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Alpinismus als Schnapsidee

Im vorletzten Sommer hat die Berliner Autorin Nadja Klinger zusammen mit einer Freundin die Alpen überquert. Von ihrer Reise, den Bergen, Heidi und dem Wandern im Allgemeinen erzählt sie in einem wunderbar lockeren, spielerischen Ton.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 13.02.2011
    Es wird generell viel zu wenig gelaufen in der Literatur. Natürlich nicht nur in der Literatur. Schauen wir uns bloß einmal selber an: übergewichtige Autofahrer mit Schreibtischarbeit. Da ist Laufen schon ein großer Luxus. Spazierengehen, Wandern sind kostbare und irgendwie exotische Fortbewegungsformen geworden; wenn einer einen Pilgerweg abschreitet, kann er sofort ein Buch daraus machen.

    Dabei geht es nicht nur um Fitness, sondern - die Pilger wissen es am besten - auch um einen geistig-seelischen Prozess. Deswegen haben Laufen und Literatur mehr miteinander zu tun, als man einem gewöhnlichen Reisebericht ansieht. Die klassische Literatur des Laufens, von Gottfried Seumes "Spaziergang nach Syrakus" über Karl Philipp Moritz' "Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782" bis zu Johann Gottfried Herders "Journal meiner Reise im Jahr 1769", handelt nicht nur von der Fremde, sondern auch vom Ich des Autors. Der Pfad, auf dem er läuft, ist zugleich der des eigenen Lebens; die Via und die Vita gehören eng zusammen.

    Diese existenzielle Symbolik greift noch stärker, wenn es durchs Gebirge geht. Wenn der Spaziergang zu einer Bergwanderung wird. Wenn neben Ausdauer Geschicklichkeit und Wagemut gefragt sind. Wenn Hindernisse den Weg verstellen, Felskuppen, Hänge und Schluchten die Passage zum Abenteuer machen. Dann kommt das metaphysische Motiv des Übergangs ins Spiel; es gibt ein Davor und ein Danach, ein Diesseits und ein Jenseits des Gebirges.

    Und es gibt ein Gebirge in Europa, bei dem die seelische Symbolik des Wanderns noch kulturell überhöht wird, nämlich die Alpen. Sie stehen in der Mitte. Sie trennen die beiden Hauptsphären des Kontinents: den germanischen Norden und den romanischen Süden. Hier scheiden sich die Wasser, die ins Mittelmeer und in die Nordsee fließen. Die Alpenüberquerung ist eine Reise ins Warme und ins Licht, zumindest wenn man sie in Nadja Klingers Richtung unternimmt: von Deutschland nach Italien, vom Bodensee zum Comer See, von Lindau bis nach Chiavenna.

    Im vorletzten Sommer hat die Berliner Autorin zusammen mit ihrer ebenso deutschen Freundin Heidi diese Strecke zu Fuß zurückgelegt und berichtet sowohl über die Strecke als auch über ihre Füße, sowohl über die Alpen als auch über Heidi, sowohl das Wandern im Allgemeinen als auch die speziellen Erlebnisse auf dieser Tour in einem wunderbar lockeren, spielerischen, heiter-ernsten Ton.

    Jahrtausendelang waren die Alpen für die Europäer das Ende der Welt. Ehrfurchtsvoll lebten die Menschen nördlich und südlich in sicherem Abstand, das Gebirge im Blick. Mehrmals am Tag wechselte es das Antlitz. Die Berge griffen in den Himmel, rissen an den Wolken, versteckten die Sonne. Sie hielten sich aufrecht im Gewitter, warfen mit Eis und Stein. Schütteten Wasser in die Ebenen, ließen riesige Schatten übers Land wandern. Sie standen nicht einfach so in der Welt. Sie waren zürnendes, donnerndes, blitzendes Gestein. Auf ihren Gipfeln lebten Götter und Dämonen. Oben auf den Bergen, da war man sich einig, konnte man direkt ins Antlitz Gottes sehen.

    Der Alpinismus ist wahrhaftig Schnapsidee der jüngeren Geschichte. Die in den Alpen beheimateten Menschen pflegten nicht zum Spaß auf die Gipfel zu steigen. Das taten die Touristen, die im 19. Jahrhundert die Schweiz entdeckten, nachdem wagemutige Wissenschaftler, vom Geist der Aufklärung getrieben, die Bergwelt durch Begehung und Vermessung entdämonisiert hatten. Vorher wusste man ja nicht einmal, welche Spitzen eigentlich die höchsten waren. Der bloße Anblick täuscht da leicht. Begriffe wie Schartenhöhe oder Dominanz bedürfen auch heute noch der Erklärung: Schartenhöhe heißt die Höhendifferenz zwischen einem Gipfel und dem Punkt, bis zu dem man mindestens absteigen muss, um auf einen anderen Gipfel zu gelangen. Mit Dominanz wird angegeben, wie weit der nächste höhere Berg in horizontaler Luftlinie entfernt liegt.

