Freitag, 29. März 2024

Archiv


Alter Wein in neuen Schläuchen

Im Juli 2005 wurde Kumanbek Bakijew durch die so genannte Tulpenrevolution zum kirgisischen Präsidenten gewählt. Eine neue demokratische Republik sollte entstehen - Korruption und Clanwirtschaft der Vergangenheit angehören. Doch Armut und Kriminalität haben sogar noch zugenommen, Präsident Bakijew regiert ebenfalls autoritär.

Von Isabella Kolar | 29.07.2006
    Svetlana Nikolajewna ist in Eile. Schon fast atemlos hetzt die Museumsführerin mit einer Horde von ebenfalls atemlosen Touristen durch die schwach beleuchteten Gewölbe des heiligen Berges Sulaiman. Vitrinen mit wertvollen Tongefäßen, in Seidengewänder gehüllte Stoffpuppen und bunte Amulette rauschen an den Betrachtern vorüber. Gemeinsam mit den Jahreszahlen zur Geschichte Kirgistans, die Swetlana professionell herunterrasselt.

    Draußen, vor dem Eingang sitzt, die grauen langen Haare vom Wind zerzaust und gehüllt in ein goldverziertes dunkelblaues Samtgewand, Kusambek Bajbollov auf einer niedrigen Mauer. Der Blick ruhig auf die grau-braunen Granitfelsen des Sulaiman gerichtet. Er und seine zwei Freunde beten. Hinter ihrem Rücken liegt unten im Tal, inmitten einer flachen Landschaft: Osch, die heimliche Hauptstadt und südliche Metropole Kirgistans.

    "Wir beten, wir sind Arbeiter der Religion", sagt er anschließend mit abwesendem Blick. Paris Saribaew, 77-jähriger Rentner, hat sein ganzes Leben in Osch verbracht. Doch er beobachtet aufmerksam, was in Bischkek - der tatsächlichen Hauptstadt Kirgistans, nur eine Flugstunde nördlich von hier - passiert. Denn es seien die aktiven Revolutionäre aus dem Süden gewesen, die vor über einem Jahr Kurmanbek Bakijew zum kirgisischen Präsidenten gemacht hätten, erklärt er stolz:

    "Wir sind eine multinationale Stadt. Hier leben vor allem Kirgisen, Usbeken, Russen und Tadschiken. Leider sind viele arbeitslos geworden und nach Russland ausgereist. Der neue Präsident will alles besser machen, um eine demokratische Republik zu schaffen, damit keine Unordnung herrscht. Insgesamt leben die Leute hier nicht schlecht, und bald wird es noch besser. Ganz ohne Korruption geht es nicht. Doch Viele sind zufrieden. Die Wenigen, die gegen Bakijew sind, sind die Leute von Ex-Präsident Akajew. Wir brauchen Friede und Ruhe, damit die Regierung arbeiten und für Ordnung sorgen kann."

    Kurmanbek Bakijew ist ein Mann des Südens, ehemaliger Elektroingenieur aus der Region Osch, der durch die so genannte "Tulpenrevolution" den Mann des Nordens, Askar Akajew, nach fast 15-jähriger Regierungszeit stürzte.

    Der Westen deutete die Ereignisse, sie sich am 24. März letzten Jahres im fernen Zentralasien abspielten, als erfreulichen Beweis für die Wirksamkeit der "Dominotheorie": Nach und nach brachen also die autoritären Regime im postsowjetischen Raum zusammen, die Demokratie auf dem Vormarsch, nach Georgien und der Ukraine nun die Revolution in Kirgistan. Und die geschickte demokratische Rhetorik des am 10. Juli 2005 mit 89 Prozent frisch gewählten Präsidenten schien die Annahme zu bestätigen.

    Bakijew weiß, dass das kleine ressourcenarme fünf-Millionen-Einwohner-Land Kirgistan abhängig ist von Gunst und Geld des Auslands:

    "Auf dem Gebiet der GUS ist Kirgistan heute ein Staat, in dem sich die Demokratie sehr stark entwickelt. Unser Volk ist jetzt sehr offen, die Bürgergesellschaft sehr aktiv und die Menschen wollen schnellere Ergebnisse: sowohl der wirtschaftlichen als auch der politischen Reformen. Die Regierung und die Präsidialadministration versuchen genau in diese Richtung zu arbeiten, damit die Hoffnungen erfüllt und die Menschen nicht enttäuscht werden."

