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Als der Marx wegfiel

1989 war Leipzig ein Zentrum der Protestbewegungen. Während draußen die friedliche Revolution tobt, wird in den Hörsälen der Karl-Marx-Universität regimtreu weiter studiert. Natürlich nicht ohne Ausnahmen.

Von Christoph Kotschate | 09.11.2010
    Welche Folgen dieser Tag am Ende haben wird, kann sich Cornelius Weiss, späterer Rektor der Universität Leipzig, am 9. November 1989 noch nicht vorstellen. Sie werden erheblich sein. Doch die Demonstrationen in Leipzig, die all das mit auslösen, werden nicht durch die Uni geprägt, erinnert sich Weiss.

    "Ja da muss man bedenken, dass die jungen Leute froh waren, einen Studienplatz zu haben, ihr Studium war ihnen wichtig und man kann es den jungen Leuten nicht verdenken, dass sie anfangs Schwierigkeiten hatten, ihren Studienplatz möglicherweise zu riskieren. Das galt auch für die Wissenschaftler."

    Während draußen die friedliche Revolution tobt, wird in den Hörsälen weiter studiert. Natürlich nicht ohne Ausnahmen: Weiss ist ab Oktober bei den Demos, ebenso André Jaroslawski. Der ist damals Sprecher des ersten frei gewählten Studentenrats. Die ersten Forderungen: Bessere Stipendien und soziale Absicherungen für Studierende. Aber auch im Hochschulalltag machen sich bald Veränderungen bemerkbar.

    "Man sprach von dem sogenannten Giftschein, der erlaubte Literatur zu lesen die nicht öffentlich zugänglich war. Und das fiel weg, sowohl in den Bibliotheken wurden Bücher zur Verfügung gestellt wie auch in den Buchhandlungen tauchten auf einmal die Bücher auf, die wir jahrelang gern offiziell gelesen hätten."

    Und der Lehrstoff verändert sich. In einigen Fächern, sagt Cornelius Weiss, müssen die Inhalte erheblich umgestaltet werden.

    "Die ehrlichen Professoren haben gesagt: Liebe Leute, wundert euch mal nicht, kann sein, dass ich jetzt Dinge anders erzähle als ich sie noch vor einem oder zwei Jahren erzählt hätte. Verzeiht mir: Ich hab das manchmal gar nicht gewollt. Oder ich habe mich geirrt."

    Auch der Geschichtsstudent Jaroslawski erlebt einige Kuriose Situationen.

    "Ich kann mich noch an einen Professor erinnern, der sagt: Also ich war und bin wahrscheinlich Stalinist. Da dachte ich auf der einen Seite: Immerhin, dass er so etwas von sich sagt und gleichzeitig kann ich mich an seine Vorlesungen erinnern. Die waren sinnlos."

    In einigen Fällen belässt man es zunächst bei Umbenennungen. Marxismus-Leninismus, Pflichtfach in der DDR, läuft zunächst unter Gesellschaftstheorie weiter. Die Karl-Marx-Universität nennt sich seit 1990 wieder "Universität Leipzig".

    "Diejenigen, die auf Reformen drängten, waren zunächst in der Minderheit. Hätte man uns Zeit gelassen, hätten wir die Reformen auch aus eigener Kraft geschafft, da bin ich überzeugt. Aber der Politik ging das zu langsam, deswegen wurde beschlossen, dass sich auch die Wissenschaftsinstitutionen einer Evaluation zu unterziehen hätten."

    Der frisch gegründete Freistaat Sachsen treibt die Reformen voran. In einer fachlichen und einer ideologischen Evaluation wird jeder Dozent auf den Prüfstand gestellt.

    "Ehemalige Fachkollegen aus der Bundesrepublik, die mich zwei Jahre vorher noch umarmt hätten, wenn ich sie zu einer unserer Fachtagungen eingeladen hätte, die saßen plötzlich als strenge Richter vor mir und fragten mich, ob ich denn in Englisch publiziert hätte. Eine saublöde Frage! Gastaufenthalte in westeuropäischen Universitäten. Ja wie denn, wenn man nicht ausreisen durfte?"

    Die Kommissionen werden als Demütigung empfunden, zwei Dozenten verweigern sich der Evaluation. weitere müssen nach dem Urteil der Kommission die Universität verlassen. Nach wenigen Jahren kommt ein Drittel der Dozenten aus den alten Bundesländern. Forschungszweige werden abgewickelt, nicht immer einvernehmlich. Das vormals gute Betreuungsverhältnis der Studenten wird auf West-Niveau abgesenkt. Nicht alle Hoffnungen, die sich Cornelius Weiss in dieser Zeit gemacht hat, werden enttäuscht. Aber Sein Ziel, die Uni wieder zu einer der renommiertesten Deutschlands zu machen, sieht er noch nicht erfüllt.

    "Nein, das hat sie noch nicht geschafft. Das kann man an diesen formalen Kriterien sehen: Exzelleninitiativen, Anzahl der Sonderforschungsbereiche, Berufungen anderswohin- da wird sie noch lange arbeiten müssen."