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Als die Welt verloren ging

Das allmähliche Aus-der-Welt-Gleiten, den Beginn einer Schizophrenie schildert Georg Büchner in seiner Novelle "Lenz". Dies auch als Hörbuch umzusetzen, kann als Herausforderung gelten, die dem Verlag "Herzrasen" gelungen ist. Von sparsamen, minimalistischen Klangeffekten begleitet, schafft es Sprecher Philipp Hochmair, dem Zuhörer Angst und Verzweiflung Lenzens spüren zu lassen.

Von Florian Felix Weyh | 30.04.2009
    Das bekannteste Musikstück der Geschichte, das aus Stille statt aus Tönen besteht, trägt den Titel "4'33" und stammt von John Cage. Als es die BBC 2004 erstmals im Radio sendete, musste sie ihr Notfallsystem deaktivieren; andernfalls hätte es die Stille mit einer Durchsage zerstört. Warum diese Vorrede zu Georg Büchners "Lenz", einem eher expressiven Stück?

    Weil ein Teil der Vortragskunst von Philipp Hochmair aus ungewohnt langen Pausen besteht - länger als sie sonst im "Büchermarkt" üblich sind. Kein Grund, an einen Defekt zu denken:

    Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Handwerker. "Sein Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt." - Ich bin ein Freund von... und bringe Ihnen Grüße von ihm. "Der Name, wenn's beliebt" - Lenz. "Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?" Ja, aber belieben Sie mich nicht danach zu beurteilen.

    Der berühmte Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz findet beim philanthropisch gestimmten Pfarrer Oberlin just in dem Moment Zuflucht, da seine Schizophrenie auszubrechen beginnt - und genau dieses die Biografie umstürzende Moment steht im Mittelpunkt von Georg Büchners Erzähltorso.

    Es ist der frühe Versuch, mit literarischen Mitteln psychische Irritationen, ja das allmähliche Aus-der-Welt-Gleiten fassbar zu machen. Viele Interpreten des für den Vortrag oft adaptierten Prosastücks neigten dazu, die Angst und Verzweiflung Lenzens deutlich vernehmbar zu gestalten. Doch Angst kriecht leise den Rücken hinauf. Zehrende Stille kann ebenso zermürben wie ein lauter Schrei:

    Es war als ginge ihm was nach, und als müsse ihn was Entsetzliches erreichen, etwas das Menschen nicht ertragen können, als jage der Wahnsinn auf Rossen hinter ihm.

    ...und der lässt ihn nicht mehr los, wiewohl ihn mehr noch als der Wahnsinn die Verzweiflung quält, die tiefe Trauer über das eigene Verlorensein in der Welt. Sie sucht sich einen Angelpunkt in einer sich selbst kasteienden Theologie des Schmerzes. Lenz - der historische wie der Georg Büchners - war ja ein abgebrochener Theologiestudent:

    Lass in mir die heil'gen Schmerzen,
    Tiefe Bronnen ganz aufbrechen;
    Leiden sei all' mein Gewinst,
    Leiden sei mein Gottesdienst.


    Und Lenz rutscht noch weiter in den von religiösen Vorstellungen durchfurchten Wahn hinein. Er glaubt sich berufen, ein verstorbenes Kind ins Leben zurückzuholen, was ihm freilich eine Enttäuschung bereitet:

    Dann erhob er sich und fasste die Hände des Kindes und sprach laut und fest: Stehe auf und wandle! Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, dass es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt.

    Das ist bezwingend vorgetragen, doch leistet das Hörbuch in der Regie der Label-Gründerin von "Herzrasen", Andrea Gerk, noch mehr. Die psychische Störung Lenzens erfährt eine adäquate, zeitgenössische klangliche Umsetzung. Denn an was denken wir bei einer "Störung"? – Richtig, an ein unangenehmes technisches Geräusch, das da verkündet: Kein Empfang mehr möglich, Kommunikation perdu.

    Im Gespräch stockte er oft, eine unbeschreibliche Angst befiel ihn, er hatte das Ende seines Satzes verloren; dann meinte er, er müsse das zuletzt gesprochene Wort behalten und immer sprechen, nur mit großer Anstrengung unterdrückte er diese Gelüste.

    Die sparsamen, minimalistischen Klang- und Geräuscheffekte des Komponisten Michael Maierhof wollen nie Stimmung schaffen, wo dies der Text nicht aus eigener Kraft vermag. Sie sind - und das ist eine Rarität im schnellen, lauten Hörbuchmarkt dieser Tage - diskrete Assistenten der Stille und Gemächlichkeit. So gesehen ist die Verwandtschaft mit "4'33" von John Cage vorgezeichnet: Man muss sich Zeit und einen abgeschiedenen Hörraum suchen, um diese Produktion in ihrer ganzen Perfektion wahrnehmen zu können. Doch dann rückt einem Lenz ganz nahe auf den Leib ... fast zu nahe.

    So saß er einmal, da wurde ihm ängstlich, er sprang auf, ging auf und ab. Die Türe halb offen, da hörte er die Magd singen, erst unverständlich, dann kamen die Worte:
    Auf dieser Welt hab' ich kein' Freud',
    Ich hab' mein Schatz und der ist weit.
    Das fiel auf ihn, er verging fast unter den Tönen.


    Georg Büchner: Lenz
    Gelesen von Philipp Hochmair
    2 CDs, Herzrasen, 01:49 Stunden