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Alte und neue Drohgebärden

Der Dritte Weltkrieg findet nicht statt. Vor wenigen Wochen noch hatte Präsident Bush davor gewarnt, für den Fall, dass Iran nicht am Bau der Atombombe gehindert werde. Anfang Dezember hat dann ein Gemeinschaftsgutachten der amerikanischen Geheimdienste erklärt, die Iraner hätten die Arbeit an einem militärischen Nuklearprogramm im Herbst 2003 eingestellt.

Von Jan Ross |
    Man weiß nicht recht, ob man den Spionage-Erkenntnissen diesmal trauen soll. Die Israelis zum Beispiel tun es nicht. Aber gleichviel: Ein amerikanischer Angriff auf Iran im Jahr 2008, dem verbleibenden Amtsjahr von George W. Bush, ist unvorstellbar geworden - es sei denn, die Mullahs ließen sich eine dramatische Provokation zuschulden kommen.

    Das Wort vom Dritten Weltkrieg wirkt trotzdem weiter. Es steht für eine Grundtendenz, für ein Leitmotiv des abgelaufenen Jahres und dieser Jahre überhaupt, für eine beklemmende Zeitsignatur. Kriegsangst, Kriegsdrohung und Kriegswirklichkeit sind zu einem Dauerphänomen der Ära seit dem 11. September 2001 geworden. Ein Ende der Gewalt im Irak und in Afghanistan ist nicht absehbar. Zwischen Israel und der radikalen Schiiten-Miliz Hisbollah herrscht seit dem Sommerfeldzug des Jahres 2006 ein fragiler Waffenstillstand; die wirkliche militärische Entscheidung steht noch aus.

    Zwischen Wladimir Putins Russland und der amerikanisch-europäischen Welt ist der "Kalte Krieg" wieder da - eine Ost-West-Konfrontation, die doch 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer und 1991 mit dem Untergang der Sowjetunion endgültig erledigt sein sollte. Und wer weiter voraus in die Zukunft schaut, der wird sich fragen, ob der Aufstieg Chinas wirklich auf Dauer friedlich bleiben oder eines Tages in die Konfrontation mit der herausgeforderten Supermacht USA führen wird. Ein Krieg um Taiwan, die Insel, die unabhängig sein will und die Peking für sich beansprucht, wäre der Alptraum des 21. Jahrhunderts.

    Es ist nicht alles falsch an der These vom neuen Weltkrieg. Gotteskrieger vom Schlage der afghanischen Taliban und womöglich auch Extremisten wie der iranische Präsident Ahmadinejad stehen dem Westen mit einer Unversöhnlichkeit gegenüber, die sich mit der Herausforderung der zivilisierten Welt durch Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus in der Tat vergleichen lässt. Der radikale Islamismus ist eine totalitäre Bewegung. Aber letztlich macht die Weltkriegsthese blind. Es gibt in diesem Augenblick nicht den einen historischen Feind, gegen den sich der Westen wappnen und den er zerschmettern müsste. Ein ägyptischer Muslimbruder, der gegen das Regime von Präsident Mubarak aufbegehrt, ist nicht dasselbe wie ein Selbstmordattentäter im Irak, der nur Tod, Zerstörung und Bürgerkrieg verbreiten will. Eine Miliz wie Hisbollah, die sich terroristischer Mittel bedient, ist nicht dasselbe wie El Kaida, eine Vereinigung, die allein aus Terror besteht.

    Die Weltkriegsthese überschätzt die innere Einigkeit und Geschlossenheit des Feindes. Vor allem freilich überschätzt sie seine Stärke. Hitlers Deutschland und Stalins Sowjetunion waren tatsächlich furchterregende Mächte. Terror und muslimischer Extremismus, wie fanatisch und blutig auch immer, bringen dagegen den Westen als ganzen nicht in existentielle Gefahr. Die wirtschaftliche und technologische Basis dieses Gegners ist geradezu lächerlich schwach, und seine geistige Ausstrahlung lässt sich mit der weltweiten Verführungskraft des Kommunismus überhaupt nicht vergleichen. Die wirkliche Herausforderung des Westens im 21. Jahrhundert, hoffentlich keine militärische, wächst in Asien heran. Wer einen Weltkrieg im islamischen Orient führen will, vergeudet seine Kräfte.

    Mit den Kriegen in Afghanistan und im Irak hat es aus europäischer Sicht eine merkwürdige, gegenläufige Bewandtnis. Die amerikanische Irak-Invasion ist auf dem Kontinent weithin abgelehnt worden; selbst in Ländern, wo die Regierungen Präsident Bush unterstützt haben, wie in Italien, Spanien und Großbritannien, war der Widerstand in den Bevölkerungen groß.

