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Altern

"Ich werde nicht alt." Der Satz ist unbekannter Herkunft. Er muss früh entstanden sein. In der Lebenszeit zwischen 15 und 20 vermutlich, wenn die Überzeugungen sich bilden, die einen verlässlich begleiten. Was die Überzeugung, ich werde nicht alt, sagen wollte, schien unzweideutig. Das Geschenk einer Lebenszeit, der die Pein von Hinfälligkeit und Greisentum erspart bliebe, weil sie rechtzeitig abbräche.

Von Michael Rutschky |
    Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben. Gérard Philipe, den engelhaften Star des französischen Nachkriegsfilms nahmen sie mit 37 zu sich; keine späten Filme, in denen man ihn wie Marlon Brando bestaunen konnte, der vom jungen Wilden zum alten Walfisch mutiert ist. Gern wird als früh abberufener Götterliebling Brian Jones zitiert, der Engel der Rolling Stones, der es nur bis 27 schaffte; von James Dean können wir schweigen.

    Zahlreich bevölkern solche Götterlieblinge die Kunst- und die Literaturgeschichte. Der Götterliebling ist grundsätzlich ein Frühvollendeter, der seine Meisterwerke mit 30, spätestens mit 40 Jahren fertig hat. Aus der Literaturgeschichte kam das Schema auf das Kino, in die Welt der Filmstars, der Celebrities - wo Anfang des Jahres 07 Anna Nicole Smith die farcenhafte Version lieferte. Mit 39 starb sie an einer Überdosis, die lächerlich aufgedonnerte Blondine, die eine Wiedergeburt von Marilyn Monroe darstellen sollte, als Fotomodell sowie als späte Liebe eines sehr alten Mannes. Keine Spur von Frühvollendung. Schon Marilyn Monroes - sie wurde 36 - gedenkt man mit Betrübnis. Wer sie frühvollendet nennt, begeht einen Fauxpas.

    Nun, man ist recht froh, wenn man die 25 erreicht, statt wie James Dean bei einem Autounfall zu sterben; die 28, statt wie Brian Jones tot aufgefunden zu werden; wenn man die 38 erreicht hat, die Gérard Philipe nicht schaffte, wegen Herzproblemen, heißt es, oder war es Leukämie? Dann, so um die 40, wäre es Zeit, den ehrwürdigen Satz, ich werde nicht alt, einzulösen.

    Tatsächlich kommt es um diese Zeit oft zu lebensbedrohenden Krisen. Eine komplizierte Lungenoperation wird erforderlich. Die in der Jugend akquirierte Tuberkulose verwuchs sich zwar, ehe sie entdeckt wurde. Doch die alten Narben gestalteten sich zu Unruheherden aus, die den 40-Jährigen, der doch noch was werden will in seinem Leben, zu einem Invaliden machen.

    Die Frau von 40 Jahren leidet plötzlich an Herzbeschwerden, von denen die medizinische Untersuchung zeigt, dass sie aus der Schilddrüse kommen. In der Schilddrüse sitzt Krebs, der nur durch die Entfernung derselben entfernt werden kann.

    Dieser 40-jährige Mann hier fühlt morgens beim Frühstückskaffee einen Druckschmerz im Brustraum - die Zigarette in der einen, die Tageszeitung mit den normalen Schreckensmeldungen in der anderen Hand, im Hintergrund ein schwelender Ehestreit - , ein Druckschmerz im Brustraum, der sich zu Strömen von Angstschweiß auswächst, Erbrechen, und im Krankenhaus sagen die Apparate, doch, kein Zweifel, es ist ein Herzinfarkt.

    Sie nehmen solche Krisen mit Enthusiasmus in Angriff, die 40-Jährigen, die Lungen- und die Schilddrüsenoperation, die Wiederherstellung nach dem Infarkt. Regelmäßiges Schwimmtraining, das den gestörten Stoffwechsel, der die Herzkranzgefäße verstopfte, wieder in Schwung bringen soll; außerdem war sofort das Rauchen aufzugeben. Nein, niemand stirbt dankbar mit 40, weil das halt ein Satz aus der Vorzeit so vorschrieb, ich werde nicht alt.

    Sie werde jetzt, sagte neulich eine Frau von 40, 20 Jahre nicht mehr über das Altern nachdenken; bis sie 60 sei. Ein weiser Vorschlag. Über das unwiderstehliche Vergehen der Zeit zu grübeln - ob man es nicht doch irgendwie aufhalten könnte - gehört zu den Vorrechten der Jugend.

