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Alter Israelitischer Friedhof in München
Kein Geld, um den Erinnerungszerfall zu verhindern

Bröckelnde Grabsteine, wuchernde Pflanzen: Der Alte Israelitische Friedhof in München verfällt. Es fehlt Geld, um die Anlage zu unterhalten, die Spendeneinnahmen reichen nicht aus. Noch ist ungeklärt, was der Stadt diese Erinnerung Wert ist.

Von Regina Steffens | 11.09.2019
Der alte Israelitische Friedhof in München zerfällt.
Der alte Israelitische Friedhof in München zerfällt. (Deutschlandradio/Regina Steffens)
Eine laute Straße, Schrebergärten und ein Spielplatz im Münchner Stadtgebiet. Inmitten versteckt: Der alte Israelitische Friedhof, geschützt von einer Mauer, im 19. Jahrhundert noch Stadtrand. Eintreten kann man nur durch ein Seitentor - mit Anmeldung.
"Der Friedhof ist auch abgeschlossen, wie Sie sehen, weil es keine neuen Beerdigungen mehr gibt, sondern höchstens noch Zubettungen, wenn jemand in ein Familiengrab möchte."
Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, kennt diesen unscheinbaren, versteckten Ort seit fast 40 Jahren. Seit über 100 Jahren schon ist der Friedhof geschlossen. Sich heute nahezu selbst überlassen. Wie die teils 200 Jahre alten Gräber. Viele von ihnen verfallen.
"Es gibt nur für einen Bruchteil der Gräber Nachfahren, jüdische wie auch nichtjüdische, die sich um die Gräber kümmern können."
Viele Nachkommen wurden von den Nationalsozialisten deportiert und in Vernichtungsslagern ermordet. Die Juden, die flüchten konnten, kehrten oft nicht nach Deutschland zurück.
Und weil es diese Pflege nicht mehr systematisch auf diesem alten jüdischen Friedhof gibt, deshalb ist es ein Waldfriedhof, der, wenn nicht die Gärtner hier dagegen arbeiten würden, immer mehr sich selbst überlassen bleibt.
Die Gärtner, von denen Ellen Presser erzählt, sind drei Herren im Rentenalter, die hier und da Büsche zurückschneiden oder die Wiese am Eingang mähen. Neben der alten Aussegnungshalle ragt ein fast zwei Meter hoher Geröllberg. Was aussieht wie die Reste einer Baustelle, sind Fragmente zusammengebrochener Grabsteine.
Ellen Presser erzählt: "Wenn Sie etwas haben, dass Sie einem Grab nicht mehr zuordnen können, dann kommt es auf diesen Steinberg, auf diesen Steinhaufen, weil Sie dürfen nicht hier irgendeine Wanne aufstellen, das reintuen und es auf die nächste Müllhalde bringen. Das ist pietätlos. Alles, was auf dem Friedhof ist, gehört den Verstorbenen. Wenn Sie das nicht mehr zuordnen können, wo diese Trümmer her sind, dann muss man sie so hinlegen - wie es ja auch heißt Erde zu Erde, Staub zu Staub, die Natur tut dann ihr Werk - wäre nicht angemessen das zu entsorgen."
Wie Domino-Steine
Ein Teil davon liegt schon seit den 1960er Jahren hier, als Einbrecher Steine beschädigten und sie wie Domino-Steine umfielen. Ellen Presser führt über den Friedhof, durch ein Gewirr aus 6000 Grabsteinen, weist links und rechts auf Beschädigungen hin.
"Die Risse werden tiefer, durch die Risse kommt die Feuchtigkeit rein, das ist die eine Möglichkeit. Die andere Gefahr, die besteht, durch den Samenflug entstehen neue Bäume."
Bäume, die Grabsteine in die Schieflage drücken. Andere Steine kippen vorn über. Viele haben Löcher. Dort fehlen Metall oder Messingverzierungen, die in der NS-Zeit geplündert wurden.
Ellen Presser: "Sie sehen, da gab es Aufsätze. Das ist alles geplündert worden, die Inschriften sind weg, das Grab ist als solches noch stabil, hier kommen die Luftwurzeln noch dazu."