    Afghanistan dagegen ist, gerade vor dem Hintergrund des abenteuerlichen Irak-Feldzuges, für die Europäer der gute Krieg gewesen. Er wurde von den Vereinten Nationen legitimiert, und niemand konnte dem Westen unterstellen, dass er am Hindukusch etwa seine Ölversorgung sichern wolle. Die Soldaten der NATO, so hatte man es sich vorgestellt, würden in Afghanistan mehr oder weniger als bewaffnete Aufbau- und Entwicklungshelfer tätig werden. Sie würden Mädchen den Schulbesuch ermöglichen und als internationale Polizeitruppe die Errichtung eines funktionierenden Staatswesens überwachen.

    Dass auch in Afghanistan ein echter Krieg im Gange ist, in dem gekämpft, gestorben und getötet wird, dass dieser Krieg vielleicht sogar verloren gehen könnte - vor dieser Einsicht hat sich der Westen, vor allem Europa, lange gedrückt. Jetzt lässt sie sich nicht mehr verdrängen, und niemand weiß, wie lange die Bürger und die Politiker der NATO-Länder mit dieser bitteren Wahrheit leben können. Treten die Europäer aber den Rückzug an, so könnte es sein, dass die atlantische Allianz, mehr als ein halbes Jahrhundert lang unsere militärische Daseinsversicherung, daran zerbricht.

    Afghanistan, der gute Krieg, hat sich als unterschätzter Krieg entpuppt, mit unabsehbaren Folgen für den Westen, der hier eigentlich leicht davonzukommen gedachte. Ein ganzes Gedankengebäude, die Idee vom humanitären Militäreinsatz, vom Krieg, der eigentlich keiner ist, sondern Frieden und Freiheit schafft, droht am Hindukusch zum Einsturz zu kommen. Es wird lange dauern, bis man wieder Soldaten in den Kampf schickt, um in fernen Ländern Recht und Ordnung zu stiften.

    Mit Irak steht es anders, in gewisser Weise umgekehrt. Das ist der Krieg, der aus europäischer Perspektive und im Urteil der europäischen Völker und Medien nie eine Chance hatte. Dass die Verstärkung der US-Truppen in den vergangenen Monaten die Sicherheitslage im Land immerhin verbessert hat, nimmt die Öffentlichkeit bei uns praktisch überhaupt nicht wahr; es kann nicht sein, was nicht sein darf. In Ländern, die an der Invasion nicht teilgenommen haben, wie Deutschland und Frankreich, ist überhaupt vom Irak geradezu verblüffend wenig die Rede - als ginge uns das alles gar nichts an, nur weil wir dagegen waren, und als müssten eben die Amerikaner die Suppe auslöffeln, die sie sich da eingebrockt haben.

    Die Suppe wurde aber uns allen eingebrockt. Einfach abzuziehen, wie es die meisten Europäer wohl empfehlen würden und wie es auch einer starken Stimmung in den Vereinigten Staaten entspricht, wäre keine Lösung. Es würde die Feinde des Westens ermutigen - und es würde sie anstacheln, mit verdoppelten Kräften den anderen westlichen Brückenkopf im mittelöstlich-islamischen Krisengebiet anzugreifen, also Afghanistan. In Afghanistan aber steht auch die Bundeswehr. Es könnte ein böses Erwachen geben, wenn die allgemeinen Wünsche nach einem Ende des amerikanischen Irak-Abenteuers vom nächsten US-Präsidenten erhört werden und die Europäer in Afghanistan sich auf einmal an der vordersten Frontlinie im Kampf gegen die radikalmuslimischen Gotteskrieger und Desperados wieder finden. Irak ist nicht unser Krieg gewesen, die überwältigende Mehrheit auf dem europäischen Kontinent hat ihn nicht gewollt. Aber durch die möglichen Konsequenzen eines amerikanischen Scheiterns ist dies auch unser Krieg geworden. Nur haben wir auf seinen Verlauf und Ausgang so gut wie keinen Einfluss, und das macht die Sache besonders unheimlich.