    Und das Ende der Jugend hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter verschoben; setzte die Sozialstatistik früher das Ende der Jugend bei 25 Jahren an, so kann man inzwischen 40 eintragen, mit 40 tritt man ins Erwachsenenalter, das man im Englischen treffend "middle age" nennt, ein. Der Satz, ich werde nicht alt, verliert jede Deutungskraft; die Lockung, die der plötzliche Herztod verströmt, verliert jeden Reiz. Ab 40 erstrebt niemand mehr den Kurzlebenslauf des Götterlieblings.

    Wenn ich aus dem Leben der 60-Jährigen die eigentümliche Beobachtung beisteuern darf: dass man die Unterschiede zwischen 20- und 40-Jährigen nur noch undeutlich erkennt. Während ein junger Mann, eine junge Frau jedes Jahr, dass ein anderer junger Mann, eine andere junge Frau mehr oder weniger hinter sich haben, haargenau abschätzen kann, verschwinden diese Unterschiede für den älteren Beobachter vollständig.

    Verdiente Jugendlichkeitsdarsteller im Kino wie Tom Cruise oder Brad Pitt sind unterdessen 45 respektive 43 Jahre alt - das stört den älteren Kinogeher wenig, wenn in einem Film die Rolle des jungen Mannes mit ihnen besetzt ist. Dass sie ein wenig angegangen und zermürbt ausschauen, fällt nicht ins Gewicht; die Zermürbung betrifft eine grundsätzlich noch jugendliche Person.

    Das gilt auch außerhalb des Kinos, im wirklichen Leben: Jene Frau von 40 Jahren, die erst mit 60 wieder ans Altern denken will, es ist mir ganz unmöglich, sie anders als jung zu erkennen.

    Der Herzinfarkt, die Lungen- oder Schilddrüsenoperation, solche Gesundheitskrisen verleihen den 40-Jährigen noch einmal ein eigenes Unsterblichkeitsgefühl. Man hat den Tod schon einmal überstanden, wie soll er da noch drohen. Freilich setzen auch die Übungen ein, mittels deren er endgültig ausgeschaltet werden soll.

    Vom Schwimmtraining war bereits die Rede (das dann viel weniger Einfluss auf den Cholesterinspiegel nahm als erhofft). Viele der Jogger, die man zu jeder Jahreszeit durch den Zentralpark rennen sieht in Trainingskleidung, erwecken den Eindruck von Fanatismus, des verzweifelten Eingesponnenseins in fixe Ideen. Ein einziger enger Gedanke scheint sie anzutreiben: dass das Rennen das Altern und den Tod vertreibt; jedenfalls auf unendliche Zeit hinauszögert. Das Wohlbehagen, das ein durch sportliche Übung erregter Körper nach innen verströmt, wirkt als Bekräftigung der fixen Idee, als Erfolgserlebnis.

    Es kommt mir so vor, als habe das gleichsam offizielle Lob für Fitness allmählich nachgelassen; wirksam scheint mir auch gar nicht, dass die Gesellschaft den Schwimmer, Jogger, Freizeitsportler mit Wohlwollen begleitet, weil er was für seine Gesundheit tut, wirksam ist das unmittelbare Wohlgefühl des stimulierten Kreislaufs. Fitness ist vorzüglich eine Angelegenheit des Selbstbezugs.

    Gleichzeitig schreitet die Feinbeobachtung von Zermürbung und Verfall unwiderstehlich fort. Frauen vermögen darüber noch ausführlicher Auskunft zu geben, weil eine fleißige Industrie, indem sie Gegenmittel anbietet, hier die kritische Selbstbeobachtung mitleidlos trainiert. Jede Straffungscreme vermehrt die Gesichtsfalten erst einmal ins Unermessliche. Reklamefotos von schönen alten Frauen - womöglich nackt - verhöhnen die Selbstbeobachterin: "Ja, die sehen toll aus mit ihren malerischen Altersflecken und skulptural angeschlafften Muskeln", spottet die 60-Jährige - "aber schau mal mich an!"

    Um den Verfall des Männerkörpers abzuwenden - und so erst richtig sichtbar zu machen - existiert noch keine systematisch entwickelte Industrie. Männer neigen dazu, die Angelegenheit zu beschweigen. Doch wer mal richtig zugehört hat - vielleicht sich selbst - , was ein Mann erzählt, dem die Haare ausgehen, der eine Glatze bekommt, erhält eine Vorstellung von den Tiefen der Verzweiflung, in denen man hier versinken kann. Der Verlust des Kopfhaars beschädigt die Substanz der Person.

