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Alltagsheroen vor der Kamera

Fotos gelten als Inbegriff des Identitätsnachweises. Neben dem Gebrauch in Personaldokumenten und im polizeilichen Erkennungsdienst hat auch in der bildenden Kunst eine vielfältige Auseinandersetzung mit ihnen stattgefunden. Jetzt zeigt die Kunsthalle Tübingen in einer Ausstellung unter dem Motto "Kopf an Kopf" Beispiele serieller Porträtfotografie von den frühen 70er Jahren bis heute.

Von Christian Gampert |
    Die Ausstellung vermittelt eine irritierende Erfahrung: dass das menschliche Antlitz zwar optisch das Individuellste ist, was wir zu bieten haben, dass aber eine große Menge von Köpfen die Gemeinsamkeiten mit anderen betont. Pionier dieses Verfahrens ist der Amerikaner Ken Ohara, der Ende der 1960er Jahre New Yorker Straßenpassenten fotografierte und im fertigen Bild dann nur jenen Ausschnitt zeigte, der Augen, Nase und Mund umfasst. Das erzeugt einen Sog und macht das einzelne Bild sehr intim. In der Reihung einer Vielzahl solcher Portraits werden dann aber nicht nur die individuellen, sondern auch die ethnischen Unterschiede zwischen den Figuren nivelliert.

    Ohara wollte mit seiner Serie die "Family of Man" beschwören, und in Tübingen ist ihm jetzt ein ganzer Saal gewidmet. Dass man in der Ausstellung weit über 1000 Köpfe anschauen kann, heißt aber nicht, dass man dem Individuum nicht doch näher kommen könnte - wer will, kann sich in das Einzelbild durchaus versenken.

    Es geht dem Kurator Martin Hellmold aber vor allem darum, verschiedene künstlerische Konzepte vorzustellen, und das ist vorzüglich gelungen. Allein der große Saal ist grandios inszeniert: die eine Seite ist mit neun riesigen, großformatigen Farbportraits der Marie-Jo Lafontaine bespielt, den "Babylon Babies", Bilder, die Jugendliche aller Erdteile in den Status von Ikonen erheben, ausdrucksstark und selbstbewusst. Die andere Seite ist Alexander Honory vorbehalten, der 720 kleine Schwarzweißportraits aus dem polnischen Lodz an die Wand genagelt hat. Die schiere Vielzahl dieser Bilder erzeugt eine schöne Spannung zu den Alltagsheroen gegenüber.

    Und bei Honory ist die Massenhaftigkeit Programm: in einem gigantischen Projekt will er Tausende von Köpfen aus Städten aller Kontinente zu einem Menschheitsbild komponieren, in dem der Einzelne erkennbar bleibt; in Tübingen zeigt er erstmals ein Kapitel aus dieser Unternehmung.

    Martin Hellmold will vor allem Gegenwartskunst, die Fotografen auch seiner eigenen Generation zeigen – und beschränkt sich auf die Zeit nach 1970. Die Künstler allerdings sind sorgfältig gewählt: es gibt keine schwache Position. Im ersten Raum zeigt Jürgen Klauke lauter Vermummte – und parallelisiert gnadenlos islamische Frauen in Schador, Niqab und Burka mit ganzkopfverhüllten arabischen Terroristen. Schon 1972, als die Arbeit entstand, war das einigermaßen mutig; heute ist es erfrischend politisch inkorrekt.

    Aus den neueren Arbeiten ragt Noah Kalinas Video "Everyday" heraus, das täglich geschossene Selbstportraits aus sechs Jahren mit horrender Geschwindigkeit hintereinander setzt und so eine atemlose Bewegung erzeugt. Christian Boltanski baut den im Weltkrieg verloren gegangen Kindern einen Altar aus gerasterten Suchbildern und Glühlämpchen der Hoffnung; Luc Delahaye fotografiert dösende Metro-Passagiere aus der Untersicht und reiht diese Zeugnisse der Geistesabwesenheit zu einer städtischen Befindlichkeits-Diagnose.

    Der letzte Teil ist dem Spiel mit den Identitäten gewidmet: Olaf Nicolai dokumentiert jene persönlichkeitsverändernde Behandlung in einem von ihm selbst betriebenen Blondier-Salon, mit der freundliche Normalos zu schrillen Hipstern werden. Ralf Peters betont die Ähnlichkeit zwischen Personen durch eine besonders fahle Farbgebung. Und Valérie Belin ist mit jenen großformatigen Frauenportraits vertreten, auf denen Pariser Sekretärinnen wie Schaufensterpuppen aussehen. Der pigmentierte Inject Print betont nicht nur die Kühle der Fototechnik, sondern auch die Glattheit der Figuren, die sich selbst zu unberührbaren Wesen stilisieren, bunt geschminkte Göttinnen, unnahbar und kalt.