    Doch viele sind es bereits. "Keine Revolution, das war lediglich der Putsch eines neuen Clans gegen den alten", sagt der Sozialdemokrat Almasbek Atambaew - und nicht nur er. Sieben Monate lang diente Atambaew unter Bakijew als Industrieminister. Im April hat er seinen Rücktritt eingereicht. Von seinen drei wichtigsten Wahlkampfversprechen: eine Verfassungsreform, die die autoritäre Präsidialdemokratie einschränkt, der Kampf gegen Korruption und Clanwirtschaft sowie die schnelle Durchführung von sozialen und wirtschaftlichen Reformen, habe Bakijew kein Einziges gehalten, sagt Atambaew heute:

    "Es hat sich herausgestellt, dass er ein ganz gewöhnlicher Betrüger ist. Er hat uns alle, und auch das Volk, betrogen. Nachdem er Präsident geworden war, hat er alle seine Versprechen vergessen und hat nur noch für sich und seine Familie gearbeitet. Ich bin aus Protest zurückgetreten, nicht nur weil er seine Versprechen nicht gehalten hat, sondern auch, weil die Regierung direkt mit kriminellen Elementen Kontakt aufgenommen und sogar mit ihnen zusammengearbeitet hat."

    Omurbek Tekebaew war bis vor kurzem unter Bakijew Parlamentssprecher, auch er hat sich von ihm abgewandt: Heute sitzt er für die Sozialisten auf der Oppositionsbank. Nichts habe sich verbessert im Land, im Gegenteil:

    "Als wir alle in Opposition zu Akajew waren, haben wir ihm immer seinen Autoritarismus vorgeworfen, die Konzentration grenzenloser Macht in den Händen eines einzigen Menschen. Auch Herr Bakijew hat davon gesprochen. Und kurz vor den Präsidentschaftswahlen hat er eine Reihe von Abkommen unterschrieben, in denen er sich dazu verpflichtet hat, bis Ende letzten Jahres eine Verfassungsreform durchzuführen. Doch heute hat er seine Versprechen vergessen. Die heutige Regierung hat von Anfang an kriminelle Elemente benutzt, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Dann haben sie allmählich auch angefangen, kriminelle Gruppen für wirtschaftliche Zwecke einzusetzen, um dieses oder jenes Eigentum zu übernehmen. Das hat die Autorität der heutigen Regierung untergraben. Die Menschen beobachten das, und sie verlieren ihre Hoffnung."

    Während Bakijews Amtszeit kamen schon vier Parlamentsabgeordnete unter ungeklärten Umständen ums Leben. Die Kriminalität hat dramatisch zugenommen, die Angst geht um: Eine schleichende Verflechtung von Unterwelt und Regierung, werfen seine Opponenten dem kirgisischen Präsidenten vor. Seiner Gegner habe sich Bakijew auch dadurch entledigt, dass er sie umbringen ließ, sagt Askar Akajew - sein Vorgänger, der heute im Moskauer Exil lebt:

    "Leider gibt es in keinem Bereich des gesellschaftlichen Lebens irgendeine Verbesserung, es wird alles immer schlimmer. Heute gibt es im Land keine politische Stabilität, ständige kriminelle Konflikte, ein Anstieg der Verbrechen, Stagnation in der kirgisischen Wirtschaft, Verschlechterungen in allen sozialen Bereichen. Das Hauptziel der farbigen Revolutionen war: mehr Demokratie. In Kirgistan gibt es nicht etwa mehr Demokratie, sondern im Gegenteil: Es wird die persönliche autoritäre Macht des Präsidenten zementiert."

    Akajews Tochter Bermet, die in das neue kirgisische Parlament gewählt wurde, der aber das Mandat wegen angeblichen Stimmenkaufs entzogen wurde, hat ein Buch über die so genannte "Tulpenrevolution" geschrieben. Der Titel: "Die Blumen des Bösen". Sie dementiert die "Dominotheorie":

    "Der größte Unterschied ist, dass es in Kirgistan nicht die große Unterstützung durch das Volk gab, wie in Georgien oder Ukraine. Es wäre undenkbar gewesen, dass hier 500.000 wie auf dem Maidan auf die Straße gehen. Bei uns waren es an jenem Tag maximal 20 bis 30.000 Menschen. Die meisten hat man aus dem Süden hierher gebracht. Das heißt, die Leute sind kurz vorher mit Autos und Autobussen aus dem Süden nach Bischkek gebracht worden, und haben dann das "Weiße Haus" gestürmt. Natürlich war das keine Revolution, es war ein klassischer Putsch von Clans. Es sind keine neuen Leute an die Macht gekommen, wie in Georgien und der Ukraine, sondern leider Menschen der alten Epoche."

