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Als die Kinder ihre Unschuld verloren

Während des Zweiten Weltkriegs spielen Kinder "Krieg an der Ostfront", in Häuserruinen richten sie ein KZ ein und quälen einen Kameraden zu Tode: Der schockierende Roman "Fligeralarm" von Gisela Elsner ist neu aufgelegt worden.

Von Sabine Peters | 24.09.2009
    Neun Kinder im Vorschulalter, während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland. Die Ich-Erzählerin Lisa und ihr kleiner Bruder Kicki sehnen Bombenangriffe herbei, denn die bringen ihnen Bombensplitter, das ist die gemeinsame Währung der Kinder. Außerdem bringen ihnen die Bombenangriffe neue Ruinen, die sie als Residenzen untereinander aufteilen.

    Die Erzählerin und ihr Bruder verachten die Eltern als feige Zivilisten, sie spielen "Krieg an der Ostfront", lassen sich von den gleichaltrigen Freunden zum General oder SS-Mann ernennen und richten in einer Ruine ein KZ ein. Jetzt fehlt ihnen noch ein Jude.

    Gisela Elsner, die von 1937 bis zu ihrem Selbstmord 1992 lebte, wird mittlerweile oft als eine Art ältere Schwester von Elfriede Jelinek und Michel Houellebecq bezeichnet. Wie diese beiden Autoren galt auch sie als ein skandalumwittertes Enfant terrible des Literaturbetriebs. Dabei fehlte ihr der Gestus kühler Überlegenheit. Elsner provozierte - und zwar immer da, wo es gerade nicht schick war zu provozieren. Ihre Romane sind allesamt maßlos, ätzende Satiren auf das deutsche Gemüt, auf die bürgerlich-kleinbürgerliche Gesellschaft. Sie sind so monströs und bizarr, dass man das Fürchten lernen kann.

    Elsners letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman "Fliegeralarm" gehört zu den Büchern, die man stellenweise lieber nicht gelesen haben möchte. Die hier geschilderten Kinder, die in der straff hierarchisch organisierten Gruppe allesamt schon ihre Rollen gefunden haben, ernennen den Kommunistensohn Rudi zum Juden, zum Untermenschen. Sie geben halb verdaute Nazipropaganda von sich, sie sind ständig benebelt von gestohlenem, codeinhaltigen Hustensaft - und sie werden Rudi in ihrem KZ in einer der Ruinen zu Tode quälen. Rudis Mutter, die ihren Sohn verzweifelt sucht, wird von den Kindern kaltblütig in die Irre geführt.

    Als der Kleinste, Kicki, die Situation nicht mehr aushält und seiner Mutter alles gesteht, schenkt die ihm keinen Glauben, sie singt ihm "Heile-heile-Segen" vor. Natürlich regt sich zwischendurch das schlechte Gewissen, dann wird der Gefangene mit gestohlenem Essen und Medizin vollgepumpt. Sie drohen ihm: Wir bringen dich um, wenn du stirbst. Und als Rudi gestorben ist, fragen sie sich, ob die Leiche nicht eines Tages gefunden wird. Weitere Bombenangriffe lösen das Problem, die Ruine wird vollständig verschüttet und damit geht für die Kinder in Erfüllung, wovon sie immer geträumt haben: Das muss die Endlösung sein, von der die Erwachsenen manchmal flüstern.

    Soweit in groben Zügen die Handlung, die einerseits vorhersehbar wie ein Uhrwerk abläuft - aber die Autorin setzt andererseits immer wieder unerwartete, schreckenerregende Höhepunkte. Die Kinder taumeln zwischen Allmacht und Ohnmacht, und das Gefühl ihrer absoluten Freiheit, alles tun zu können, lässt sich vom absoluten Zwang nicht mehr unterscheiden.

    Der Roman, der zuerst 1989 veröffentlicht wurde, ging in Wendezeiten unter, beziehungsweise er wurde gründlich missverstanden. Man suchte nach Authentizität, nach psychologischer Stimmigkeit - und fand beides nicht. Kein Wunder: Die Gestalten in "Fliegeralarm" sind entpsychologisiert, sie treten als reine Funktionen auf. Gisela Elsner schreibt nicht von Kindern, sie experimentiert vielmehr mit Kunstfiguren.

    Diese Figuren sprechen und handeln nur gelegentlich altersentsprechend, so wie Fünfjährige; "ich bin schon viel zu alt, um noch mit Spielsachen zu spielen", heißt es einmal. Die Kinder verhalten sich allerdings zeitgemäß, infiltriert vom Faschismus, der allgegenwärtig ist; denn auch Eltern, die die Nazis verfluchen, drohen ungehorsamen Kindern mit dem KZ. Das Monströse der kindlichen Figuren liegt im Nebeneinander von Rationalität und Irrationalität, das sie bestimmt, und damit werden sie zu Abziehbildern des Faschismus selbst.

    Der Faschismus kann bis heute nicht schlüssig erklärt werden, immer bleibt ein Rest, ob in politischen Analysen oder in künstlerischen und literarischen Annäherungen. Es ist ein nicht allzu häufig angewandtes Verfahren, die Perspektive der Täter einzunehmen. Viele Generationsgenossen von Elsner entschieden sich eher dafür, den Opfern des Faschismus eine Stimme zu geben. Gisela Elsner provoziert, indem sie Kinder als Täter agieren lässt, indem sie ihnen die vielbeschworene Unschuld nimmt, sie zu Bestien macht, die dabei immer auch mit sachlicher Lust vorgehen.

    Über quälend lange Strecken des Buchs kennen die überhitzten und gleichzeitig eiskalten Fantasien der Kinder kein Gegenüber, kein Du mehr. Wenn dann aber doch einmal Mitleid ausbricht, Angst, ein Weinkrampf angesichts des misshandelten und schließlich toten Rudis, flüchten sich die Kinder in Floskeln wie die von der Jugend, die hart wie Kruppstahl zu sein hat.

    Immer wieder wurde Gisela Elsner für ihre Schreibweise kritisiert: geschachtelte, verfilzte, hypotaktische Sätze voller Wiederholungen. Man muss sich da erst hineinlesen. Der elaborierte, hohe Ton, mit dem hier eine rettungslose Welt gezeichnet wird, verstärkt den Inhalt und macht den Roman noch schwerer erträglich. Erträglichkeit, Ausgewogenheit, Balance und Maßhalten waren aber nie ein Anliegen der Autorin.

    Ein sardonisches Gelächter liegt über vielen einzelnen Szenen, ein Lachen also, das so wirkt wie krampfgeschüttelt. Man kann dem Buch "Fliegeralarm" stilistische Mängel nachweisen, etwa die Besessenheit, mit der hier auf den Nazifloskeln herumgeritten wird. Gisela Elsner ist nicht fertig geworden mit dem Faschismus. Das artikuliert dieser Roman und daher gewinnt er seine Gültigkeit und seinen Wert.

    Gisela Elsner: Fliegeralarm
    Verbrecher-Verlag, 288 Seiten, 14 Euro