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Als die Stehklasse noch beliebt war

Am 7. Oktober 1928 senkte die Reichsbahn die Preise der dritten Klasse und schaffte die beliebte vierte Klasse, die auch die Stehklasse genannt wurde, ab. Das bewirkte breiten Unmut unter den Fahrgästen, denn das Reisen in der vierten Klasse war längst gesellschaftsfähig geworden. Doch die Reichsbahn musste sparen, weil der sich der Personentransport mit einem Vier-Klassen-System nicht selbst finanzierte.

Von Regina Kusch | 07.10.2008
    "Auf der Reichsbahn fällt mit dem 7. Oktober die vierte Klasse fort. Fahrkarten mit Aufdruck "4. Klasse" gelten in (der) 3. Klasse der Personenzüge, gleichgültig ob sie graue oder braune Kennfarbe tragen. Die Fahrkarten 4. Klasse können mit Zuschlagkarten künftig auch in Eil- und Schnellzügen benutzt werden. "

    Schon immer waren die Mitteilungsblätter der Bahn umständlich zu lesen. Und immer, wenn sie ihre Tarife änderte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Am 7. Oktober 1928 war der Unmut besonders groß, denn die vierte Wagenklasse, auch "Stehklasse" genannt, hatte sich bis dahin großer Beliebtheit erfreut, erzählt die Unternehmenshistorikerin der Bahn, Susanne Kill.

    "Die 4. Klasse war wirklich sehr billig, so dass sich das jeder leisten konnte. Die Eisenbahn war das Massentransportmittel. ... Und die 4. Klasse ... diente vor allem der Landbevölkerung, die mit großen Bündeln, teilweise auch Hühnern und Gänsen in die Städte fuhren, um dort ihre Geschäfte zu machen."

    In Deutschland war die Stehklasse 1852 in Nahverkehrszügen eingeführt worden. Diese Wagen waren alles andere als bequem. Man muss sie sich wie überdachte Güterwagen vorstellen, die anfangs nur an den Wagenwänden hochklappbare hölzerne Sitzbänke hatten. Die Reisenden brachten sich ihre Sitzkissen selber mit oder mieteten für eine Reichsmark welche an den Bahnsteigen, die sie am Zielbahnhof wieder abgaben. Bis 1920 waren diese Waggons durchgängig mit Sitzreihen ausgestattet worden, so dass sie sich - bis auf den Preis - kaum noch von denen der 3. Klasse unterschieden. Nur zwei Reichspfennige pro Kilometer kostete ein 4.-Klasse-Billet, eins für die dritte Klasse das Doppelte. Deshalb fuhren 1928 über 80 Prozent der Reisenden in der 4. Klasse. Nach deren Wegfall druckten viele Zeitungen Karikaturen, in denen die Kontrolleure an den Bahnsteigsperren als Räuber dargestellt wurden, die den Fahrgästen das Geld aus der Brieftasche zogen.
    Tatsächlich hatte die Reichsbahn seit geraumer Zeit jährliche Verluste von 25 bis 30 Millionen Reichsmark eingefahren mit einer altmodischen Unternehmenspolitik, die bereits 40 Jahre zuvor der sächsische Eisenbahndirektor Max Maria von Weber als unwirtschaftlich kritisiert hatte.

    "Während man sich in Amerika mit einer Wagenklasse begnügt, hat man in Deutschland nicht nur eine Trennung nach vier verschiedenen Klassen vorgenommen, sondern die oberen drei dieser Klassen auch noch in Koupees für Raucher und für Nichtraucher getrennt. Diese sehr weit getriebene Einteilung zwingt die Bahnen, um allen Anforderungen genügen zu können, stets eine sehr große Zahl von Wagen einzustellen, deren Sitzplätze meist nur ungenügend besetzt sind."

    "Die 4. Klasse bedeutete ja auch, dass man vier verschiedene Wagentypen vorhalten musste. Und ... je weniger unterschiedliche Wagen man hatte, umso billiger war natürlich die Instandhaltung. ... Gleichzeitig konnte man so die Preise von der 3. und der 4. Klasse zusammenlegen und etwas mehr Gewinn machen."

    Trotzdem schrieb die Reichsbahn nach ihrer Tarifänderung weiter rote Zahlen, weil sie ihre teuren 1.- und 2.-Klasse Abteile nicht auslasten konnte. Die waren dem Komfort der Postkutschen nachempfunden. Vier, maximal sechs Reisende saßen in einem Abteil. Meistens wurde gelesen. Oder auf teuer bezahlten Plätzen geschwiegen, wie ein Reisender der Polsterklasse berichtet:

    "Wie oft habe ich, wenn ich allein fuhr, oder mein Geschick mich mit Menschen zusammen gebracht hatte, mit denen schlechterdings nichts anzufangen war, die Reisenden der ... vierten Klasse beneidet, aus deren stark besetzten Wagen fröhliches Gespräch und Lachen bis in die Langeweile meiner Isolierzelle hinein klang."


    1956 verständigten sich fast alle europäischen Eisenbahn-Gesellschaften auf ein einheitliches System, das nur noch aus zwei Wagenklassen bestand. Unkompliziert ging allerdings auch das nicht vonstatten: für die 3. Klasse bedeutete das zwar das Aus, jedoch wurde sie nicht etwa einfach nur abgeschafft. Das geschah nämlich mit der ersten Klasse. Übrig blieben die zweite und die dritte, die nun in erste und zweite Klasse umbenannt wurden.