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Alte Konflikte, neue Waffen

Unübersichtlich ist die Zahl der Konfliktherde im unabhängigen Südsudan. Laut UN wird an etwa 30 Orten gekämpft. Doch die größte Provinz, die Jonglei, erlebt derzeit einen besonders blutigen ethnischen Konflikt. Mindestens 3000 Menschen wurden getötet, Zehntausende vertrieben.

Von Bettina Rühl | 04.02.2012
    Auf steinernen Bänken sitzen Frauen, Kinder und ältere Menschen. Ihre bunten Gewänder sind staubig und etwas abgetragen, die meisten Wartenden wirken müde. Viele von ihnen sind schon mit dem ersten Tageslicht hierher gekommen, in die Ambulanz des einzigen Krankenhauses, das es weit und breit gibt. Es steht in Pibor, einer (staubigen) Siedlung in Südsudans größtem Bundesstaat Jonglei. Betrieben wird es von der Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". In diesen Tagen ist die Wartehalle besonders voll, sagt Karel Janssen. Denn seit Weihnachten gibt es schwere Kämpfe zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen in der Region.

    "In unserer Ambulanz haben wir allein am letzten Freitag 200 Patienten behandelt! Normalerweise sind es 500 Patienten in der Woche! Die Hälfte der Kranken kommt wegen schwerer Malaria zu uns. Dieser Anteil ist viel höher als sonst, und das liegt vor allem an den Bedingungen, unter denen die Menschen jetzt leben. Sie erzählen, dass sie sich tage- oder wochenlang im Busch versteckt haben, aus Angst vor weiteren Angriffen. In ihren Verstecken haben sie keine Moskitonetze, keinen anderen Schutz gegen die Mücken."

    Auch deshalb wirken die Menschen hier so müde: viele von ihnen sind in tagelangen Gewaltmärschen zu Fuß nach Pibor geflohen. Es war ihre Rettung. Seit Weihnachten wurden im Bundesstaat Jonglei mehr als 3000 Menschen getötet, viele Hundert verletzt, und Zehntausende aus ihren Dörfern vertrieben. Ursache ist die eskalierende Gewalt zwischen zwei ethnischen Gruppen in der Region, den Lou Nuer und den Murle. Deren Konflikte sind nicht neu: Gegenseitige Viehdiebstähle sind schon seit Jahrzehnten ein regelmäßiges Ritual, und das nicht nur zwischen den Lou Nuer und den Murle, sondern auch zwischen anderen Ethnien in der Region.

    Aber früher kämpften die Hirten mit Speeren, die Zahl der Toten blieb überschaubar. Heute kämpfen sie mit Kalashnikows oder der deutschen G3 aus dem Hause Heckler und Koch - durch den jahrzehntelangen Bürgerkrieg im Sudan sind modernste Waffen überall verbreitet. Und noch etwas ist neu: Helfer sagen, dass unter den Opfern noch nie so viele Frauen, Kinder und ältere Menschen waren. Unbeteiligte also. Die Angreifer haben ganze Dörfer vernichtet und verbrannt, gezielt auch Helfer angegriffen:

    Am 27. Dezember überfielen sie das Krankenhaus in Pibor, erzählt Karel Janssens:
    "Es wurde verwüstet, das Material geplündert. Ein Teil der Ambulanz wurde in Brand gesteckt."

    Ein Funkspruch geht ein – für den Kontakt untereinander benutzen die Helfer Funkgeräte. Auch, weil es in den Dörfern außerhalb von Pibor kaum Handynetze gibt. Die Spuren des Angriffs sind immer noch unübersehbar, obwohl die Helfer im Krankenhaus seit Wochen aufräumen. Zwei verbrannte Spinde stehen draußen in der Sonne. Das Labor, in dem vorher das Tuberkulose-Programm lief, ist leer bis auf ein paar leere Medikamentenschachteln. In anderen Räumen liegt, inzwischen zusammengefegt und aufgehäuft das, was die Angreifer zerstört und nicht mitgenommen haben. Warum das Krankenhaus angegriffen wurde, weiß Karel Janssens nicht.
    "Wir verurteilen den Angriff aufs Schärfste. 160.000 Menschen im Landkreis Pibor haben nur diese Ambulanz und dieses Krankenhaus. Außerdem haben die unterschiedlichen bewaffneten Gruppen auch in anderen Gegenden gezielt die Krankenhäuser angegriffen. Meine Kollegen wurden im August im Norden von Jonglei überfallen, da passierte dasselbe wie hier: Das Krankenhaus wurde verwüstet und geplündert."

    Die Bewaffneten, diesmal aus dem Volk der Lou Nuer, griffen in Pibor nicht nur das Krankenhaus an, sondern auch das Grundstück einer benachbarten Hilfsorganisation. Und in zwei Dörfern in der Nähe setzten sie die dortigen Gesundheitsstationen in Brand. Das eine der beiden Dörfer, Lekongole, wurde bei dem Angriff komplett vernichtet. Seitdem fahren die Ärzte fast jeden Tag dorthin, um nach Verletzten zu suchen.

    "Noch immer kommen fast täglich Patienten mit Schussverletzungen an. Wir behandeln sie in unserer ausgebrannten Krankenstation. Vorgestern haben wir einen 40-jährigen Mann mit nach Pibor gebracht, der hat eine große Schusswunde im Bein. Zugezogen hat er sich die schon Ende letzten Jahres. Solche unbehandelten Verletzungen sehen wir häufig. Die Menschen kommen jetzt erst, Wochen nach dem Angriff, zu uns."
    Der Patient, von dem Janssens erzählt hat, sitzt jetzt mit gesenktem Kopf auf seinem Bett in einem der Krankenzimmer.

    "Ich konnte wegen meiner Wunde nicht früher ins Dorf kommen. Ich blieb fast einen Monat lang in meinem Versteck, bis mich Leute nach Lekongole brachten. Mit meiner Familie war ich vor dem Angriff in den Busch geflohen, aber sogar da haben die Lou Nuer uns gefunden. Sie haben sofort auf uns geschossen und mich getroffen. Meine Familie war in Panik und ist weggerannt. Wo sie jetzt ist, weiß ich nicht."

    Er überlebte dank der Hilfe anderer Flüchtlinge: Wenn sie an ihm vorbeikamen, gaben ihm einige Wasser oder Essen. Schließlich nahm in jemand nach Lekongole mit, wo er endlich ärztliche Hilfe bekam. Mehr als seine Schussverletzung scheint ihn der Verlust seiner Rinder zu schmerzen. Er hat jetzt seine letzten fünf verloren, fünf andere haben sie ihm schon im vergangenen Jahr abgejagt. Auf die Frage, ob nicht die Männer seines Volkes, der Murle, vorher ihrerseits den Lou Nuer die Herden gestohlen hätten, nickt er und sagt leise "ja, ich weiß".

    Wie er jetzt dasitzt, den Kopf noch immer gesenkt, wirkt er mutlos und wie ein geschlagener Mann. Er wolle nie wieder Rinder haben, sagt er dann, sondern lieber lernen, wie man Felder bestellt. Das könnte nicht nur für ihn die Zukunft sein, sondern auch für viele andere. Landwirtschaft wäre ein Broterwerb, und vor allem: ein Ausweg aus der Logik von Rache und Vergeltung.