    In Deutschland, das hat das Jahr 2007 gezeigt, sind Krieg und Frieden immer noch ein besonderes Thema. Die Kriegsfurcht - oder soll man sagen: die Militärscheu? - reicht tiefer als anderswo; sie ist jedenfalls leichter zu mobilisieren und hat größere innenpolitische Bedeutung. Man sah es am Beispiel des Raketenabwehr-Schildes, den Präsident Bush in Polen und Tschechien installieren möchte. Die SPD nutzte sofort die Gelegenheit, noch einmal gegen den unbeliebten amerikanischen Präsidenten und gegen die Konfrontationspolitik der Vereinigten Staaten Stellung zu beziehen. Für die Sozialdemokraten war die Erinnerung an ihren Ruf als Friedenpartei ein Himmelsgeschenk - eine kleine Reprise des Widerstands gegen den drohenden Irak-Krieg, mit dem Gerhard Schröder die Bundestagswahlen 2002 gewonnen hatte. Die Union dagegen bekam es sofort mit der Angst zu tun, als das Raketen-Thema auftauchte. Angela Merkel hatte sich vor der Irak-Invasion zu eng an George W. Bush angeschlossen. Das hat sie auf Dauer verwundbar gemacht - nie mehr darf sie übertrieben pro-amerikanisch oder gleichgültig gegenüber Kriegsgefahren wirken. Friedenspolitische Unzuverlässigkeit, oder auch nur der Anschein davon, bleibt in der Bundesrepublik politisch tödlich.

    Mit ihrem unbedingten Anti-Militarismus, der sich von Bonn nach Berlin hinübergerettet hat, nimmt die Bundesrepublik eine Sonderstellung unter den größeren westlichen Ländern ein.
    Die permanenten und wachsenden Zweifel am Sinn des Afghanistan-Einsatzes zeigen etwas von der deutschen Grundskepsis gegen alles Militärische. Vielleicht ist man ein bisschen überrascht, dass dieses Gefühl noch immer so stark und lebhaft ist. Als die rot-grüne Regierung sich 1998 zur Teilnahme an der Kosovo-Intervention entschlossen hatte, sahen viele darin ein grundsätzliches deutsches Umdenken bei der Frage von Krieg und Frieden, einen historischen Stimmungswandel. Das Tabu gegenüber dem Militärischen sei gebrochen, war damals öfters zu hören - und die einen meinten das anerkennend, die anderen besorgt. Aber weder Anerkennung noch Besorgnis waren, wie sich zeigt, wirklich am Platz; das Tabu gegenüber dem Militärischen ist nämlich in Wahrheit gar nicht gebrochen worden. Die Kosovo-Intervention wurde von den Deutschen offenbar gar nicht wirklich als Krieg wahrgenommen, sondern als eine Art internationale Polizeiaktion, mehr ein Straf- und Vollstreckungsvorgang als ein echter Kampf. Dass die Bürger damit einverstanden waren, hieß nicht, dass sich ihr Verhältnis zum Krieg fundamental gewandelt hätte. Die Militäraktionen, mit denen es der Westen heute zu tun hat - und eben nicht nur im Irak, sondern auch in Afghanistan - sind von der moralisch und professionell scheinbar makellosen Kriegführung nach Art des Kosovo-Einsatzes meilenweit entfernt. Und auf diese neuen, in Wahrheit: alten, blutigen, vom Scheitern bedrohten und oft das Gewissen quälenden Kriege erstreckt sich das vermeintliche deutsche Umdenken in Militärfragen durchaus nicht.

    Es geht keineswegs darum, das zu beklagen, auch nicht darum, es zu loben. Die deutsche Friedenssehnsucht ist nach der Schuld- und Schreckensgeschichte des deutschen Militarismus vollauf begreiflich; sie ist freilich für sich allein noch keine verantwortliche Außenpolitik und kann einer solchen durch selbstgerechtes Moralisieren sogar entgegenstehen. Aber, wie gesagt, ums Werten geht es hier überhaupt nicht. Es geht nur darum, einen irritierenden Kontrast, eine wachsende Spannung festzuhalten: In einer zunehmend konfliktreichen Welt bleibt die Bundesrepublik ein letztlich pazifistisches Land.

    Der Krieg war ein beunruhigendes Leitmotiv des jetzt ausklingenden Jahres, aber er war nicht seine Neuigkeit. Der Krieg, dessen Folgen uns auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte begleiten werden, die Invasion im Irak, wurde 2003 begonnen. Ein Krieg gegen Iran, einstweilen unwahrscheinlich geworden, bleibt möglich - in der Zukunft. Die ganze Weltpolitik ist seit dem 11. September 2001 in einen neuen Aggregatzustand von Dramatik und Aggressivität übergegangen. Nicht der Krieg war die eigentliche Neuerung des Jahres 2007, es war etwas anderes.

