Mittwoch, 24. April 2024

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Alterstests bei Jugendlichen
"Im Zweifel für die Minderjährigkeit"

Wenn es um die Feststellung des Alters einer Person gehe, müsse es unbedingt vermieden werden, dass das Alter fälschlicherweise zu hoch geschätzt werde, sagte Andreas Schmeling, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik, im Dlf. Das Überschreiten juristisch relevanter Altersgrenzen könne zweifelsfrei nachgewiesen werden.

Andreas Schmeling im Interview mit Uli Blumenthal | 03.01.2018
    Ein Röntgenbild von einem Gebiss eines 28-jährigen Mannes hängt am 31.03.2014 in einer Zahnarztpraxis in Hannover (Niedersachsen).
    Teil des Verfahrens der Altersfeststellung ist eine Röntgenuntersuchung des Gebisses. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Ulrich Blumenthal: Nach dem gewaltsamen Tod einer 15-Jährigen im pfälzischen Kandel wird über Alterstests bei Flüchtlingen diskutiert. Die saarländische Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer forderte bundeseinheitliche Verfahren zur Altersfeststellung von mutmaßlich minderjährigen Asylbewerbern. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, hat sich gegen obligatorische Alterstests ausgesprochen. Röntgen ohne medizinischen Anlass verletze die körperliche Unversehrtheit und sei nur im Rahmen eines Strafprozesses zulässig.
    Professor Andreas Schmeling ist stellvertretender Direktor des Instituts für Rechtsmedizin Universitätsklinik Münster und Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik und ich habe ihn kurz vor der Sendung gefragt, mit welcher Genauigkeit man das Alter von Jugendlichen bestimmen kann.
    Andreas Schmeling: Die derzeit geführte Debatte um die taggenaue Altersschätzung führt leider an der eigentlichen Frage vorbei. Diese lautet nämlich: Kann das Überschreiten juristisch relevanter Altersgrenzen mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitsmaß verlässlich nachgewiesen werden? So geht es im Strafverfahren beispielsweise um die Altersgrenzen 14, 18, 21 Jahre, und wenn es um die Anwendbarkeit von Erwachsenenstrafrecht geht, wie im aktuellen Fall, insbesondere um die Altersgrenze 21 Jahre. Und dann ist es völlig unerheblich, ob die zu untersuchende Person 22 Jahre, 22,5 Jahre oder 30 Jahre alt ist - rechtsrelevant ist lediglich die Frage: Kann das Überschreiten der Altersgrenze 21 Jahre zweifelsfrei nachgewiesen werden? Und das ist möglich.
    Volljährige Personen können auch als minderjährig klassifiziert werden
    Blumenthal: Können Sie denn trotzdem noch mal die Frage beantworten, wie genau kann man das Alter bestimmen, sei es jetzt 14, 16, 18 oder 21 Jahre - wie genau ist das möglich?
    Schmeling: Das Ergebnis eines Altersgutachtens ist ein wahrscheinliches Alter und ein Mindestalter, solange die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Sind die untersuchten Entwicklungssysteme ausgereift, kann nur noch ein Mindestalter angegeben werden. Das Mindestalter ist das Alter der jüngsten Person, die das bestimmte Altersmerkmal in einer Referenzgruppe aufgewiesen hat.
    Die Anwendung des Mindestalterkonzeptes führt dazu, dass man das Mindestalter festlegt, dass die untersuchte Person auf keinen Fall jünger sein kann als dieses Mindestalter. Das führt in der Praxis dazu, dass, wenn es beispielsweise um die Frage der Volljährigkeit, die Vollendung des 18. Lebensjahres geht, keine tatsächlich minderjährige Person fälschlicherweise als volljährig klassifiziert wird – allerdings um den Preis, dass einige tatsächlich volljährige Personen noch möglicherweise als minderjährig klassifiziert werden.
    Blumenthal: Das kann man auch so interpretieren oder beschreiben, dass man dann eher Leute zu jung einschätzt als zu alt.
    Schmeling: Genau, der Grundsatz bei diesen Altersschätzungen in dem genannten Altersbereich lautet immer: Niemals zu alt schätzen, im Zweifel für die Minderjährigkeit.
    Dreistufiges Verfahren
    Blumenthal: Wie laufen solche Altersbestimmungen ab? Zuerst nach den äußeren Geschlechtsmerkmalen, nach Körperform, Behaarung, oder schaut man gleich auf das Skelettsystem, schaut man sich gleich die Weisheitszähne an, die sich als letzte bilden, wie geht man da vor?
