Dienstag, 23. April 2024

Archiv


"Als eine der neuen Nationen werden wir vorurteilslos und fair handeln"

Nach siebeneinhalb Jahren blutigen Krieges wurde Algerien am 5. Juli 1962 offiziell ein eigenständiger Staat. Damit endete die 132-jährige französische Kolonialherrschaft.

Von Christoph Burgmer | 05.07.2012
    5. Juli 1962. Ein französischer Reporter steht vor der Kasba, der Altstadt in Algier und führt Interviews mit Passanten. Es ist der Tag der Unabhängigkeit Algeriens. Das am 3. Juli abgehaltene Referendum hatte knapp sechs Millionen Ja- und nur 16.534 Nein-Stimmen ergeben. Und damit nach sieben Jahren Krieg die Loslösung von Frankreich bestätigt. Auf den Tag genau 132 Jahre nachdem französische Truppen mit der Besetzung Algiers die Eroberung Algeriens begonnen hatten.

    Bewohner Kasbas:

    "Überall, in allen Vierteln der Kasba wurde gefeiert. Um Mitternacht sind auf jedem Haus die algerischen Fahnen gehisst worden. Überall sind bunte Lichter angezündet worden. Es ist schließlich das größte algerische Fest. Das ist die Unabhängigkeit. Es ist ein großer Feiertag."

    Doch auf Fragen zur aktuellen politischen Situation und zur Zukunft Algeriens erhält der Reporter nur ausweichende Antworten.

    Bewohner Kasbas:
    "Ich selbst kann dazu überhaupt nichts sagen. Es gibt Verantwortliche in den Positionen, die durchdachte Entscheidungen treffen. Verstehen Sie, das sind heikle Angelegenheiten. Die Zukunft hängt von denjenigen ab, die die Entscheidungen treffen. Daran denke ich jetzt nicht. Wenn Sie von den Europäern sprechen. Ich denke, es wird eine Kooperation geben. Diejenigen, die das Land verlassen haben, werden zurückkehren, das ist gewiss. Es gibt hier keine Ingenieure, keine Fachleute und vieles andere mehr."

    Die Realität des jungen Staates ist bedrückend. Die öffentliche Verwaltung funktioniert nicht, die Fabriken sind geschlossen, die landwirtschaftlichen Güter verwaist. Über 1,5 Millionen Europäer, zumeist Franzosen, haben seit dem Vertrag von Evian im März 1962, in dem Frankreich seine algerischen Departements offiziell in die staatliche Unabhängigkeit entlassen hat, fluchtartig das Land verlassen. Mit ihnen zogen viele so genannte Harkis, jene mit den Franzosen franternisierenden Algerier und auch die kleine gut ausgebildete Elite, die sich im Mutterland ein besseres Leben versprach. Ein deutscher Journalist reiste im Juli 1962 an der algerischen Riviera entlang. Er schilderte die Tristesse jener Tage.

    Reportage:

    "Neben ein paar wenigen Lehmhütten und Wellblechbehausungen von Algeriern besteht Tichi in der Hauptsache aus freundlichen, hellen Einfamilienhäusern. Vor jedem Haus ist ein hübscher, kleiner Garten mit allerlei exotischen Gewächsen angelegt. Kurz: ein französischer Badeort mit Komfort. Die wenigen Eingeborenen in ihren verwahrlosten Elendshütten zählen kaum. Wenn man durch die leeren Straßen dieses Städtchens fährt, bemerkt man, dass die Jalousien der kleinen Villen verriegelt sind. Sogar am Badestrand merkt man, dass der Krieg noch nicht lange zu Ende ist. Hier liegen französische Stahlhelme, ganze Uniformen, ja sogar Unterwäsche herum."

    Die "mission civilisatrice", die von Beirut über Alexandria und Algier bis ins marokkanische Tanger eine aufgeklärte Mittelmeerkultur nach europäischen Idealen hervorgebracht hatte, ist gescheitert, gescheitert am Rassismus, der den Alltag in weiße, christliche Herren und dienende, muslimische Handlanger einteilte, die den einen ein Leben mit allen Chancen ermöglichte, den Anderen sogar das Erlernen des Schriftarabischen in der Schule verbot. 80 Prozent der Algerier sind 1962 Analphabeten. Doch die Führer der FLN, der Nationalen Befreiungsfront, schauen voller Hoffnung in die Zukunft. Ben Bella, erster algerischer Präsident, an die Macht geputscht, propagiert einen blockfreien Sozialismus unter der Führung der FLN.

    Ben Bella:

    "Als eine der neuen Nationen werden wir vorurteilslos und fair handeln auf der Grundlage gegenseitigen Respektes aller Völker füreinander und der ethischen Prinzipien, auf die sich die Nationen der Welt von heute stützen."

    Nur eine Generation später sind die großen Hoffnungen, die der neue Staat geweckt hatte, enttäuscht. Die jugendlich inspirierte Protestbewegung Anfang der 90er-Jahre, in den Zielen ähnlich dem derzeitigen "Arabischen Frühling", wird von den alten Führern der FLN brutal niedergeschlagen. Es kommt zu einem Bürgerkrieg, von dem sich die algerische Zivilgesellschaft bis heute nicht erholt hat. So sind auch fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit ein besseres Leben, Wohlstand und politische Partizipation in Algerien immer noch eine Illusion.