleich abgeschossen. Nein, ich lasse mich nicht so einfach abschießen. Erst will ich auch wenigstens einen Juden töten. Und dann sterben.

    Vielleicht sind Jugendliche mit einem derart von der Gewalt geprägten Weltbild noch aufzuhalten – das hoffen moderate Palästinenser. Doch Israels Offensiven in Gaza treiben mehr und mehr junge Menschen in die Arme der Extremisten. Dabei hatte vieles in diesem Sommer zunächst Hoffnung gemacht. Sechs Wochen lang gab es keine Selbstmordattentate. Und in Palästinas Parlament hatten Abgeordnete gegen die teils korrupte Regierung aufbegehrt und endlich gezeigt, dass sich langsam ein demokratisches Bewusstsein entwickelt. Doch die israelischen Angriffe nahmen nicht ab. Damit haben Israels Hardliner den Demokratisierungsprozess gebremst und die Extremisten gestärkt. Und diese werden möglicherweise bald die palästinensische Politik beherrschen.