    Eine besondere Wirkkraft entfaltet, wenn es um den selbst beobachteten Verfall des Männerkörpers geht, das Fett. Schon bretterdünne Jungs kann man sich angstvoll in den Bauch kneifen sehen, ob wirklich keine Fettfalte erübrigt. Die fortschreitende Aufweichung des Männerkörpers lässt auf undurchsichtige Weise ein immerwährendes Memento mori verlauten; das zunehmende Fett impliziert die Annäherung an den Tod, was die heimliche Richtung der Fitness-Übungen noch einmal gut erkennbar macht.

    Zugleich ist dieser anhaltende Selbstbezug hochpeinlich, ein Anlass intensiver Scham. Das nackte Posieren vor dem Spiegel bei der Morgentoilette; der durchdringende Kummer, wenn der Bauch im Gürtel ein weiteres Loch erobert hat; die Niederlagen im Kampf um die Konfektionsgrößen: deshalb am besten gleich Maßanzüge - und den Männern steht, wie gesagt, nur in schwachen Ansätzen eine Industrie bei, die sich dieser Besorgnisse offensiv annimmt.

    Der Schuldirektor, der Ressortchef, der Abteilungsleiter, der Familienvater - sie sollten alle als erwachsene Männer draußen in der Welt selbstvergessen tätig sein, statt sich in diesem juvenilen Selbstbezug zu quälen. Weil er so peinlich, ein Gegenstand intensiver Scham ist, wird hier vermutlich niemals ein Diskurs entstehen, der es an Subtilität und Differenzierung mit dem der Frauen über ihre verfallende Jugend aufnehmen kann. Das Schweigen bleibt die bevorzugte Kommunikationsform der Männer.

    Dann befindet man sich plötzlich jenseits der 60, und das Alter ist keine Drohung mehr, hinter jenem Horizont, das Alter ist in der Nähe, es ist schon da. Der Körper kann nicht mehr daraufhin beobachtet werden, wie er seine Jugendlichkeit bewahrt respektive verliert - wobei der juvenile Körper unveränderlich den fixen Grund bildet - , vielmehr hat der Verfall eine neue Gestalt gebildet, an der keine Beobachtung mehr vorbeiführt.

    Im übrigen gehen die Geschichten auseinander. Die Studienrätin, die sich schon mit 56 aus gesundheitlichen Gründen hat pensionieren lassen; der tägliche Auftritt vor den immer jünger und immer unverständlicher werdenden Schüler inspirierte sie zu keinerlei frischer Anstrengung mehr. Wohl aber der Garten, den sie mit großer Sorgfalt ausgestaltet - Gartenbücher im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit durchzuarbeiten, damit taucht sie noch einmal in ihre Jugend ein, in das Studium, wo man auf diese aufgeregte Art Lehrbücher apperzipiert. In der Zeit der Berufsarbeit nie mehr. - Der Garten, dem die Museumskuratorin, seit sie pensioniert ist, so viel Arbeit und Aufmerksamkeit widmet, kann es an Schönheit, Vielfalt, Reichtum mit dem der Studienrätin aufnehmen. Doch bleibt er, wie alle erkennen, die zuschauen, Ersatz, was immer die Kuratorin schwärmt, welche Saat im Frühling aufgegangen, welche Stauden so prächtig ausgelegt haben - in Wahrheit ist die Kuratorin mit all ihren Geisteskräften bei der Ausstellung, die ihr der Museumsverein noch einmal zu organisieren aufgetragen hat.

    Die Arbeit bleibt ihr zentraler Lebensinhalt; während die Studienrätin dankbar an sich selber das Burn-out-Syndrom diagnostiziert hat, von dem man jetzt so viel in der Zeitung liest. Während die Kuratorin gern bis 67 gearbeitet hätte und über die Auseinandersetzungen spottete, die die Verschiebung des Rentenalters provozierten. In den Sielen, wie man sagt, möchte sie sterben; plötzlicher Herztod bei Recherchen in Wien, die Ausstellung über Sigmund Freud und Aby Warburg, die wieder so ein strahlender Erfolg wird, wie sie weiß.

    Der Studienrat, der Museumskurator, wir haben wieder nur die Mittelklassen vor Augen, wenn es um die Arbeit geht, aus der einen das Alter unwiderruflich vertreibt, qualifizierte Arbeit, die einst als Selbstverwirklichung erstrebt wurde. Doch dann schaue ich mir die Supermarkt-Kassiererin an, die, wie sie seit einem halben Jahr mit leise falschem Stolz erklärt, im Sommer in Rente geht, jawohl, sie zieht sich in das Häuschen auf dem Lande zurück, wo es weiß Gott genug zu tun gibt für sie und ihren Alten, und alle, die hören können, vernehmen deutlich, dass er der gemütlichen Dame schwer fällt, der Verzicht auf die Arbeit im Supermarkt.