    Mit derlei Informationen gerüstet, ziehen die beiden Frauen also los in ein Gebiet, das ihnen trotz aller Vorauslektüre, trotz mitgeführter Landkarten und kulturgeschichtlicher Bildung herzlich fremd ist. Das erst macht die Unternehmung ja zum reizvollen Abenteuer.

    Vieles ist im Gebirge nicht so, wie es scheint. Wenn der Mond einen wunderschönen Ring trägt, verschlechtert sich das Wetter; das fantastische Morgenrot zählt zu den unguten Aussichten. Die Bise weht im Sommer trocken und warm, im Winter ist sie eiskalt und feucht. Der Mistral sucht die Menschen im Süden mit der Kälte des Nordens heim. Der Alpenföhn, ein Fallwind, der als warmer Sturm fegt und riesige Wolkenballen vor sich her walzt, ist nicht nur eine meteorologische Angelegenheit. Er macht die Menschen gereizt und lustlos, verursachten Nackenschmerzen und Migräne, Gliederzerren, Muskelverspannungen, Magenbeschwerden, Herzrasen und Seitenstechen.

    Nicht nur die Bergwelt als solche mit ihren Witterungstücken und sonstigen Gefahren ist Nadja Klinger und ihrer Begleiterin fremd, sondern auch das Land, das sie durchqueren: die Schweiz. Mit dem dortigen Dialekt kommen sie natürlich nicht zurecht; dass sie sich nicht unbedingt beliebt machen, indem sie zum Gruß stets "Hallo!" rufen, merken sie bald - "hallo" sagen die Schweizer nur am Telefon. Mal oberflächlich amüsiert, mal tief bewundernd werden aber auch ein paar wirkliche Besonderheiten der Schweiz beschrieben: der Postautoverkehr zum Beispiel, jenes ultrazuverlässige Busliniennetz, das noch das kleinste Dorf erschließt. Oder das Drogeriewesen, das in Ergänzung zu den Apotheken ein starker und von der Bevölkerung hoch geachteter Pfeiler des Gesundheitssystems ist. Dem Drogisten von Wildhaus im Toggenburg ist sogar das Buch gewidmet, weil er die blasenwunden Füße der Autorin fachmännisch verpflastert hat - eine Erfahrung, die wiederum von Fremdheit handelt: wie nämlich der eigene Körper einem durch Anstrengung fremd wird.

    Es geht bergauf und bergab. Jeweils auf den ersten Metern genießt der Körper den Wechsel, dann fühlt er sich gegängelt. Ich erfinde einen knieschonenden Bergabgang. Man muss sich halten, als hätte man die Hosen voll, und ganz große Schritte machen.

    Die aber im Maßstab der Route auch immer nur kleine Schritte sind. Man kommt eben beim Wandern nur langsam voran - eine Tatsache, die man sich im Zeitalter der Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszüge erst mal gefühlsmäßig erarbeiten muss.

    Ja, überhaupt die Gefühle! Sie sind doch der Hauptzweck der ganzen Bergmarschiererei. Und mit der saloppen Lakonie ihres Stils bringt Nadja Klinger selbst die ganz großen Gefühle unverkitscht an den Leser:

    Saftiges Gras, saftige Erde, saftige Exkremente. Wir waten in den Spuren der Kühe. Unter uns klappt die Landschaft auf. Das Bergland fällt von uns ab und liegt uns zu Füßen. Bis zum Horizont liegt Gebirge am Boden. "He!", ruft Heidi. Feindliche Umgebung verlangt, dass man sich verhält. Prächtige Landschaft schert sich nicht. Man fühlt sich, als wäre man gar nicht da. "He", mault Heidi, "ich will nicht mehr!" Wir brauchen dreieinhalb Stunden bis zum Pass, länger, als wir für den Aufstieg vorgestern gebraucht haben. Wir schaffen es nicht bis nach oben, ohne zu frühstücken. Auf Steinen sitzen wir nebeneinander. Die Leinwand ist so weit gespannt, dass wir die Köpfe hin- und herbewegen müssen. Ich beiße in eine grüne Paprika, dass es nur so kracht. Heidi schluchzt wieder. Sie hat sich mit einem weißen Rock dem Gebirge gegenüber Geltung verschafft. Jetzt gibt sie sich geschlagen. "Es ist ... so ... schön."