    Doch wenn Akajew und seine Tochter heute vorwurfsvoll aufzählen, mit welch wichtigen staatlichen Posten Kurmanbek Bakijew seine eigene Verwandtschaft versorgt, und wie er Eigentum zu seinen Gunsten umverteilt, dann werfen sie mit Steinen aus dem Glashaus. Akajew will seine eigene Amtszeit heute als Blüte der Demokratie verstanden wissen, obwohl der starke Einfluss seiner Frau, seiner Kinder und anderer Verwandten auf das gesamte politische und wirtschaftliche Leben Kirgistans jedermann bekannt war.

    Alles, was Gewinn versprach - wie Zement, Alkohol, Gas oder Benzin - war unter der Kontrolle der Akajew-Familie, die Korruption blühte. Kirgistan ist ein Land der Nomaden und der Clans, traditionell gewachsene Strukturen, die hartnäckig sind und einer Demokratisierung im "Hau-Ruck"-Verfahren entgegenstehen.

    Der 58-jährige Kurmanbek Bakijew, ein "Apparatschik" mit 15-jähriger Karriere im Staatsapparat und sein Kommando: Männer von 50 aufwärts, ebenfalls hervorgegangen aus der Schule Akajews. Das ist nicht die Generation, von der wirkliche Reformen zu erwarten sind, meint der Bischkeker Politologe Nur Omarow:

    "Es fehlen hier sehr viele ernsthafte Voraussetzungen für eine Demokratie. Faktisch haben wir in all den Jahren unter Akajew unter den Bedingungen des Clankapitalismus gelebt. Diese Regierungsform bleibt uns leider erhalten. Wir diskutieren in Kirgistan gerade sehr heftig darüber, wie wir eine neue Elite großziehen könnten, die eine neue politische Kultur in diesem Land schaffen könnte. Die einzige Lösung sind demokratische Parteien. Solange keine neue junge Elite entsteht - die es wirklich ernst meint mit wichtigen Veränderungen - können wir hier nicht über Reformen reden. Vor allem die Jugend flieht zurzeit aus dem Land, weil sie sich woanders jenseits von Clanbeziehungen selbst verwirklichen will."

    Ebenfalls ein Mann der alten Schule ist Felix Kulow, der Premierminister Kirgistans. Der ehemalige Geheimdienstchef aus dem Norden des Landes, saß unter Akajew im Gefängnis, wurde nach seiner Befreiung zum Volksheld und trat dann bei der Präsidentschaftswahl im Tandem mit Bakijew an. Ziel war: Die Spaltung des Landes in den weltlichen Norden und den islamischen Süden zu neutralisieren. Doch kaum an der Macht waren Bakijew und Kulow in erster Linie nicht mit diesem, sondern mit dem Machtkampf untereinander beschäftigt.

    Dass die Statistiker allein im letzten Jahr 2500 Protest-Meetings gegen die Politik der neuen Regierung in ganz Kirgistan zählten, wertet Felix Kulow als Beweis demokratischer Reife:

    "Nach der Revolution waren die Erwartungen der Menschen sehr groß. Sie wollten große positive Veränderungen in kurzer Zeit. Wir wollen unbedingt Reformen durchführen, deshalb haben wir nichts gegen die Meetings. Unter Akajew waren Meetings verboten, und als ich im Gefängnis saß, haben die Leute ihre Treffen auf irgendwelchen Hinterhöfen durchgeführt. Heute können die Menschen sich frei ausdrücken, das Wichtigste ist nur, dass diese Meetings ruhig verlaufen. Unsere Gesellschaft ist heute schon sehr reif, und wir fürchten uns nicht vor Massendemonstrationen."

    Der Zentralasien-Experte Alexander Knjasew sieht weder auf den Straßen noch im 75-Männer-Parlament von Bischkek irgendein Indiz für Reife: Die einen würden fürs Demonstrieren bezahlt und die anderen seien ein Club persönlicher Interessenvertreter, keine Versammlung von Parteien mit Programmen. Partikularinteressen, nicht das Gemeinwohl stünden im Vordergrund, so Knjasew:

    "Diese Aktivität betrifft erstens nur einen kleinen Teil Kirgistans, und zweitens ist es für niemanden in der Republik ein Geheimnis, dass ein großer Teil der Leute auf diese Meetings wegen des Geldes geht. Sie werden von interessierten Politikern bezahlt. Das sind nicht alle, doch ein sehr wesentlicher Teil der Teilnehmer an diesen Massenaktionen. Ich denke, Kirgistan ist vorerst noch ein künstlicher Staat. Es ist eine Gruppe von Regionen, die sehr eng durch Verwandschafts- und Stammesbeziehungen zusammengehalten werden. Jede einzelne Partei in Kirgistan besteht im Prinzip aus einer Sippe oder einem Stamm. Das Vielparteiensystem in Kirgistan ist schlicht die zivilisierte Form von Stammesbewusstsein. Das war bei Akajew so, und das ist jetzt so. Eben das ist für mich der Beweis für die Unreife dieser Gesellschaft. Die Opposition heute - das sind die Führer, die nicht zufrieden sind mit der Umverteilung der Macht, die im letzten Jahr nach dem Abgang von Akajew stattgefunden hat."

