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Als Dichter ein Solitär

Lutz Seilers vierter Gedichtband heißt "im felderlatein". Nun legt der in Wilhelmshorst im Peter-Huchel-Haus wohnende Autor nach einer längeren Pause – in der er erfolgreich als Prosaautor reüssierte – einen neuen Gedichtband vor. Die darin versammelten Gedichte sind in den letzten sieben Jahren entstanden.

Von Michael Opitz | 26.01.2011
    In seinem neuen Gedichtband "im felderlatein" geht Lutz Seiler in landschaftlich vertraute Gegenden. Durch das Echo seiner Schritte werden Geschichten hörbar. So bekommt Seiler Zugang zu längst vergangenen Zeiten, Zeiten, die noch immer vertraut klingen. Aber beim intensiven Nachhören stellt das lyrische Ich fest, dass es in den Erinnerungsräumen neben den hellen auch dunkle Winkel gibt. Vieles, was früher wie selbstverständlich vertraut war, erweist sich mit dem Abstand von Jahrzehnten als fremd. Orte, Personen und Dinge, die er zu kennen glaubte, erwecken zwar einen vertrauten Eindruck, aber in Wirklichkeit sind sie von Fremdheit umgeben. Auf die Anwesenheit des Fremden im scheinbar Vertrauten nimmt der Titel von Lutz Seilers Gedichtband "im felderlatein" Bezug.

    "'im felderlatein' ist eine Findung. Dieses Wort gibt es natürlich nicht. Es hat zwei Seiten. Es heißt zum einen: Im Acker einer Sprache sein, auf dem Feld einer Sprache umher zu gehen. Zum anderen: Durch diese Landschaft zu gehen. Man lauscht auf die Legenden einer Landschaft, indem man im Acker einer Sprache sich bewegt und da klingt natürlich sofort – wenn man Legenden sagt, das Märchenhafte sagt – Anglerlatein durch und genau das ist beabsichtigt. Also es gibt einige Texte in diesem Band, die das Legendäre eines Stoffes, das Märchenhafte eines Stoffes aufgreifen, wie man sich das beim Anglerlatein auch vorstellt. Ein bisschen Hokuspokus, aber auch legendäres Erzählen."

    Lutz Seiler wurde 1963 in Culmitzsch geboren, einem Ort in der Nähe von Gera. Culmitzsch war lange Jahre ein von der Landwirtschaft geprägtes thüringisches Dorf. Verschlafen – bis man im Boden Uran entdeckte und mit der Förderung dieses radioaktiven Schwermetalls begann. Von jenem Moment an bewegten sich die immer größer werdenden Abraumhalden auf Seilers Heimatdorf zu, bis es 1968 von der Landkarte verschwunden war.

    "Ein Teil der eigenen Geschichte ist plötzlich weg, und das ist auch eine Erfahrung, die die Wende beispielsweise mitbringt. Ein Teil der eigenen Geschichte verschwindet, wird unsichtbar, wird in relativ kurzer Zeit völlig überzeichnet, und das ist immer eine ständige Herausforderung für das Schreiben. Die Rekonstruktion von dem, was war denn eigentlich? Was ist gewesen? Wo komme ich her und wer war ich damals selbst? So geht es mir auch mit Culmitzsch. Culmitzsch war der erste Ort in meinem Leben, den gibt es nicht mehr. Da gibt es jetzt nur noch ein Feld und eine Straße."

    Bereits in seinen früheren Gedichtbänden "pech & blende" von 2000 und "vierzig kilometern nacht" von 2003 erinnert Lutz Seiler an die Landschaft seiner Herkunft, wenn er Bezüge zu seinem Geburtsort herstellt. Diesen verschwundenen Ort ruft er erneut in dem Gedicht "culmitzsch" aus dem jetzt erschienen Band "im felderlatein" auf.

    "culmitzsch

    am abend verrosten die schafe
    über der brache, vögel
    wie dahingeschneit & nachgedunkelt ...

    nur unter dem schutt
    sind die höfe noch warm. die löffel
    liegen bei den löffeln, das fett
    an den stiefeln & zur stiefelkammer führt
    jene zwergenhafte tür, die dich
    zu tränen rührt, mutter der löffel

    käm ich nach haus, wäre alles gesagt.
    dein ortsfestes gehen, die
    krätze, das kleinvieh, das stricken
    gegen die strömung & ein geruch
    von auferstehung in der luft;

    salpetergedanken, salpetergespräche,
    das feuchte im kissen
    unter den köpfen, wenn sie noch träumen
    die pilze der atmung; der lehm
    der kühl in meine
    lungen rieselt beim tief schlafen ...
    glück auf, gute nacht
    mutter der löffel, prinzessin der schürze; du

    warst nie & warst von nichts beschienen, du
    strahltest alles selber aus glück auf
    gute nacht ihr betrunkenen mütter. heimkehr
    ist einkehr des atems
    staubige umkehr & leise

    wie von ferne fällt
    der lehm zurück, langsam
    aus der zeit ins stroh & um
    die unsichtbaren fugen haftet
    ein gebälk, das sich von selbst
    errichtet, o

    auffahrt der höfe ins fachwerk der nacht.
    der hund gilt als schwierig, der fusel
    wiegt schwer
    rollen die schatten
    der vögel im schutt;
    das ist die steinzeit der dörfer"


    Culmitzsch existiert nur noch in der Erinnerung. Der Ort wurde ausgelöscht. Geblieben sind die Felder, von denen er einst umgeben war. Unschuldig liegen sie in der Landschaft und erwecken den Eindruck, als wäre nichts geschehen. Seltsam mutete allerdings die sich durch die Felder ziehende Straße mit ihren sinnlosen Links- und Rechtskurven an. Nur der Eingeweihte weiß, dass in der Straßenführung die Erinnerung an das verschwundene Dorf aufgehoben ist. Solchen Spuren ist Lutz Seiler in seinem neuen Gedichtband nachgegangen.