    Schmeling: Um eine höchstmögliche Aussagesicherheit zu erzielen, ist ein dreistufiges Vorgehen erforderlich, außerdem muss eine Ermächtigungsgrundlage für Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation vorliegen. Die erste Stufe besteht aus einer körperlichen Untersuchung mit einer Anamneseerhebung. Ziel dieser ersten Stufe ist es festzustellen, ob entwicklungsbeschleunigende Erkrankungen oder Medikationen vorliegen, weil diese dazu führen könnten, dass das Alter fälschlicherweise zu hoch geschätzt wird, was unbedingt zu vermeiden ist.
    Gibt es Anhaltspunkte für entwicklungsbeschleunigende Erkrankungen, ist keine medizinische Altersfeststellung möglich. Werden keine Anhaltspunkte für Entwicklungsstörungen festgestellt, kann man zur zweiten Stufe übergehen. Diese besteht aus einer Röntgenuntersuchung der Hand und einer Röntgenuntersuchung des Gebisses. Bei der Röntgenuntersuchung des Gebisses kommt es insbesondere auf die Mineralisation der Weisheitszähne an, weil das die letzten Zähne des menschlichen Gebisses sind, die sich noch entwickeln.
    Ist sowohl die Handskelettentwicklung als auch die Weisheitszahnentwicklung abgeschlossen, kann man Volljährigkeit noch nicht zweifelsfrei nachweisen, weil bei Frühentwicklern beide Entwicklungssysteme vor Vollendung des 18. Lebensjahres abgeschlossen sein können. Deshalb ist dann die dritte Stufe bei abgeschlossener Handskelettentwicklung anzuschließen, und das ist eine CT-Untersuchung der Schlüsselbeine. Die Schlüsselbeine sind deshalb von großer Bedeutung, weil das die Knochen des menschlichen Skeletts sind, deren Wachstumsfugen sich als Letzte schließen. Wenn ein höheres Entwicklungsstadium der Schlüsselbeinverknöcherung vorliegt, kann man zweifelsfrei die Vollendung des 18. Lebensjahres als auch des 21. Lebensjahres nachweisen.
    Ethnisch bedingte Einflüsse
    Blumenthal: In der Wissenschaft gibt es immer die entscheidende Frage, wie zuverlässig sind diese Untersuchungen oder wie zuverlässig sind solche Tests oder wie hoch ist das Risiko für Fehleinschätzungen. Wie würden Sie es bei den von Ihnen geschilderten Verfahren für die Altersbestimmung beschreiben?
    Schmeling: Mit den von mir geschilderten Verfahren kann man das Überschreiten der juristisch relevanten Altersgrenzen 14, 18, 21 Jahre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachweisen.
    Blumenthal: Also kein Risiko für Fehleinschätzungen, oder es werden, so habe ich vorher gelesen, auch Vergleichstabellen beispielsweise mit hinzugezogen, die dann - so wäre meine Frage dann - möglicherweise für andere Ethnien gar nicht gelten.
    Schmeling: Hier ist zu unterscheiden zwischen Einflussfaktoren auf die Skelettreifung und Einflussfaktoren auf die Weisheitszahnmineralisation. Die ethnische Zugehörigkeit spielt für die Skelettreifungsgeschwindigkeit keine Rolle, der entscheidende Einflussfaktor ist hier der sozioökonomische Status einer Population. Sozioökonomisch hoch entwickelte Populationen erreichen eine maximale Entwicklungsgeschwindigkeit, Populationen, die unter ungünstigeren Lebensbedingungen aufwachsen - also schlechte Ernährung, schlechte Hygiene, Kinderkrankheiten -, führen zu einer Entwicklungsverzögerung. Und wenn man jetzt die Referenzstudien, die an sozioökonomisch hoch entwickelten Populationen erstellt wurden, auf Angehörige von sozioökonomisch geringer entwickelten Populationen anwendet, würde das zu einer Altersunterschätzung führen, was juristisch nicht von Nachteil für die untersuchte Person wäre.
    Anders verhält es sich bei der Weisheitszahnmineralisation, hier gibt es tatsächlich einen ethnisch bedingten Einfluss, und zwar in dem Sinne, dass abstammungsverwandtschaftlich gesehen Afrikaner im Vergleich zu Europäern entwicklungsbeschleunigt sind, während Asiaten im Vergleich zu Europäern entwicklungsverzögert sind. Das hat dann für die Altersschätzungspraxis die Konsequenz, dass populationsspezifische Referenzstudien angewendet werden, um hier keinen Fehler zuzulassen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.