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Alte und neue Mächte

Nikolas Busse schreibt vom Untergang des Abendlandes. Denn, so der Autor, der Osten beansprucht seinen Platz in der Welt und das wird handfeste Konflikte mit sich bringen. In seinem Buch "Entmachtung des Westens" plädiert er dafür, dass Europa sich der neuen Weltordnung bewusst wird und seine Rolle darin selbstbewusst behauptet.

Von Dietrich Möller |
    Deutsche Soldaten sind in Afghanistan stationiert, die Bundesmarine operiert am Horn von Afrika - Einsätze, die vor zwanzig Jahren schier unvorstellbar waren. Die Bundesaußenminister freilich sind seit rund einem halben Jahrhundert in aller Welt unterwegs, in immer kürzeren Abständen und mit stetig umfangreicheren und anspruchsvolleren Themenlisten. Schon von Bonn aus und nun in Berlin bemühte und bemüht sich die Bundesregierung um einen ständigen Platz am Tisch der fünf Großen im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen. Und die deutsche Wirtschaft engagierte sich schon global, bevor der Begriff "Globalisierung" überhaupt gefunden war.
    Und dennoch:

    Außenpolitik wird in Deutschland hauptsächlich als Geschäft anderer Staaten verstanden. Mit dieser Einstellung werden wir im 21. Jahrhundert nicht weit kommen.

    Im Kern geht es um die Fähigkeit zum strategischen Denken. Diese Disziplin ist im Land von Clausewitz fast vergessen.

    In Deutschland scheitert die öffentliche Debatte oft schon an der Analyse des internationalen Geschehens.


    Drei Zitate, die den Deutschen kein gutes Zeugnis ausstellen. Sie sind einem Buch entnommen, das den auch nicht gerade erfreulich klingenden Titel "Entmachtung des Westens" trägt; die Unterzeile prognostiziert dann "Die neue Ordnung der Welt". Dass sich auf dem Einband zu Titel und Unterzeile noch das Bild einer geradezu beängstigenden Masse entschlossen dreinblickender chinesischer Soldaten - sitzend freilich und ohne Waffen - gesellt, soll wohl ahnen lassen, wohin der Autor seine Leser führen will: Die Macht der Zukunft liegt im Osten, im Fernen Osten.

    Der Autor heißt Nikolas Busse und ist der politische Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Brüssel. In vier Kapiteln beschreibt er "Die alte Ordnung", "Die neuen Mächte" und damit "Die Erosion der westlichen Herrschaft", um angesichts dessen über "Die Verteidigung des Westens" zu sinnen.

    Jene "alte Ordnung" ist natürlich wesentlich mit der Geschichte des Kolonialismus verbunden, mit der

    Aneignung aller Kontinente

    durch die Europäer. Der auf zwei Weltkriege zurückzuführende Aufstieg der USA zur militärischen - und das hieß primär auch atomaren - sowie zur wirtschaftlichen Supermacht ließ dann sie an die Stelle der Europäer treten. Die Vereinigten Staaten waren es auch, die aus dieser Position die Öffnung der Weltwirtschaft betrieben und forcierten.

    Die Atombombe sollte nicht jeder bekommen, reich werden durften alle. Ob gewollt oder nicht - damit war die Saat für die weltpolitischen Umwälzungen ausgebracht, die uns in den nächsten Jahrzehnten in Atem halten werden. Der Aufstieg Japans war der Anfang vom Ende der globalen westlichen Vorherrschaft. Zum ersten Mal seit fünfhundert Jahren entstand in der Weltwirtschaft wieder ein Kraftzentrum außerhalb Europas und Nordamerikas.
    Zunächst. Mittlerweile entwickeln sich weitere solcher "Kraftzentren". Zu den nicht nur von ihm so genannten neuen Mächten zählt Busse neben Japan auch China, Indien, Südostasien und Brasilien. Merkwürdigerweise fügt er denen noch Russland hinzu, obwohl es seit über einem halben Jahrhundert als die hinter den USA rangierende Supermacht gilt, die genügend Ressourcen besitzt, auch wirtschaftlich eine herausragende Position einzunehmen; dass sie die politisch zu nutzen versteht, hat die jüngere Vergangenheit gelehrt.
    Busses Zwischenbilanz:

    Im 21. Jahrhundert wird die Menschheit erstmals in einer Welt leben, in der es eine Handvoll von Aspiranten auf eine Vormachtrolle gibt, die womöglich alle über militärische und wirtschaftliche Mittel verfügen, um global zu agieren.

    Und:

    Die tiefe Struktur der Weltpolitik ist bereits in Bewegung geraten, die ersten Spielregeln werden neu geschrieben. Nirgends wird das deutlicher als in der
    Nuklearrüstung. Das Monopol des Westens auf die gewaltigste Waffe aller Zeiten ist gebrochen.


