Da ist er, der spezielle Marías-Ton, der auf Anhieb Hunderttausende von deutschen Lesern in seinen Bann zog; denn so pflegen Romane, Romankapitel und Erzählungen des Spaniers gerne zu beginnen. Zum Vergleich der Auftakt der titelgebenden Geschichte "Als ich sterblich war":
"Ich habe oft vorgegeben, an Gespenster zu glauben, und ich gab vor, feierlich daran zu glauben, und jetzt, da ich selbst eines bin, verstehe ich, warum sie traditionell leidend dargestellt werden und mit dem hartnäckigen Wunsch, an die Orte zurückzukehren, die sie kannten, als sie sterblich waren."
Auch wenn man den Satz nicht gedruckt vor sich sieht, erkennt man doch, daß er mit stilistischer Anmut geizt. Die achtlos aneinandergereihten Satzglieder wirken wie eine lose dahingesprochene, leicht verstotterte mündliche Rede. Doch das ist des Spaniers Stilprinzip. Wäre seine Sprache präzise, würde man die Figuren rasch durchschauen; ihr Leben im Ungefähr, im stochernden Nebel der Vermutungen, im opportunistischen Verstecken hinter Meinungsäußerungen, weil sie Fakten scheuen, macht sie zu exemplarischen Vertretern der Middleclass – und damit zum Lesefutter für eben diese Schicht.
Zurück zum Anfang: Wenn Javier Marías nur "glaubt", elf der Geschichten seien Auftragsarbeiten gewesen, macht er sich damit die Pose seiner Figuren zueigen; wenige Sätze später weiß er sehr genau, welchen Text er auf fremde Anregung hin schrieb. Fast alle, und das merkt man ihnen deutlich an. Wenn der Autor sich nämlich fremdmotiviert an den Schreibtisch setzt, bleibt ihm wenig mehr als der Rückgriff auf die technischen Möglichkeiten seines Berufs. Er ist – sinnigerweise spiegelt sich das Motiv im Buch – ein literarischer Pornodarsteller. Zur Erektion bringt er es allemal; aber wehe, man sieht sein Gesicht bei der Arbeit! Zwischen Lustlosigkeit, Ekel und Langeweile schwankt das Mienenspiel, und ob es wirklich nötig ist, Vorstudien zu Romanszenen noch einmal – und deutlich schwächer – in Erzählungsform zu lesen, läßt sich bezweifeln. Schicksal aller erfolgreichen Autoren scheint, zuerst für den Leser, dann für die Medien und schließlich nur noch für die Philologen zu publizieren.
Doch nehmen wir den Ball auf und betrachten die vorliegenden Fragmente analytisch. Vielleicht verraten sie ja, warum eine Literatur, die unisono als keineswegs bestsellerverdächtig eingestuft wurde, in ganz Europa solch rauschhafte Verkaufserfolge zeitigte. Für Marías spricht einiges: Er ist gebildet, ohne Zitate nur nachzuplappern, seine Romane verströmen den Flair einer angenehmen Ruhe, sind nicht regional beschränkt, sondern schichtspezifisch, ihr Erkenntniswert streift die Banalität nur in dem Maße, in dem banale, aber drängende Fragen thematisiert werden. Javier Marías hat damit etwas geschafft, was vor ihm noch keiner vermochte: die eurokompatible Literatur zu schreiben. Seine Figuren – Spanier, Franzosen, Italiener, Briten – entsprechen dem Wunschtraum der Brüsseler Bürokratie, und nicht umsonst spielt der erste große Romanerfolg im Dolmetscher-Millieu. So möge doch bitte das künftige europäische Bildungsbürgertum aussehen, mehrsprachig, in allen Nationalliteraturen bewandert, mit den Umgangsformen der Franzosen, dem Common Sense der Briten und dem Temperament der Spanier begabt. Paarbeziehungen klappen über Länder- und Sprachgrenzen hinweg, und was der europäische Film über dreißig Jahre in Koproduktionen nicht erreicht hat, schafft Javier Marías spielend: die Konstruktion einer paneuropäischen Identität.
Freilich sind seine Figuren, die Erzählungen belegen dies, mit einem Minimum an Varianz ausgestattet. Die Welt ist so eng, so genormt, so übersichtlich, daß Javier Marías mit gut einem Dutzend wiederkehrender Namen operiert und sich bei Personenbeschreibungen gleicher Auffälligkeiten bedient. Will er einen Mann als altmodisch charakterisieren, läßt er ihn Manschettenknöpfe tragen; der entgegengesetzte Typus hegt eine zwanghafte Vorliebe für Cowboystiefel. Was in der Tektonik eines Romans, wo man einmal eingeführte Figuren nicht mehr beschreiben muß, unauffällig untergeht, sticht im vorliegenden Erzählungsband unangenehm ins Auge. Die Beschreibungsarmut von Javier Marías prädestiniert ihn nicht gerade fürs kurze Genre, überhaupt kann man die Frage stellen, was an dieser Literatur genuin literarisch ist? Sind es nicht eher mild moralphilosophische Traktate, exakt in der Mitte zwischen seichten Psychoratgebern und harschen päpstlichen Enzykliken angesiedelt? Darin wäre Javier Marías Literatur nämlich auch kein Einzelfall, sondern die konsequente Fortsetzung eines anderen paneuropäischen Bestsellerautors. Was Milan Kundera in den Achtzigern mit der "Unerträglichen Leichtigkeit des Seins" widerfuhr – zum Seelenspiegel für Oberstudienräte und Provinzbibliothekare zu werden –, setzt Marías in den Neunzigern fort. Man kann darüber nicht einmal lamentieren. Daß Literatur zum Leben, zur Sinnorientierung gebraucht wird, ist ein positives Faktum, und eine Überdosis davon macht nur müde. Sollte der deutsche Verlag allerdings auf die Idee kommen, den ersten Roman des damals neunzehnjährigen Autors auch noch zu übersetzen, wird er auf eine paralysierte Gemeinde treffen.