    Es war der Kalte Krieg. Seit der russische Präsident Wladimir Putin im Februar auf der internationalen Sicherheitskonferenz den Westen und vor allem die Vereinigten Staaten frontal angegriffen hat, ist die Idee des Kalten Kriegs in die politische Diskussion und in die politische Wirklichkeit zurückgekehrt. Putins Auftritt war die Wortmeldung einer Großmacht, die sich seit dem Beginn der 1990er Jahre gedemütigt fühlte und nun den Augenblick der Revanche gekommen sah. Ein finanziell konsolidiertes, mit seinen Gasexporten zur Energie-Supermacht aufgestiegenes Russland beansprucht auch in der Weltpolitik wieder eine führende Rolle. Die Grundstimmung dieses erneuerten Russland ist Konfrontation. Es blockiert im UN-Sicherheitsrat die Autonomie der serbischen Provinz Kosovo, von der jeder weiß, dass sie am Ende unvermeidlich ist. Putin hat Vertreter der palästinensischen Hamas nach Moskau eingeladen, während der Westen die Organisation als Terror-Vereinigung isolieren wollte. Russland hat seine Teilnahme an einem wesentlichen Rüstungskontrollabkommen, dem KSE-Vertrag, suspendiert; es lässt seine Langstreckenbomber wieder über den Atlantik patrouillieren und hat damit gedroht, seine Mittelstreckenraketen wieder auf europäische Ziele auszurichten. Niemand glaubt, dass es tatsächlich zu offenen Feindseligkeiten zwischen Russland und dem Westen kommen könnte. Aber die Stimmung ist schlecht und ein dauerhaftes, missgünstiges Einander-Belauern ein realistisches Zukunftsszenario. Kalter Krieg eben.

    Dabei ist nicht einmal Russland selbst, oder der Konflikt mit Russland, das Bemerkenswerteste. Das Bemerkenswerteste ist, wie allgegenwärtig das Motiv des Kalten Krieges wird, wie sehr es sich inzwischen als Schlüsselgedanke zur Deutung der Weltlage anbietet. Ist das, was sich zwischen den Vereinigten Staaten und Iran abspielt, nicht auch ein Kalter Krieg? Auf der einen Seite die Amerikaner, die mit den sogenannten "gemäßigten" arabischen Staaten eine Einheitsfront gegen Teheran zu schmieden versuchen - und auf der anderen Seite das Mullah-Regime mit seinen Verbündeten in Syrien, bei Hisbollah und Hamas und mit der gelegentlichen, inoffiziellen Rückendeckung aus Moskau und Peking. Hier, im Nahen und Mittleren Osten, auf dem strategisch brisantesten Schauplatz der Gegenwart, ist ein ideologisch unterfütterter Dauerkonflikt angelegt oder schon im Gange, ein Kalter krieg des 21. Jahrhunderts.

    So geht es weiter bis auf die globale Ebene. Zwischen den Vereinigten Staaten und dem aufstrebenden China ist ein direkter militärischer Konflikt auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, schon weil die amerikanische Überlegenheit noch lange erhalten bleiben dürfte. Aber eine permanente, immer wieder aufflackernde Rivalität, eine wachsende Rivalität um Rohstoffe, Einfluss und die Definitionshoheit über die Prinzipien der internationalen Ordnung - das ist sehr wohl denkbar. Auch ein Gegeneinander der politischen Weltanschauungen. Schon ist davon die Rede, dass wir nach dem vermeintlichen Sieg von Demokratie und Menschenrechten im Jahr 1989 inzwischen einen neuen Systemkonflikt erleben: die freie, liberale Welt unter Führung der USA auf der einen Seite, und auf der anderen eine Gruppe von zunehmend selbstbewussten Autokratien wie China, dem Putinschen Russland und den vom hohen Ölpreis gestärkten Rohstoffstaaten von Kasachstan über Iran bis nach Venezuela.

    Für Europa bedeutet die Wiederkehr des Kalten Kriegs ein erhebliches Dilemma. Es teilt mit den Vereinigten Staaten das Interesse an einer Ausbreitung der freiheitlichen Lebensordnung und am Gedeihen der westlichen Welt. Aber an Spannung und Konfrontation kann Europa nicht gelegen sein - strategisch schwach, wie es ist, und in unmittelbarer Nachbarschaft von Russland und dem islamischen Orient. Die europäische Politik muss eine Balance zwischen Ausgleichswillen und Kampfesmut finden. Wir werden die neuen Kalten Kriege zu vermeiden suchen, so gut es geht. Und wenn sie sich nicht vermeiden lassen, werden wir hoffentlich auf der richtigen Seite stehen.