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Als die Frauen frei wurden

In seinem 1972 geschrieben Roman "Die Zivilisation, Mutter" träumt Autor Driss Chraibi von dem Einzug des Feminismus und der Zivilisation in Marokko: Eine Mutter, bisher ans Haus gefesselt, bildet sich, verschafft sich Schritt für Schritt intellektuelle Freiheit und Eigenständigkeit.

Von Kersten Knipp | 04.02.2010
    Eine angenehmere Erscheinung als Monsieur Ktö kann man sich schwerlich denken. Still steht er in seiner Ecke, rührt sich nicht, belästigt niemanden. Voller Diskretion verharrt er dort, verhält sich ruhig und lässt sich nur dann vernehmen, wenn es gewünscht ist. Auch sonst ist er ganz wunderbar: Er beansprucht keinen Platz, fordert von sich aus nichts, verzichtet sogar auf Essen und Trinken und scheint auf nichts anderes aus als darauf, seine Umwelt zu unterhalten.

    Ja, so einen wie Monsieur Ktö, eigentlich Monsieur Blo Pöng Ktö, findet man kein zweites Mal. Zumindest findet man sie nicht allzu oft im Marokko der 1940er-Jahre, wo gerade das Radio Einzug hält, jene sonderbare Spezies sprechender Apparate, zu der auch Monsieur Blo Pöng Ktö gehört - jenes wunderbare Geschöpf aus dem Haus Blaupunkt, artikuliert à la française, also als Blo Pöng Ktö.

    Es sind wunderbar humorvolle Szenen, in denen der marokkanische Autor Driss Chraibi vom Einzug der westlichen Moderne in sein Heimatland erzählt: von dem geheimnisvollen Radio, das die ganze Welt zu kennen scheint, das niemals Hunger und Durst hat, obwohl doch offenbar so viele Menschen in ihm wohnen; vom elektrischen Licht, das sich durch eine einzige Handbewegung an und aus und dann wieder einschalten lässt; von jenem erstaunlichen Bügeleisen, das man, um es heiß werden zu lassen, nicht auf die gusseisernen Ofenplatten stellen muss, sondern das einen kleinen Schwanz hat, den man in zwei spezifische Löcher in der Wand stecken muss; oder auch vom Kino, das Fiktion und keine Realitäten auf die Leinwand bringt, weshalb es nichts bringt, aus dem Zuschauersaal mit den Schauspielern in Kontakt treten zu wollen. All das umfasst sie, die westliche Moderne, die so verheißungsvoll daherkommt, dass man sie anders nennen muss: die Zivilisation.

    Diese Zivilisation kommt mit vielerlei Verheißungen daher, aber die schönsten sind vielleicht die, die sich an den Verstand und das Herz richten, die die Menschen ermuntern, die Welt mit anderen Augen zu sehen - und nicht nur zu sehen, sondern auch zu verändern. Veränderungen brauchen in traditionellen Gesellschaften Zeit; aber weil sich in Chraibis Roman alles so ungeheuer schnell verändert, ist es vielleicht am angemessensten, ihn als ein Märchen zu verstehen. Denn anders könnte man kaum für möglich halten, wie sich jene Mutter, von der der Romantitel spricht, auf gerade mal 170 Seiten von einer im Alter von 13 Jahren verheirateten Vollwaise zu einer Vorkämpferin der südlichen Welt entwickelt, zu einer leicht verspäteten Revolutionärin des Dekolonialismus, der sein wichtigstes Ziel, die Unabhängigkeit nahezu überall erreicht hatte, als Chraibis Buch 1972 auf den Markt kam.

    Zu diesem Zeitpunkt lebte der 1926 geborene Autor bereits seit rund zwei Jahrzehnten in Frankreich. Dort hatte er bereits einen weiteren epochemachenden Roman geschrieben, nämlich "Les boucs", zu deutsch "Die Sündenböcke". Er handelt vom Schicksal maghrebinischer Migranten in Frankreich, und schon der Titel deutet an, dass sie dort bestenfalls bedingt willkommen sind. Über die Haltung der Franzosen ihren ehemaligen nordafrikanischen Schützlingen machte sich Chraibi keine Illusionen. Allerdings ist die Zivilisation etwa Überpersönliches, ist als Ganze nicht abhängig von den Launen des Einzelnen, darum im Ganzen auch dann verheißungsvoll, wenn sich einige der bereits Zivilisierten reichlich widerwärtig benehmen. Dass jedenfalls auch von den marokkanischen Traditionen nichts mehr zu erwarten ist, diese Meinung vertrat Chraibi in seinem 1954 erschienenen Roman "Le passé simple", in dem er die marokkanische Heimat so scharf kritisierte, dass das Buch dort bis 1977 auf dem Index stand.