    Nur Frauen können auf den Gedanken kommen, als Alpinistinnen in eine Art Schönheitskonkurrenz zur Landschaft zu treten: schon wegen dieses ebenso absurden wie gefühlswahren Aspekts sticht dieses Buch unter Dutzenden männlicher Reiseberichte hervor. Und auch, weil die drolligen Verhältnisse in den Berghütten, wo einander fremde Wandersleut unter reizvoll naturnahen Verhältnissen gemeinsam nächtigen, selten so drollig beschrieben worden sind:

    Schon vor 100 Jahren fiel den Frauen im Gebirge auf: Männer zögern nicht, vor breitem Publikum ihre Hüllen fallen zulassen. Sie schämen sich auch nicht, verschwitzte Kleider und stinkende Socken im Schlafgemach zum Trocknen über die Bettgestelle zu hängen. Mit ihren Beschwerden darüber, was sie, fest zwischen zwei männliche Körper gepresst, in Hüttennächten so erlebten, lösten Schweizer Wanderinnen in der Mitgliederzeitschrift des Schweizer Alpen Clubs eine Erotikdebatte aus.

    Die weibliche Perspektive verleiht diesem Buch zwar einen besonderen Reiz, sie bleibt aber meist im Hintergrund, denn die in der Bergwelt lauernden Gefahren unterscheiden nicht zwischen Mann und Frau. Da gibt es nicht nur die Herausforderungen des Wegs, sondern auch zunehmend Zwischenfälle mit wild gewordenem Hornvieh; zunehmend deshalb, weil unter dem Rubrum der artgerechten Tierhaltung immer mehr Kühe mitsamt ihren Kälbern auf der Alp unterwegs sind und fremde Spaziergänger artgerecht angreifen. Übrigens stammt das schmackhafteste und bei den Konsumenten beliebteste Fleisch ausgerechnet von der aggressivsten Rinderrasse.

    Doch auch ohne Wiederkäuer-Angriffe bieten die Alpen neben der Schönheit ein Panorama der Schrecken. Plötzlich steht ein Holzkreuz am Wegrand, das die Stelle markiert, wo unlängst ein Wanderer unglücklich abrutschte. Plötzlich schlägt das Wetter um, das diffuse Licht eines sonnigen Nachmittags verwandelt sich mit einem von Flachlandbewohnern ungekannten Tempo in eine undurchdringliche Wolkensuppe.

    Das Gebirge ist klatschnass und nebelverhängt, und wir sehen nichts mehr. Wir laufen auf einer Art fußbreitem Balkon am Hang, der drei Schritte vor uns in milchiger Soße ertrinkt. Einen halben Schritt neben uns ist der Abgrund, ohne Schrecken, weil randvoll mit Nebel gefüllt. Wo sollen wir hier ein trockenes Plätzchen finden und wie lange sollen wir warten und frieren? Wir einigen uns. Rasch und wie verabredet. Viel wert ist die Einigung nicht, denn wir befinden uns an der Alp Canasta, wo sich 1799 die Schreie stürzender Soldaten in Echos überschlugen. Es gibt keinen Grund, sich bei Regen und Dunst sicher zu fühlen.

    Immerhin ist die heutige Ausrüstung etwas besser. Aluminiumstöcke, Nylonzelte, Isolierfolien und -matten, ja sogar Rettungslampen, Ballons und Feuerwerk führen Bergsportler mit sich, von Handys ganz zu schweigen, die zwar nicht überall, aber schon an den unglaublichsten Orten Empfang haben. Und trotzdem:

    Jedes Jahr kommen beim Bergwandern in den Alpen mehr Menschen ums Leben als beim Klettern. Das liegt einerseits daran, dass mehr Menschen wandern als klettern. Andererseits brechen viele zu Fuß auf, die das lieber nicht tun sollten. Die nicht wirklich etwas über den Berg wissen und zu wenig über sich selbst. Seit 1952 beobachtet der Deutsche Alpenverein (DAV), wie seine Mitglieder durchs Gebirge kommen. Über die Hälfte all derer, die in der Bergunfallstatistik erwähnt werden, sind gestolpert, umgeknickt oder ausgerutscht. Es mangelte ihnen an Trittsicherheit und Kondition, sie litten unter Muskelschwäche und Gleichgewichtsstörungen. Ein Fünftel aller Unfallopfer bekommt unterwegs körperliche Probleme. Herz und Kreislauf machen nicht mehr mit, Erschöpfung wirft sie einfach um. Bei einem Drittel aller tödlichen Bergunfälle, die der DAV im Sommer 2005 auflistete, haben die Herzen von Männern zwischen 40 und 60 versagt. Ein weiteres Fünftel der Unfallopfer sind Wanderer, die einer sogenannten Blockierung aufsitzen.