    Kurmanbek Bakijew verkauft heute stolz die Gehalts- und Rentenerhöhungen im Land als sein Verdienst. Beschlossen wurden sie vom Parlament seines Vorgängers Askar Akajew. Er verspricht in diesem Jahr ein Wachstum des Bruttosozialprodukts um acht Prozent, und eine entscheidende Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in den kommenden zwei Jahren. Doch die Massenflucht aus Kirgistan, die schon vor fünf Jahren einsetzte, hat sich während Bakijews Amtszeit verstärkt: 700.000 bis eine Million Menschen, also fast 20 Prozent der Bevölkerung, befinden sich zum Geldverdienen fast ständig im Ausland, vor allem in Russland.

    Das kirgisische Durchschnittseinkommen beträgt 50 Dollar, die Durchschnittsrente 15 Dollar. Laut offizieller Statistik sind 40 bis 45 Prozent der kirgisischen Bevölkerung arm. Inoffizielle Schätzungen gehen von 80 bis 85 Prozent Menschen aus, die unter dem Existenzminimum leben. Drei Prozent der Bevölkerung gehören 95 Prozent des nationalen Reichtums - der Rest geht leer aus.

    Und demokratische Rhetorik verblasst vor undemokratischen Fakten: Ein Gesetzentwurf zur stärkeren Kontrolle von Nichtregierungsorganisationen wurde erst im letzten Moment gestoppt, die elektronischen Medien werden von einer Kommission - bestückt mit Ministern Bakijews - durch beschränkte Frequenzvergabe kontrolliert. Sein Wahlversprechen, eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt zu schaffen, hat Bakijew bis heute nicht eingelöst. Gegen Journalisten, die den Präsidenten kritisieren, ermittelt die Staatsanwaltschaft.

    Und gegen unerwünschte ausländische Einmischung weiß sich Bakijew auch zu wehren: Den überraschten Amerikanern präsentierte er gleich nach Amtsantritt einen um 100 Prozent erhöhten Preis für ihren kirgisischen Stützpunkt Gansi. Der Politologe Nur Omarow:

    "Die Amerikaner unterstützen im Moment sehr aktiv die neue Opposition, und rüsten sie ideologisch gegen den neuen Präsidenten aus. Bestimmte amerikanische Parlamentarier reisen ständig hierher. Deshalb ist das natürlich ein Signal von Bakijew: Leute, Finger weg von unserer Innenpolitik! Denn letztendlich liegt es im ureigensten Interesse der Amerikaner, dass der Stützpunkt Gansi erhalten bleibt. Der Handel geht so: Wenn ihr meine Innenpolitik in Ruhe lasst, dann kann auch euer Stützpunkt hier bleiben."

    Doch Bakijew weiß auch, dass Kirgistan - will es überleben - weiter den ausgewogenen Balanceakt zwischen den drei großen "global players" der Region - Russland, den USA und China - wagen muss. Auch wenn er durch seine häufigen Besuche in Moskau demonstriert, wo seine Priorität liegt.

    Da das Verhältnis zu Usbekistan abgekühlt ist, gewinnt Kasachstan - großer ölreicher Nachbar im Norden - weiter an Bedeutung. Unruhig bleibt die Grenze mit Tadschikistan - einem Brennpunkt des internationalen Drogenhandels.

    Kirgistan wartet nach über einem Jahr immer noch ungeduldig auf die Früchte der so genannten "Tulpenrevolution". Memetkan Scherimkulow, der Präsident des ersten unabhängigen Parlaments von Kirgistan glaubt - noch - an Bakijew. Dieser wisse, dass auf seine Worte bald Taten und vor allem Ergebnisse folgen müssten:

    "Ich denke, Bakijew meint es ernst. Und er begreift als kluger Mensch: Entweder er führt einen sehr ernsthaften Kampf gegen die Korruption und Kriminalität im Land, oder man wird ihn genauso absetzen wie Akajew. Wenn er die Versprechen, die er seinem Volk öffentlich gegeben hat, nicht hält, dann wird er bald kein Präsident mehr sein."
    Straßenszene in Kirgistan
    Inoffiziellen Schätzungen zufolge, leben 80 bis 85 Prozent der Kirgisen unter dem Existenzminimum. (AP Archiv)