    Und dann also, 1972, "Die Zivilisation, Mutter". Über ihre zwei Söhne lernt die Mutter Schritt für Schritt, was der Mensch der Zivilisation verdankt. Und das ist eine ganze Menge, im Grunde alles: Bildung, Wissen, kritisches Denken und intellektuelle Freiheit, Emanzipation von überkommenen Sitten, den Vorgaben einer rigiden Tradition. "Als ich dich geheiratet habe, warst du dreizehn, Waise seit jeher", erklärt der Ehemann seiner sich emanzipierenden Frau, als es ihm zu bunt wird mit deren zunehmender Selbstständigkeit. "Du warst ohne irgendeine Familie. Du wusstest nicht einmal, was ein Ei ist, wie es aufschlagen, wie es kochen, wer es legt, Katze, Kuh oder Elefant. Ich habe dich erzogen, du hattest keine Vergangenheit, ich habe aus dir eine ehrenwerte Frau gemacht, ich habe dir das Leben erleichtert. Ich habe alle deine Probleme gelöst."

    Soweit der fürsorgliche Gatte. Soweit auch die Rolle, die eine traditionelle Gesellschaft für ihre Frauen vorsieht. Doch so scharf Driss Chraibi in "Passé Simple" mit dieser Gesellschaft abrechnet, so verspielt inszeniert er die Emanzipation in diesem Roman. Die Mutter bildet sich, besucht Kurse aller nur erdenklichen Art, liest alle Bücher, deren sie habhaft wird, kennt sich, fast über Nacht, in Geschichte, Politik, Ökonomie aus. Beschließt sogar, General de Gaulle, dem französischen Staatspräsidenten, eine Lektion in Sachen angemessener Politik zu halten. Und am Ende - vielleicht das größte Wunder in einer patriarchalischen Gesellschaft - macht sie sogar den Führerschein. Und selbst ihren Mann wird sie am Schluss bekehren. Er begreift, dass Frauen nicht dazu da sind, im Haus eingesperrt zu werden.

    Chraibis Roman kommt wie die Illustration einer feministischen Programmschrift daher. Könnte man sagen. Ebenso könnte man aber auch sagen, der Autor ergehe sich in schönen Träumen, entwerfe ein surrealistisches Spiel, in dem das zum Vorschein kommt, was aus Marokko werden könnte - und was nun, fast 40 Jahre nach Erscheinen des Romans, ansatzweise, hie und da, Wirklichkeit wird. Längst werden feministisch gesinnte Frauen in Marokko nicht mehr in den Bereich der Bücher und Fiktionen verbannt, im Gegenteil: Sie formen, wie das vor einigen Jahren grundlegend reformierte Familienstandsgesetz zeigt, die Gesellschaft nach Kräften mit. Und so könnte man Driss Chraibis Roman als kleine Archäologie weiblicher Eigenständigkeit deuten, als Puzzle oder Mosaik, in dem zahllose feministische Motive, Regungen, Kräfte zusammenfinden, die Spuren zahlloser Frauen, gebündelt in einer einzigen Protagonistin, die darüber wunderbare, fantastische, übermenschliche Züge erhält. So verstanden, erfüllt Chraibis Roman "Die Zivilisation, Mutter" eine der wichtigsten Aufgaben der Fiktion überhaupt: Sich auszumalen, was - noch - nicht ist, irgendwann aber mal sein könnte. Am Anfang war das Dichterwort, und als Driss Chraibi im Jahr 2005 in Frankreich starb, konnte er sich freuen, dass dieses Wort zu Teilen Wirklichkeit geworden war.

    Driss Chraïbi: Die Zivilisation, Mutter
    Unionsverlag, 2009, 188 Seiten, 8,90 Euro