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Als die Hütchenspieler noch auf der Straße standen

Die Wege kultureller Wahrnehmung sind verschlungen. Es muss nicht immer ein Opern- oder Schauspielhaus sein, ein Kunstverein, oder ein Kaufhaus, manchmal genügt der Blick in die 100 Hertz flimmerfreie Flimmerkiste und das Herzflimmern beginnt. Wo bin ich , was kann ich wissen, was darf ich hoffen, was ist der Mensch? Mitternächtliche kantisch-kantige Fragen, die einem so kommen können, bis dann die Verkündigung kommt. Ein Europäisches Kolleg der Künste, eine Initiative von Audi, die mit den Autos, der Universität der Künste und der Medieneunternehmerin Christiane von und zu Salm machen es möglich - neun Monate gibt es ein Stipendium, damit was wächst, Kunst natürlich. Wo man das erfährt, bei Fernsehsender 9Live, deren Chefin Christiane zu Salm ist. Und wer bezahlt das? Dafür gibt's ja die Ratespiele mit eingeblendeter Frage und Rufnummer.

Von Beatrix Novy |
    Unlängst habe ich mich spätabends im Bett wieder ein bisschen verzappt und es geschah, dass ausgerechnet 9Live mich in meine Träume begleitete. 9Live ist der Sender, dem, ich sage das gleich, kein Gericht bisher etwas anhaben konnte, denn sie beschäftigen dort einen Haufen Juristen, die alles wasserdicht machen. Bei 9Live stellen sie Rätsel, die ziemlich einfach aussehen, das sagen auch die Moderatoren immer: ist doch ganz einfach, und "Rufen Sie an!", denn wer das Rätsel löst, kriegt 100 Euro oder 200 oder 500, aber das spielt keine Rolle, weil die Rätsel unlösbar sind und sowieso keiner das Geld kriegt. Und wenn doch einmal, dann nicht soviel, wie er dachte, denn dann stellt sich raus, dass man statt 1000 Euro nur die Chance auf 1000 Euro gewonnen hat beziehungsweise einen verschlossenen Briefumschlag mit 50 Euro drin und so weiter.

    In Wirklichkeit weiß natürlich jeder, dass es bei 9Live gar nicht ums Gewinnen, sondern um die in den 9Live-Warteschleifen auflaufenden Telefongroschen geht, weil man zu 9Live so gut wie nie durchdringt, aber für jeden Versuch zahlt. ((Das läppert sich. Für den einzelnen Anrufer sind's nur ein paar Euro mehr oder weniger, je nach Abhängigkeit, für die 9Live-Geschäftsführerin Christiane zu Salm ist es der Lebensunterhalt. ))

    Deshalb beschäftigt 9Live-Moderatoren im Rollenfach zwischen verzweifelter Staubsaugervertreter und Jahrmarktganove, sie blaffen unablässig: Ruft an, Leute!, mit diesem Augenzwinkern für die nicht ganz Doofen, das sagen will: Kommt schon, Ihr wollt doch betrogen sein. Stimmt ja auch, und wie ich also neulich unter diesen Beschwörungen einfach wegschlief, da war plötzlich der Moderator kein zynischer Schmierlapp mehr, sondern ein ernsthafter junger Mann, der mit trauriger Stimme sagte: "Unsere Chefin weint. Soviel Erfolg sie hat, sowenig gesellschaftliche Anerkennung wird ihr zuteil. Keiner will mit ihr was zu tun haben. Keiner lädt sie zum Lachsfrühstück ein, vor der Prominentendisco weist sie der Türsteher ab. Selbst verarmte Damen der Society sagen: "Sicher, ihr Geld könnte unsere Familie schon brauchen, aber einer Hütchenspielerin will ich meinen Sohn nun doch nicht zum Manne geben, nur weil sie ihr Gewerbe im Fernsehn treibt." Das sagen die. Dabei hat unsere Chefin in Harvard studiert und interessiert sich für Kunst und Literatur. Ist es nicht unfair?"

    Bei diesen Worten erwachte ich und war in der Wirklichkeit, und der Moderator war wieder ein Schmierlapp und Christiane zu Salm, die Chefin von 9Live, gehörte wieder zu den Spitzen der Gesellschaft und hatte gerade, zusammen mit der Berliner Akademie der Künste und der Audi AG, das Europäische Kolleg der Künste gegründet, für das die Kulturstaatsministerin Christina Weiss gern die Schirmherrschaft übernahm, und alle Beteiligten mussten etwas Erhebendes zu ihrem Projekt sagen, auch Christiane zu Salm, und sie sagte: "Außergewöhnliche Künstler und erfolgreiche Unternehmer zeichnen sich gleichermaßen durch eine besondere Form der Kreativität aus, die neue Wege geradezu sucht und Bedenken und Begrenzungen überwindet."

    Bedenkenüberwindende Künstler aus den Bereichen Bildende Kunst, Design und Komposition aus 7 EU-Ländern können ab sofort vorgeschlagen werden. Den Preisträgern winken 9 Monate Kost und Logis in Berlin und Ingolstadt. Und doch. Wäre ein Moderatorenkurs bei 9Live langfristig nicht doch einträglicher?