    Unvergesslich der Bankangestellte, der offen und schmerzlich erklärte, er gehe in Rente, weil die neuen Geldautomaten ihn in seinem Glaskasten überflüssig machen; kein Kunde braucht mehr die persönliche Ansprache, auf die er sich seit so vielen Arbeitsjahren so gut versteht (und die viele junge Kunden aufdringlich fanden; ihnen passt der anonyme Geldautomat viel besser ins Konzept).

    Die Arbeit, auf die man sich im Lauf der Jahre so gut versteht, sie ändert unter der Hand ihre Gestalt. Der Ressortchef, der einfach keine Lust verspürt, sich auf das neueste im Netz einzulassen, die Blogger, schon das Wort erfüllt ihn mit Wut. Der Radio-Autor, der es sich einfach nicht angewöhnen kann, seine Sendungen ausschließlich aus O-Tönen zusammenzusetzen, als wäre es ein Film. Der Psychotherapeut, der die allerneuesten Konzepte, die ihm seine Klienten antragen, nicht mehr schweigend unterlaufen kann, sondern sich zu Gegenreden provoziert fühlt - zu schweigen davon, dass sein Gehör nachlässt und er viele Worte falsch versteht.

    Hier lauern furchtbare Schrecken. Mein alter Vater arbeitete bis zu seinem 75. Lebensjahr immer mal wieder in seinem Beruf als Wirtschaftsprüfer - aber eines Tages verfiel vor seinen Augen die Firmenbilanz, die er hätte kontrollieren sollen, wie die sprichwörtlichen trockenen Pilze, und es war vorbei mit der Arbeit.

    An dieser Stelle hat gern die Kulturkritik ihren Auftritt, die gute alte Zeit. Damals, klagt der Psychotherapeut, konnten die Klienten ihr Seelenleben noch spontan zur Sprache bringen und waren nicht durch in der Zeitung angelesenes Pseudowissen überfremdet. Damals, klagt der Radio-Autor, funktionierten O-Töne noch als Lokalfarbe; doch allen war klar, dass ein gutes Hörstück im Hinblick auf Komposition geschrieben sein muss und nicht so zusammengebastelt. Damals, klagt der Ressortchef, war das Zeitungmachen noch eine Profession, die man geduldig zu erlernen hatte; während die jungen Leute heutzutage alles aus dem Stand machen wollen.

    Damals, klagt der Bankangestellte, pflegte die Sparkasse noch den Kontakt zu ihren Kunden; auch Geldgeschäfte waren etwas Persönliches. Während heute alles anonym geworden ist. Ich bin sicher, dass sich die freundliche Matrone aus dem Supermarkt hier einreihen kann mit ihrer höchsteigenen Klage über die neumodische Zeit. Ich selber habe als Kunde dem Aufstieg und Niedergang des Supermarkts beigewohnt - das Wort "Niedergang" macht die Angelegenheit zu einer der Kulturkritik, neutrale Beobachter sprächen von Wandel und Transformation.

    Warum soll das Bankgewerbe, die Psychotherapie, das Radio-Feature, der Supermarkt um - sagen wir: 1990 die perfekte Form besessen haben, die jetzt unwiderruflich verfällt?

    Der Standpunkt liegt diesseits - respektive jenseits - der 60, wenn es zur Pensionierung, Verrentung, zum Ausstieg aus dem aktiven Dienst kommt. Die Kultur, die Gesellschaft, die Zeit, die Welt, die sich unverkennbar im Niedergang und Verfall befindet, das ist die Kultur, die Gesellschaft, die Zeit, die Welt, an der du nur noch gebremst mitwirken kannst. Und das ist unverzeihlich - daher die Kulturkritik.

    Gerade alternde und alte Menschen können sich in dramatische Hasstiraden auf die unrettbare Gegenwart hineinsteigern. Sie bleiben folgenlos; denn es führt kein Weg zurück, kein verrenteter Kassierer wird von seiner Bank unter Demutsgesten zurück an den Schalter gerufen, weil ohne persönlichen Kundenkontakt alles schief laufe, weil der anonyme Geldautomat das Geldgeschäft ruiniere.

    Die Kulturkritik der Alten, damit sprechen sie ihren Fluch über die Gegenwart aus, die nicht mehr die ihre ist. Verständlicherweise richtet sich die Kulturkritik mit Gusto gegen die Jugend. Sie missachte das Alter; sie verschmähe die Bildung, siehe Pisa; sie ruiniere sich durch Drogen, durch Alkohol, durch Computerspiele. Die jungen Menschen sind außerstande, sich zu vermehren - die Zeitungen reden immer wieder von der demographischen Katastrophe, der niedrigen Geburtenrate: die Deutsche sterben aus.