    Die ist sozusagen ein innerer Absturz, ein seelisches Drama, das von dem alpinen Theaterraum auf geradezu gewaltsame Weise in Gang gesetzt wird. Man geht, und plötzlich spürt man, dass "es" nicht mehr weitergeht. Angst kommt hoch, weitgreifende Lebensangst. Es gehört schon Kraft dazu, überhaupt umkehren zu können. Und weitere Kraft, diese Umkehr, dieses Scheitern zu ertragen. Goethe ging dreimal auf den Gotthard und kehrte oben auf der Passhöhe um. Gewiss, es waren Frauenaffären, die ihn hinderten, den geplanten Weg nach Italien fortzusetzen, und einmal politische Ereignisse, aber er hat diese Umkehr auch jeweils lebensgeschichtlich aufgefasst.

    Der Höhenschwindel ist die Mutter aller Herausforderungen. Früher ließen sich Reisende, die in Kutschen oder Tragstühlen befördert wurden, die Augen verbinden, wenn es über bestimmte Wege und Stege ging. Nadja Klinger lief sehenden Auges über die schwierigen Stellen.

    "Ein Problem mit Hängebrücken?" - Nö. - Die Brücke: 56 Meter Spannweite, zwei Hauptseile, Holzbretter, die durch Seile stufenartig miteinander verbunden sind, wie eine schlaffe Wäscheleine hängt die Brücke durch, 22 Meter Höhendifferenz. Das Tobel: 70 Meter tief. Was soll ich sonst noch sagen? Es gibt Probleme, von denen man nicht weiß, dass man sie hat. - - Heidi geht vor. Es klappert unter ihren Schritten. Sie betritt ein Brett, löst Bewegung aus, die sich sofort aufs nächste Brett überträgt, aufs nächste, aufs nächste. So gesagt: Heidis Bewegungen eilen Heidi voraus. Das Bauwerk vollführt eine Art Hüftschwung. Und plötzlich kehrt Heidi um. Sie kommt gebückt, die Hände im Gesicht. "Geh schon mal, ich brauche länger."

    Von solchen Passagen erzählt am Ende des Weges jeder, der ihn bewältigt hat. Dabei ist Nadja Klingers und ihrer Freundin Alpenüberquerung durchaus frei von der inzwischen so beliebten Sportkletterei. Weder als Trimm-dich-Pfad noch als Gerüst für Steigübungen dient ihnen das Gebirge, sondern als naturgegebenes Hindernis, das es um des Fortkommens willen möglichst kräfteschonend zu durchlaufen gilt. Für sie sind die Alpen vor allem Panoramavorrat, Kulturlandschaft, Geschichtengenerator und Begegnungsraum. Aber jeder hat ja seine eigenen Alpen.

    In den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts kam es in den Alpen sozusagen in Mode, auf Gipfel oder Grate zu gehen. Es entstanden Alpenregionen voller Haken, Bügel, Leitern und Seilen. Aus Bergen wurden Gerüste. Man unterschied sie nach Schwierigkeitsgraden. Ab den späten Achtzigern war ein richtiger Berg fürs Adrenalin verantwortlich. Abermals wurde in den Alpen renoviert. Klettersteige wurden noch steiler, schwieriger, spektakulärer. Es steckte jetzt so viel Material im Gebirge, dass sich auch komplette Nicht-Alpinisten in die Höhe wagten.

    Diese Entwicklung hatte schon Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Interesse am Skifahren begonnen. Ein Wirtschaftszweig entstand, der den Bewohnern dieser kargen Gegenden ein mitunter beachtliches Einkommen sicherte, aber um den Preis nicht nur ästhetischer Verwüstung. Seilbahnen, Skilifte und Pisten zeichneten immer tiefere Kerben in die Landschaft, in mehreren Tausend Metern Höhe wurde Hotelkomplexe für den Massentourismus gebaut, künstliche Dörfer, erst aus Holz, dann aus Beton, die im Sommer zu unbewohnten Geistersiedlungen mutieren.

    Nadja Klinger referiert diese Geschichte einer zunehmend kontraproduktiven Übernutzung mit Bitterkeit und spürbarem Engagement, eine Geschichte, bei der Gut und Böse allerdings nahe beisammen liegen, weil alle mitmachen und profitieren wollten.

