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Als die Pferde fliegen lernten

Wie und wo Eadweard Muybridge sein Handwerk erlernte, ist nicht überliefert. Aber belegt ist, dass er schon im 19. Jahrhundert ein fliegendes Pferd fotografieren konnte. In der Tate Britain in London ist ihm nun eine Ausstellung gewidmet.

Von Hans Pietsch | 18.09.2010
    Für Leland Stanford stand fest, dass Pferde fliegen können. Den Beweis dafür sollte ihm Eadweard Muybridge erbringen. Dieser baute auf dem Gestüt des kalifornischen Eisenbahn-Tycoons ein kompliziertes System mit zwölf Kameras auf, die mithilfe von Stolperdrähten von den Beinen des Pferdes nacheinander ausgelöst wurden. Und siehe da: seine Fotos zeigten, dass das galoppierende Pferd wirklich zeitweise alle vier Beine in der Luft hatte.

    Das war 1872, und für diese Entdeckung ist Muybridge noch heute berühmt. Doch die Leistungen des Fotopioniers gehen weiter. Da sind seine oft im Auftrag des Staates entstandenen journalistischen Fotos, die die Entstehung des modernen Amerika dokumentieren: den Bau der Eisenbahn, die den Westen erschloss, die Bevölkerungsexplosion in San Francisco, chinesische Einwanderer, den neuen Staat Alaska. Dann die gewaltigen Landschaftsbilder und natürlich seine Bewegungsstudien, von tanzenden Schönen ebenso wie von nackten Ringern, von einem trabenden Bison ebenso wie von einer Nymphe, die einen Eimer Wasser entleert.

    Der Besucher der Werkschau in der Tate Britain begegnet dem bärtigen Muybridge selbst gleich im ersten Raum. Wie verloren sitzt er auf den Wurzeln eines riesigen Mammutbaums, doch seine scheinbare Winzigkeit täuscht: er war sich durchaus der eigenen Bedeutung bewusst. Unermüdlich reiste er durch die Staaten und auch durch Europa, um Werbung für seine neue Serienfotografie zu machen, und um Geld für immer neue Experimente aufzutreiben. Er hielt Vorträge, die er mit Dias illustrierte, und später mit seinen Bewegung simulierenden Apparaten, Vorläufern des Filmprojektors.

    Eigentlich hatte der 1830 als Edward Muggeridge in Kingston am Stadtrand von London geborene Fotograf sein Berufsleben in der Buchbranche begonnen. Mit 25 emigrierte er in die USA, wo er sich zunächst in New York und dann in San Francisco als Buchhändler und Verleger etablierte. Nach einem schweren Unfall mit einer Postkutsche kehrte er nach London zurück und begann sich dort wohl für die Fotografie zu interessieren. Warum und wo er sich ausbilden ließ, ist bis heute im Dunkeln geblieben.

    Wieder zurück an der amerikanischen Westküste, in San Francisco, änderte er seinen Namen von Muggeridge zu Muybridge und gründete sein eigenes Fotoatelier. Die ersten Jahre zeigen einen zwar talentierten, aber konventionellen Fotografen, doch dann beginnt er zu experimentieren. Er praktiziert Stereo-Fotografie – zwei nebeneinandergelegte, fast identische Fotos, die, durch eine Brille betrachtet, Dreidimensionalität suggerieren. Seine mit immer größeren Platten entstandenen Landschaftsfotos, ganz in der Tradition romantischer Landschaftsmalerei, beeindrucken ebenso wie sein aus großformatigen Platten bestehendes Panorama von San Francisco. Höhepunkt seiner Experimente dann die beiden von der Universität von Pennsylvania finanzierten Serien "Animal Locomotion” mit 781 Fotos und "Human Figure in Motion”, die ihn endgültig als Pionier etablierten. Die Erotik vieler seiner Serienbilder, auch sein latenter Voyeurismus, werden immer wieder deutlich.

    Sein Privatleben verlief alles andere als geradlinig. 1875 erschoss er den Liebhaber seiner Frau, den er für den Vater seines Sohnes hielt. Er musste sich vor Gericht verantworten, doch die Geschworenen hielten die Untreue der Ehefrau für gravierender als den Mord an einem Mann und sprachen ihn frei – wir befinden uns ja im Wilden Westen.

    Dass seine Fotos nicht in einem Wissenschaftsmuseum, sondern in der Tate Britain ausgestellt sind, zeigt, dass sie heute als Kunst gelten. Er selbst sah sie so, und Künstler haben sich an ihnen auch von Anfang an orientiert. Ein in der Ausstellung gezeigtes aufbäumendes Bronzepferd von Edgar Degas ist ebenso Beweis wie Marcel Duchamps die Treppe hinuntersteigende Frau. Und natürlich die rotierenden Körper von Francis Bacon, die sich ganz auf Muybridges Erotik konzentrieren – ein Stockwerk höher, in der permanenten Sammlung der Tate, kann man den Beweis besichtigen.

    Mehr zum Thema:

    Britain Tate Museum , London