    Den Rentner erfüllt das mit höhnischer Befriedigung. Niemand erwartet von ihm einen Beitrag. Der steinalte Millionär J. Howard Marshall, der sich mit jener Marilyn-Monroe-Kopie namens Anna Nicole Smith verband, er machte sich lächerlich, der lüsterne Greis, und stiftete Unheil mit seinen Wohltaten. Das sieht der Rentner gern.

    Selbstverständlich ist diese Art von Kulturkritik, die sich nostalgisch auf eine gute alte Zeit bezieht, als das Radio noch richtig das Radio und der Supermarkt noch wirklich der Supermarkt war, was beides unwiederbringlich verloren ging - selbstverständlich ist diese Art von Kulturkritik kein Privileg des Rentenalters.

    Die Nostalgie, der sie entspringt, übt ihre Macht über alle Lebensalter aus. Man kann 25-Jährige darüber fluchen hören, dass die Tanzmusik von heute einfach keine mehr sei, verglichen mit der Musik, zu der sie mit 20 getanzt haben; die gute alte Zeit liegt also fünf Jahre zurück.

    Unvergesslich der Philosophiedozent, der mir Anfang der neunziger Jahre, nach dem Zusammenbruch des Sozialismus erklärte, was das wieder für ein Unfug sei. Die verblendeten Massen streben nach immer mehr Konsumchancen, dabei war die Welt in Mitteleuropa um 1955 fertig, in ihrem bestmöglichen Zustand. Die Kriegsschäden waren im großen und ganzen repariert, und das bescheiden-beschauliche Konsumniveau hätte auf Dauer gestellt werden können. Keine Überproduktion, keine Ölkrise, keine Klimakatastrophe. 1955 war der Philosophiedozent 14 Jahre alt, ein idealer Fluchtpunkt für Nostalgie. Sie besitzt in jeder Lebenszeit eine innige Affinität zum Altern, und aus ihr fließt von früh an Kulturkritik.

    Freilich kann sich der Mann von 45 Jahren einbilden, die Hauptsache stehe noch bevor, der endgültige Erfolg, die schlagende Erkenntnis, das überwältigende Liebesglück. Dann werde das fortlaufende Grübeln und Zweifeln, die ununterbrochene Selbstkritik verstummen. Der 60-Jährige weiß, dass diese Hauptsache, die immer aussteht, ein Phantom ist. Nie wird die Supermarkt-Kassiererin überraschend zur Filialleiterin berufen; nie trägt man dem Philosophiedozenten den Lehrstuhl in Heidelberg an; nie erscheint die geliebte Person, deren Dasein auf immer beglückt. Die Kulturkritik, dass früher alles besser war und solche Wunder geschahen, soll gegen die Enttäuschung durch die Normalität immunisieren.

    Wer diesseits - respektive jenseits - der 60 ist, hat sie hinter sich. An der Lebensweise, die jetzt beginnt, haben sich in den letzten hundert Jahren unvorstellbare Veränderungen vollzogen; jedenfalls in unseren Gegenden. Die Lebenserwartung steigt; immer mehr Menschen werden immer älter und verbringen selten ihre Zeit damit, im Abendschein auf der Rasenbank am Elterngrab der verlorenen Zeit nachzusinnen.

    1939 schrieb Bertolt Brecht unter dem Titel "Die unwürdige Greisin" eine Kalendergeschichte, die Jahrzehnte später in den Schulbüchern stand. Großmutter ist 72, als Großvater stirbt und sie von den letzten der Familienpflichten befreit, die sie ihr ganzes Leben lang erfüllt hat. Statt neue Pflichten auf sich zu nehmen und ihren Kindern und Kindeskindern zu Diensten zu sein, widmet Großmutter ihre letzten beiden Lebensjahre dem Vergnügen.

    Sie geht regelmäßig ins Kino; sie nimmt ihre Mahlzeiten im Gasthof ein; sie befreundet sich mit einer angeschlagenen jungen Frau und unternimmt Ausflüge in die große Stadt; sie befreundet sich mit einem sozialdemokratischen Flickschuster und verbringt mit ihm lustige Abende. Unwürdig nennt sie die kleine Stadt, in der sie lebt, ebenso wie ihre Familie.

