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Alte und neue Songspiele

Das Kurt-Weill-Fest in Dessau wurde nach der Wende gegründet und gehört zu den wichtigsten Kulturaktivitäten in Sachsen-Anhalt. Den Auftakt bildete eine Mahagonny-Bearbeitung von Helmut Oehring, Titel: "Die Wunde Heine".

Von Frieder Reininghaus |
    Vor zwei Jahrzehnten, in der "Wendezeit", vermittelte das monströs überdimensionierte Theater von Dessau ein Erlebnis besonderer Art: Vor einer "Rigoletto"-Premiere wurden den Journalisten Musterbesprechungen von deren Resultat ausgehändigt (eine längere und eine kürzere Fassung – damit sie auch wissen, was sie zu schreiben haben und je nach Bedarf).

    Inzwischen sieht Dessau wieder etwas moderner und feiner aus. Auch die Mittel der Journalistenbetreuung haben sich modernisiert und verfeinert: Die Berichterstatter bekommen reichlich E-Mails und einen Stapel Papier in die Hand gedrückt, aus dem sie erfahren, dass sie ein "beeindruckendes Werk", das nicht etwa von Genies stammt, sondern von den "Genien" – "grandios" und "kongenial". Soviel vorab. Das Resultat erwies sich dann als etwas ernüchternder.

    Der Berliner Komponist Helmut Oehring hat sich mit der Theaterdichterin und Regisseurin Stefanie Wördemann verbunden und – als Composer in residence des Dessauer Kurt-Weill-Festes – das geschaffen, was seit einigen Jahren gerne "Kreation" genannt wird: eine Zweit- oder Drittverwertung von Gedanken und Werken, die andere zuvor zu Wege gebracht haben.

    Das Mahagonny-Songspiel von 1927, das damals noch so gut wie keine Beachtung fand (lediglich der jugendbewegte Hans Mersmann rühmte es wegen seiner potenziell "gemeinschaftsbildenden" Kraft), diese Radio-Ballade wurde in Gänze und säuberlich, ja: steril ordentlich musiziert vom Ensemble modern unter Leitung von Franck Ollu, in Oehrings Kompilat "Die Wunde Heine" eingebracht. In dieser Wunde hat die von der Amerika-, Sex- und Box-Begeisterung des jungen Brecht genährte Nummernfolge zwar nicht wirklich etwas zu suchen, verbindet jedoch auf wohlfeile Weise die Weill-Vermarktung mit seiner Nachbehandlung von historischen Literatur-Häppchen.

    Stefanie Wördemann hat am literarischen Kontinent Heinrich Heine genippt. Sie mixte ein wenig Dichterliebe – das "Aus alten Märchen" winkende Es, "Die alten bösen Lieder" (die zu Grabe getragen werden sollten) – auch Wintermärchen etcetera mit literarisch weniger stringenten Sentenzen des Komponisten zu einem anspruchs-, ironie- und kritikfreien Libretto. Gestützt auf dies Schnäppchen setzte Oehring ein halbes Dutzend Episoden in Musik – ansprechende Theatermusik, in der ein subtiles Duo zwischen Saxofon und Sopran hervorsticht, sich aber auch dünne Lineatur in die Länge zieht oder Marschmusik nachhallt. An die Intensität und das Kaliber von Effi Briest (Bonn 2001), BlauWaldDorf oder Wozzeck kehrt zurück (Aachen 2001 beziehungsweise 2004) reicht dies vorn und hinten nicht heran. Auch hat Helmut Oehring diesmal auf die bei ihm eigentlich obligatorische Gebärdensolistin und das in Richtung des Gesangs der Wale sich vortastende Klangexperimentieren verzichtet.

    Helmut Oehring konnte und wollte teilen. Die Hälfte der Hälfte des kurzen Abends, die er bestritt, überließ er seinem Gitarristen Jörg Wilkendorf, der in sechs längeren "Song"-Fenstern an die Heine-Adaptionen von Rio Reiser erinnerte. Dazu wurde überm Männer-Gesangsquartett und den beiden Sopranistinnen Sylvia Nopper und Salome Kammer etwas verfremdetes und animiertes Bildgut gezeigt. Das alles war so beliebig, dass sich dann doch noch wie ein Konzept andeutete: Der "Composer in Residence" wurde von Lotto Sachsen-Anhalt 'mädiziniert' – und möglicherweise hat er ja nur aus tiefer Dankbarkeit das bei der Lotterie waltende Zufallsprinzip in seine Kunstbemühung verlängert. Die Wunde Heine wirkte jedenfalls ziemlich ausgeblutet. Aber "recht angenehm". Wie es der Dichter ja schon ansprach.