    Auch die Bergsteiger der alten Schule kamen auf Ideen. Sie durchstiegen zu zweit die Eigernordwand in nur zehn Stunden. Dann allein. Dann allein in knapp fünf Stunden. Dann in Begleitung einer Filmkamera. Dann in Begleitung einer Frau. Dann stieg eine Frau allein - und zwar im sechsten Schwangerschaftsmonat. Auch alte Bergsteiger wollen überall die Ersten sein. Sie gehen solo auf Berge, auf denen man bislang zu zweit gewesen ist. Sie überschreiten Berge, auf denen man bislang oben umgekehrte. Sie erklimmen alle vierzehn Achttausender. Sie gehen allein auf den Everest, ohne künstlichen Sauerstoff auf den Everest, ohne Begleiter auf den Everest.

    Zurück zu den Alpen! - möchte man rufen, wenn die Autorin sich gelegentlich ereifert. Denn leider mischt sich manchmal ein störender Propagandaton in die sonst so flotte, ein bisschen spöttische und ein bisschen ergriffene Wegbeschreibung. Selbst über schweizerische Politik, von der sie wenig versteht, lässt sie sich aus - vom Minarettverbot bis zum Asylrecht, das sie als "scharf" bezeichnet. Und an die Klimaerwärmung glaubt sie sowieso.

    Doch dann fällt auf einmal das Wort Demut, eine Vokabel wie ein gefundener Bergkristall, rein und richtig. Demut ist die vorherrschende Empfindung in dieser gewaltigen Felseneinsamkeit, in der bereits die Orientierung schwerfällt. Schon ganz am Anfang ihrer Reise stellt Nadja Klinger fest, dass die Ausrichtung unserer Sinne auf Straßen, Nahverkehrslinien, Ampeln und Hausnummernsysteme beim Bergwandern bloß Irrtümer hervorbringt.

    Das von den Bergriesen induzierte Gefühl der Demut erzeugt auch eine besondere soziale Sphäre: Fremde begegnen einander mit Respekt und Freundlichkeit. Der lange in Graubünden ansässige Nietzsche sagte: "Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe."

    Es ist die Ungeheuerlichkeit der Gesteinsmassen, deren Anschauung selbst verhärtete Seelen zu einer Art Demut führt. Und es sind Orte wie Elm oder Flims, an denen sich die furchterregende Gewalt solcher Gesteinsmassen entladen hat: zivilisationsbedingt durch Schieferabbau wie in Elm oder als vorgeschichtliche Katastrophe wie in Flims. In jedem Fall ist die tiefsitzende menschliche Angst vor der kinetischen Energie, die in der ruhigsten Landschaft steckt, nicht unbegründet. Niemand kennt die Stunde.

    Der Bergsturz trifft unsere Schwachstelle. Er rührt an unseren nachlässigen Vorstellungen vom Leben und von der Existenz der Dinge. An der Herabwürdigung des Unsichtbaren. An der Anbetung von Ärzten, Versicherungen, Experten und dem TÜV. Er ist ein natürlicher Prozess, der sich katastrophal auf uns auswirkt.

    Vielleicht sind Alpenbewohner souveräner im Umgang mit Gefahren. Vielleicht könnte man eine ganze Völkerpsychologie aus den Bedingungen des Berglebens entwickeln. Arnold Zweig hat das in seinem Buch "Dialektik der Alpen" getan, wie viele andere vor und nach ihm. Der Schweizer Charakter, die unerhörte Autonomie des Individuums, die diesem Staat und seiner politischen Verfassung zugrunde liegt, lässt sich auch durch Landschaftsgeschichte erklären. Zum Teil wenigstens.

    Die Landschaft wiederum begünstigt die Verteidigung dieser Autonomie; die Alpen bilden eine Festung, in der der Mythos Schweiz residiert. All dies hat Nadja Klinger, indem sie gemäß dem doppelsinnigen Titel ihres Berichts über die Alpen lief und schrieb, trefflich erfasst. Es war ihr neu, und diese Frische der Erkenntnis prägt den Text. Auch das ist eine Folge ihrer Fortbewegungsart: Bewegung durch den Raum macht intelligent, haben Psychologen festgestellt. Wie gesagt: Es täte der Literatur generell gut, wenn in ihr mehr gelaufen würde.

    Nadja Klinger: "Über die Alpen. Eine Reise". Rowohlt Berlin 2010, 318 S., 19,95 Euro