    1939 konnte man nicht wissen, dass die unwürdige Greisin den Ruhestand der Zukunft verkörpern werde. Es dauerte ja auch noch eine ganze Weile. Es kam der Krieg und die sogenannte schlechte Zeit, in der Großmutter oft viel härter und verzweifelter arbeiten musste als Brechts Musteroma. Aber dann begann in den siebziger, achtziger Jahren für die Generation ihrer Enkel, als sie diesseits - respektive jenseits - der 60 sich wieder fanden, eine Ära des altersspezifischen Hedonismus.

    Die Frau hinter der Supermarktkasse erfindet sich ein arkadisches Dasein in ihrem Gärtchen auf dem Lande. Der Sparkassenangestellte verabschiedet sich von den Stammkunden mit schönen Aussichten auf das Ehrenamt in seinem Sportverein. Von dem Philosophiedozenten weiß ich, dass er einem lebenslangen Herzenswunsch jetzt endlich nachgibt und Ägyptologie studiert; dahinter steckt die erkenntnistheoretische Schrulle, dass die Hieroglyphen, an denen man oft die bezeichneten Dinge erkennt, der Ursprache der Menschheit näher seien als alle anderen Schriften.

    Man kann Universitätsprofessoren im besten Mannesalter dazu provozieren, dass sie lebhaft über die Senioren-Studenten klagen, die in den Seminaren ohne jeden Karrieredruck sich ihren Lieblingsthemen wortmächtig und selbstbewusst hingeben, der Begriff des Souveräns in der Staatstheorie, Rembrandt und seine Werkstatt, was meinte Max Weber mit "wertfreier" Wissenschaft, der ontologische Gottesbeweis. Die Studenten im Jugendalter, stark unter Karriere-, ja Lebensdruck, fühlen sich von den munteren Greisen an den Rand gedrängt.

    Und dann gibt es die Luxusblüten dieses Altershedonismus zu bewundern. Die Kreuzfahrt im Mittelmeer, von der das alte Anwaltsehepaar in den Indischen Ozean wechselt und dann in die Karibik, auf Dampfern, die New Yorker Wolkenkratzern ähneln, bloß liegen sie quer. Das Asternpalais in Potsdam, in Rottach-Egern oder in Bad Wildungen, das die Bequemlichkeiten des Altersheims mit den Vorzügen des Luxushotels verbindet; ab 1300.- monatlich.

    Mag sein, dass der Mann von 62 Jahren, den man kürzlich mit acht Kilo Marihuana auf einer Autobahn Mecklenburgs erwischte, auf die Schnelle das Vermögen einsammeln wollte, das ihm dort Zugang verschafft; warum soll diese Art von Kriminalität den Jungen vorbehalten sein?

    Eine besonders sumpfige Sumpfblüte - sagt die Kulturkritik - stellte diese Anzeigen- und TV-Kampagne dar, in der alte Damen splitternackt für Kosmetikprodukte Reklame machten. Elke, 63, beispielsweise, ehemals Außenhandelskauffrau der DDR, die mit Textilimporten für die verzweifelten Exquisit-Geschäfte befasst war, wo die modisch ausgehungerte Bürgerin des Realsozialismus Kleidung kaufen konnte, die nach Westen aussah. Man braucht vor dem Alter keine Angst zu haben, sagten Elke und die anderen nackten Damen der Kampagne; mehr noch: Alter im Sinn von Abstieg und Verzicht gebe es nicht.

    Du kannst mit 63 Aktmodell werden, was dir mit 36 ganz unmöglich war. Und am Mittwochabend in Clärchens Ballhaus, wo Siggi, 66, mit dem flotten Bärtchen und dem eierschalenfarbenen Dreiteiler schon wartet, um dich zur Swingmusik der Dreißiger zu schwenken, als wärst du 16 (in welchem Alter du niemals Swing getanzt hättest). Oder du gehst ehrenamtlich in die JVA und befreundest dich mit Jana D., die dich anfangs ablehnt, weil du ihr zu alt und zu bourgeois bist. Aber du gewinnst ihr Vertrauen dank deiner Ruhe und Gelassenheit; sie klagt dir ihr Leid über den fürchterlichen Gefängnisalltag, schaut deine Urlaubsfotos an, spielt mit dir Rommee. Und um das Maß voll zu machen, verwandelt eine angesehene Illustrierte diese Stoffe auch noch in Stories samt Fotoportraits der Heldinnen und Helden.

    Diese Stories sind sauber recherchiert und haben gewiss draußen in der Wirklichkeit stattgefunden. Damit sie ihre Bedeutung rausrücken, muss man sie aber, wie der Terminus technicus lautet, den der amerikanische Soziologe Erving Goffman dafür erfunden hat, "hoch modulieren", auf das Niveau des Symbolischen heben, zu einer Aussage über das Insgesamt unserer Gesellschaft ausgestalten.