    "Das eigentliche Faszinosum für das Schreiben – für mich ist es jedenfalls so – ist die Tatsache: dass Zeit vergeht. Das ist unglaublich, dass Zeit vergeht. Und indem Zeit vergeht, gibt es einen Abstand und der Abstand macht etwas. Er verändert die Figuren, er verändert uns selbst. Es gibt eine neue Korrelation im Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinein, und das ist das Feld des Schreibens. Da sind wir wieder im "felderlatein". Genau diese Spanne aus gegenwärtigem Schauen, Denken, Überlegen, hin zu dem, was wir glauben, was in der Vergangenheit gewesen sein soll. Das ist immer wieder das, was das Schreiben anregt: das sind die Ausgangspunkte."

    Auffällig an den Gedichten des neuen Bandes ist, dass sich Seilers lyrisches Ich nicht nur in die Welt hineinhört, sondern es geht in die Landschaft hinein, wobei es sich, wie es in verschiedenen Gedichten heißt – "schritt für schritt" vorwärts bewegt.

    "was ich besaß

    in der bogenschrift des ackers glänzten
    ein paar glasbausteine, büschel gras & kleine
    gebeine: wie

    alles beieinander liegt zum schluss.
    anstieg, aufstieg & so war
    viel morsen, funken, scheitern um
    die füße, schritt für schritt. ich

    hatte die kapuze dicht am ohr, das läuten
    der arme, die feine
    schabende arbeit des mantels, vor
    zurück, zurück & vor – mein

    schleichendes quartier.
    ging ich langsam, war es leiser &
    blieb ich einmal stehn, so war
    ich fast gestorben"


    Bemüht um ein eigenes Schrittmaß macht das lyrische Ich allerdings die Erfahrung, dass es abhängig ist von den Bewegungen der Geschichte. Es muss das eigene Schrittmaß der Bewegung des Zeitalters abtrotzen und zu einem eigenen Gang finden.

    "Das Gehen ist im Grunde die Ausgangserfahrung für viele dieser Texte. Man geht in die Landschaft hinein, man ist im "felderlatein". Es sind Schrittfolgen, also eine bestimmte Art zu gehen, durch die die Texte strukturiert werden. Man geht in einen bestimmten Bewusstseinszustand hinein, Schritt für Schritt. Der Körper nimmt im Gehen bestimmte Bewusstseinszustände an. Man geht unter Umständen in eine Träumerei hinein, man geht in eine Abwesenheit hinein, man erreicht eine bestimmte Form von Absenz. Gleichzeitig geht man durch die Landschaft. Man sieht die Bilder dieser Landschaft. Aus diesen besonderen Bewusstseinszuständen heraus, die das Gehen mit einem macht, die beim Gehen erreicht werden, gibt es eine Zugriff auf das, was zu sehen ist oder auf das, was wir glauben zu erkennen."

    Auf der Suche nach seinem Schrittmaß wird der Einzelne von der Geschichte geschoben, wie es in Seilers "darß gedicht" heißt. So kann es passieren, dass ganze Jahrgänge aus dem Schritt kommen und im falschen Schritt mit der Zeitgeschichte mitmarschieren, getrieben von dem Ehrgeiz, weit vorn liegen zu wollen. Hingegen bricht das lyrische Ich in dem Gedicht "wer hinten geht" aus einem verordneten Schrittmaß aus. Es will nicht zur Avantgarde gehören und begnügt sich mit einem Platz im hinteren Feld. Es hält Abstand. In diesem Bekenntnis zum langsamen Gehen sind Seilers Gehende Nachfahren der Flaneure – doch mit einem Unterschied: Seilers Gehende halten sich fern von den großen Städten.

    "wer hinten geht

    wer hinten geht
    hat seine eigne welt. ganz leicht
    fällt alles vom geräusch
    der schritte ab
    ins laub. du hörst

    ein schleppen, scharren, schleifen
    seiner beine auf
    das unbeschriebne zentrum hin
    mit schritten, die bloß weitergehn
    wenn er die augen

    schließt im rücken
    ziehn die berge fort mit ihm
    aus ihren existenzen
    voller höhlen, flüsse, gipfel an
    den füßen, wer

    hinten geht, durchmisst den tag
    den du vergessen hast (...)"


    Lutz Seiler ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. In seinen Gedichten aber erzählt er die Geschichten nicht "aus", sondern er schlägt nur wenige Takte an und gibt so einen Ton vor, der lange nachklingt. Seiler legt in seinen Gedichten Tonspuren. Wer ihnen nachhört, findet neben der von Seiler intendierten Geschichte auch Zugang zu ganz eigenen, lange zurückliegenden Ereignissen.

    Lutz Seiler ist als Dichter ein Solitär. Inzwischen fallen einem immer weniger Namen ein, die mit seinem in einem Atemzug zu nennen wären, so unverwechselbar und einzigartig meldet sich diese lyrische Stimme zu Wort.

    Lutz Seiler: im felderlatein. Gedichte.
    Suhrkamp Verlag. Berlin 2010. 99 Seiten, 14,90 Euro.