Selten, auf Anmeldung, führt Presser Besuchergruppen über den Friedhof. Aber nicht bei Regen und Schnee - zu groß ist die Gefahr über Wurzeln zu stürzen und sich oder einen Stein zu verletzten.
Der Gemeinde fehlt Geld für Sanierungen. "Wie soll man das erbringen, wenn sich eine jüdische Gemeinde zwischen 1990 und 2005 sich mehr als verdoppelt hat, durch den Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion. Wenn viele Leute hierher gekommen sind, die bedürftig sind, die Sozialabteilung hat sehr, sehr viel Arbeit und damit auch Kosten. Und da muss man sich erst mal um die Bedürfnisse der lebenden Gemeindemitglieder kümmern."
Spendengelder kommen nur einzelnen Verstorbenen auf dem neuen Israelitischen Friedhof im Norden von München zu Gute. Helfen will nun Stadtrat Michael Mattar von der FDP. Er hat kürzlich einen Antrag eingebracht, indem er finanzielle Unterstützung von Seiten der Stadt fordert.
Michael Mattar sagt: "Wir haben uns ja in München manchmal etwas schwer getan was die Gedenkkultur anbelangt, es hat sehr lange gedauert bis wir das NS-Dokumentationszentrum bekommen haben, wir haben einen heftigen Streit über die Stolpersteine gehabt."
Nachdem diese "größeren" Projekte nun finanziert seien - das NS-Dokumentationszentrum eröffnete 2015 - sei es nun an der Zeit für "kleinere" Projekte, so Mattar.
Michael Mattar: "Leider Gottes können wir diesen Friedhof ja nicht wie den Südfriedhof öffnen oder da sogar Eintritt verlangen. Aus Sicherheitsgründen. Das ist sehr bedauerlich, aber das wird sich nicht ändern lassen. Es geht darum, dass wir für die Pflege und den Erhalt mit aufkommen und da die Gemeinde und auch Familien unterstützen."
Ablesbare Historie
Mattars Antrag wird voraussichtlich im Herbst behandelt. Der FDP-Stadtrat setzt da auch auf den guten Kontakt des Oberbürgermeisters zu Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Kultusgemeinde und Ehrenbürgerin der Stadt München.
Für Betrieb und Unterhalt der städtischen Friedhöfe stellt die Stadt München aus ihrem Haushalt sechs Millionen Euro für 2019 zu Verfügung. Darunter fallen auch solche Friedhöfe, die nicht mehr in Betrieb sind, wie der Südfriedhof.
Auf dem Friedhof erklärt Ellen Presser, dass jüdische Gräber, anders als im Christentum, nicht ausgehoben und neubelegt werden. Daher lässt sich an ihnen so viel Historie ablesen.
"Nämlich: Wie war die Grabkultur, welche Materialien wurden verbaut, wie haben die Inschriften ausgesehen, das sagt etwas aus über die Kultur einer Stadt. Wie häufen sich die Sterbedaten?"
Ein Beispiel dazu: Bestimmte Areale deuten auf eine hohe Sterberate von Kindern und alten Menschen Mitte des 19. Jahrhunderts - ein Hinweis auf Seuchen, bevor München die Kanalisation ausbaute.
Zwischen den vielen maroden Steinen fallen ein dutzend Gepflegte auf, mit goldener, sauberer Inschrift. Einige Gräber werden nämlich bereits finanziell unterstützt vom Freistaat Bayern.
Es sind die von neun Männern, die nach den Novemberpogromen 1938 ins Konzentrationslager Dachau gebracht wurden und deren sterbliche Überreste man zum Friedhof überführen konnte. Ein Denkmal erinnert an sie.
Ellen Presser: "Wir haben hier vorne ein Mahnmal, das hat ursprünglich die bayerische Seen- und Schlösserverwaltung installiert, inzwischen ist die Stiftung bayerischer Gedenkstätten dafür zuständig, dass die jüdischen Opfer, die nach Dachau verbracht wurden und die zurück kamen, also nahe am Sterben oder tot hierher gekommen sind, sodass sie auf dem jüdischen Friedhof beerdigt wurden, die sind auf der Installation namentlich berücksichtigt."
Aber sie sind die Ausnahme. Ellen Presser sagt, sie seien ein Tropfen auf den heißen Stein.