    Das Alter gibt es nicht, lautet diese Aussage. Oder, noch besser: im Alter erreicht man, was man in der Jugend gewünscht, was einem der weitere Lauf der Begebenheiten aber versagt hat, man unternimmt abenteuerliche Reisen, man posiert angstlos als Aktmodel, man tut Gutes, indem man selbstlos Knastbrüder mit seiner Aufmerksamkeit beschenkt. Das Alter ist keine Zeit des Abschieds und Verzichts, im Gegenteil, es ist die Zeit der Erfüllung. Hier findet endlich das unentfremdete Leben statt.

    Versteht sich, dass wir hier nur eine der kursierenden Mythologien vor Augen haben. Die andere malt schwarz. Statt von der Erfüllung, die am Ende kommt, handelt sie von der endgültigen Verarmung. Der Radio-Autor, der wegen der veralteten Machart seiner Sendungen keine mehr verkauft, muss entdecken, dass seine Rente kaum für die Miete reicht; kein Gedanke an Kreuzfahrten im Indischen Ozean oder Safaris in der Serengeti. Statt gegenüber Strafgefangenen den Wohltäter zu spielen, bräuchte er selber einen.

    Vor allem konzentriert sich die Verarmungsangst auf das Geld, das im Alter aus anderen Quellen fließen muss, weil die Erwerbsarbeit ausfällt. Die Frau, die voller Verzweiflung anruft, wie es denn um die Witwenrente stehe? Wann ihr Mann verstorben sei? fragt der Berater zurück. Vor einer Viertelstunde. - So gibt es Informationsabende, an denen sich die Geängstigten, zwischen 30 und 50 Jahre alt, den Angststoff besorgen können. Die regelmäßigen Bescheide, dass es 300, 400 Euro geben werde, steigern regelmäßig die Depression.

    Zusatzversicherungen für die Zukunft lohnen sich erst, wenn der notwendige Monatsbeitrag eine gewisse Höhe erreicht - aber genau dafür fehlt ja das Einkommen; in unendlicher Ferne die Existenz des Ölmilliardärs, der als Wohltäter einen Marilyn-Monroe-Klon umsorgte. Dies ist die Wirklichkeit - warum kann man keine Instanz anrufen, die hier für Ausgleich sorgt? Niemand fällt, versichert der Berater, unter das Niveau der Sozialhilfe - was den Schrecken, den diese Informationsabende verbreiten, steigert. Haargenau das sollte doch unbedingt vermieden werden, mit 70 von Sozialhilfe leben.

    Als zentrale Mythologie, gewinnt man den Eindruck, wirkt sich hier die Statistik aus. Die Lebenserwartung steigt, wie gesagt. Werden Männer heute durchschnittlich 76 und Frauen 82 Jahre alt, so gestaltet sich die Lage im Jahr 2030 schon so, dass Frauen 86 und Männer 81 Jahre alt werden. Um Himmels Willen, denkt der Zeitungsleser, Radiohörer, selbst wenn die Rente allgemein gesichert wäre - was sie bekanntlich nicht ist - : wer soll für den Lebensunterhalt dieser Greisenmassen aufkommen?

    Unmerklich, sagt die schwarze, von der Statistik befeuerte Mythologie, verwandeln sich diese Greisinnen und Greise sämtlich in Pflegefälle. Heute existieren ungefähr 9000 Heime, in den ca. 700.000 von ihnen leben. Schon jetzt reicht das Geld kaum aus, um eine erträglichen Tageslauf zu sichern.

    Stellen wir uns eine verwirrte alte Dame vor, die ewig quengelt, weil ihr die Frisur missfällt - sie wird keine Zeit für ein menschenwürdiges Frühstück finden. Wer beim Frühstück senil trödelt, dem fehlt ausreichend Zeit für das Mittagessen, das dem alten Menschen ohnedies kaum noch schmeckt. Während die einen sich an der Suppe vergessen, schieben die anderen schon das Hauptgericht beiseite, doch bloß Pappe. Das Pflegepersonal gerät in Hektik. Die robuste Krankenschwester stößt den Becher mit dem Abführmittel um. Egal, murrt sie, sitzt Opa eben länger auf dem Topf.

    Opas Heimplatz kostet monatlich 2838, seine Rente beträgt 1279 Euro. Wer bezahlt die Differenz? Wer in der Zeitung, im Rundfunk regelmäßig diese Berichte verfolgt, wie immer mehr alte Leute immer mehr Geld und Pflege benötigen, kommt zu dem Ergebnis, dass hier wiederum eine Katastrophe ansteht. Unlösbare Probleme, vor denen Vater respektive Mutter Staat versagen. Was weiß ich. Kein Wunder, dass sich die Idee der Sterbehilfe solcher Beliebtheit erfreut.