    Nun, dieses Monopol gibt es schon seit August 1949 nicht mehr. Es wurde durch und von der damaligen Sowjetunion, von Russland gebrochen, dem 1964 China folgte. Aber Busse spielt natürlich auf Indien und Pakistan an und sieht die Gefahr, dass es

    nicht mehr nur eine islamische, sondern eine islamistische Bombe

    geben könnte, entweder in der Verfügung pakistanischer Fundamentalisten oder in der mit ihnen verbundener Terroristen. Kaum weniger bedrohlich sind die Möglichkeiten des Iran und Nordkoreas, sich zu Atommächten mit weitreichenden Trägersystemen zu entwickeln. Busse meint aber auch, dass damit nicht von vornherein ein leichtfertiger Umgang mit der Waffe unterstellt werden könne.

    In der Regel hat sie eine disziplinierende Wirkung auf ihre Besitzer gehabt. Die eigenen Atomwaffen bieten Amerika und Europa immer noch den verlässlichsten Schutz vor gegnerischen Nuklearschlägen.

    Andererseits aber schütze der Besitz von Atomwaffen despotische Regime ebenso vor Intervention von außen, sei es im Namen der Menschenrechte oder aus materiellen Interessen:

    Das verkleinert den Spielraum für unsere Außenpolitik, je weiter die Proliferation fortschreitet. Kernwaffen errichten Mauern um Länder, hinter denen ihre Regierungen tun können, was sie wollen.

    Die Relativierung von Macht und Einfluss des Westens, also der USA und Europas, auf die Welt sieht Busse überhaupt in der Nach-, Um- und Aufrüstung asiatischer Staaten:

    Eine asiatische Macht, die global agieren konnte, gab es noch nie. Jetzt haben gleich mehrere Staaten im bevölkerungsreichsten Kontinent mit dem Aufbau von Armeen begonnen, die weit von ihren Landesgrenzen entfernt eingesetzt werden können. Gelingt ihnen das, dann wird die militärische Vormacht des Westens Stück für Stück zurückgedrängt - erst in Asien, dann in anderen Weltregionen. In den nächsten Jahrzehnten werden auch chinesische, indische und andere Generale lernen, Irakkriege zu führen. Militärische Interventionen zur Wahrung eigener Interessen waren dann die längste Zeit ein Vorrecht des Westens. Im 21. Jahrhundert könnten sie zum Schwert aller Großmächte werden. Damit verlöre der Westen eines seiner ältesten und wichtigsten Herrschaftsinstrumente.
    Ganz ähnlich beurteilt Busse die zum Teil aggressiven Bemühungen asiatischer Staaten um die Rohstoffquellen, vor allem in Afrika, und ihr stets selbstbewussteres Auftreten bei internationalen Konferenzen, etwa über Handels- und Klimaschutzfragen sowie nun über die Finanzkrise. Und so gelangt er zum Titel seines Buches: "Die Entmachtung des Westens".

    Aber das ist eine Behauptung, die er selbst widerlegt. Er beschreibt zwar das Erstarken der neuen, zugleich aber auch die Stärken und die Möglichkeiten der traditionellen Mächte. Dass dazu ein enges Zusammenspiel von USA und Europäischer Union dienlich wäre, ist kein origineller Gedanke, sondern nur naheliegend. Und da die EU mit 27 Mitgliedern viel zu behäbig und oft auch zu zerstritten sei, nimmt Busse auch hier ein altes Rezept auf, indem er für eine Art informelles Zentrum aus Briten, Franzosen und Deutschen plädiert, dem die anderen nolens volens folgen müssten. Tatsächlich hätten

    diese drei europäischen Mittelmächte nur die Wahl zwischen Zusammenarbeit und Einflussverlust. Scheitern sie daran, Europa in die neue Weltpolitik zu führen, dann wird es immer wieder als Zaungast auf der globalen Bühne auftreten, als Kontinent des Zuschauens und Wehklagens.

    Einfluss ergibt sich für Busse wesentlich aus militärischer Stärke, und das ist eine sehr konservative Sicht, die durchaus zu hinterfragen wäre. Können die Deutschen dabei eine treibende Kraft sein? Die eingangs zitierten Passagen spiegeln Busses Skepsis. Damit mag er recht haben. Und es ist anzuerkennen, dass er mit seinem Buch aufklärend wirken möchte - flott, aber zuweilen etwas zu flink formuliert, kenntnisreich, aber nicht immer schlüssig. Wenn er schließlich unter Berufung auf Leopold von Ranke das Hohe Lied auf die Unabhängigkeit eines Staates anstimmt, geht er selbst vom 21. ins 19. Jahrhundert zurück. Denn die von Ranke beschriebene und gewünschte Unabhängigkeit gibt es schon seit Mitte des 20. nicht mehr.

    Dietrich Möller über Nikolas Busse: Entmachtung des Westens. Die neue Ordnung der Welt. Erschienen im Propyläen-Verlag, mit 300 Seiten, für Euro 22,90