    Auch hier kann die Recherche in vielen einzelnen Fällen plausible Erzählungen erbringen. Was aber im großen sich auswirkt, das ist die Mythologie, die hier die andere Seite von Kreuzfahrten in der Karibik, des Tusculums in Brandenburg malt.

    Das schwarze Gegenbild des unentfremdeten Lebens, zu dem man nach einer Arbeitsbiographie als Angestellter angeblich gelangt. Abhängig vom Pflegepersonal, verwirrt kindischen Ritualen hingegeben, herumgeschubst, verarmt, unselbständig und keine liebende Mutter, kein beschützender Vater mehr in der Nähe. Die Zukunft ist verschwunden. Man kann nur noch den Tod erwarten.

    Es fällt auf, dass dem Publikum beide Mythologien, die womöglich die helle und die dunkle Seite ein und derselben Mythologie sind, gleichmäßig verabreicht werden. Was dann wieder realistisch ist. Denn das Ende kann in der Tat so oder so ausschauen. Voraussagen sind unmöglich. –

    "Ich werde nicht alt." Im Gang der Jahrzehnte änderte der Satz seinen Sinn vollständig. Beschwor er ursprünglich den Götterliebling, der die 40 nicht überschreitet und dem die lebensnotwendigen Enttäuschungen erspart bleiben, so scheint es sich jetzt einfach um eine magische Abwehrformel zu handeln. Die anderen, sie mögen Falten werfen und Fett ansetzen, ihnen mögen die Haare ausgehen und die Gelenke steif werden - mir soll das alles erspart bleiben.

    Das ist natürlich Unfug. Schon vor 20 Jahren wurde unabweisbar, dass die Schrift, sei's gedruckte, sei's selbst geschriebene, unscharf war, wie durch Gelee gelesen. Eine Lesebrille musste her; Altersweitsichtigkeit im Alter von 45 Jahren. Eines Sommers fiel der Blick auf den Unterarm, wegen der Hitze entblößt, und die Haut bot, statt der gewohnten Glätte, ein merkwürdiges Gekrissel - wie man in Hessen sagt - , eine kleinteilige Fältelung, die sich, wurde der Unterarm bewegt, zusätzlich vermehrte.

    Überhaupt, die Haut. Die vielen Flecken, die sie überall annimmt, in so vielen Formen und Schattierungen. Anfangs, wenn man an der grundsätzlichen Jugendlichkeit des Körpers noch festhält, als wäre glatte Haut auf glattem Fleisch der Naturzustand des Menschen, anfangs können eine verlaufene Flecke in dunklerem Braun in Todesangst versetzen. Das Melanom, der Hautkrebs, die Strafe für das Dauersonnenbaden. (Das damals, man erinnert sich mühsam, schon eine Schönheitskur gegen schwere Körpermängel war. Aber welche?)

    Doch dann zeigt sich meist, dass all die Flecken harmlos sind und bloß den Alterungsprozess darstellen; vergebliche Hoffnung auf Lebensgefahr. Besondere Aufmerksamkeit zieht längst eine andere Haut auf sich, die Hornhaut, die an den Füßen entsteht und aus ihnen so etwas Altägyptisches macht. Sie durch Kratzen, Polken, Reißen zu entfernen, empfiehlt sich nicht. Man hat sich bald verletzt, und es kommt Blut. Während die Phantasie etwas ganz anderes sagt: dass man die Hornhaut abziehen müsste wie die Schale von einer Orange, und darunter liegt das jugendlich frische Fleisch.

    Schließlich der Rückbau im Innern der Maschinerie. Dauernd vergreift man sich in den Worten, sagt tatsächlich "agamemnon" statt "angenommen". Und das Gedächtnis, immer wieder wegen seiner fabelhaften Leistungen bewundert, verweigert die Mitarbeit. Keine Ahnung, wie der Schauspieler heißt, der in John Fords Film "My Darling Clementine" den Schauspieler gibt, der im Saloon den großen Hamlet-Monolog spricht, Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Ich weiß bloß noch, dass er in Alfred Hitchcocks "Der Mann, der zuviel wusste" zum Londoner Freundeskreis von Doris Day gehört, der ihr einen herzlichen Empfang bereiten möchte, wahrend James Stewart nach Ambrose Chapel und dem gekidnappten Sohn sucht...

    Ach, spottet der 80-Jährige, mit 60 kann man noch viel. In meinem Alter hat man schon fast vergessen, dass es Filmregisseure namens John Ford und Alfred Hitchcock gab.