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Altes und neues Russland

Nur ein paar Requisiten und ein paar Möbel, sie haben Peter Stein als Kulisse ausgereicht, um seine Dämonen von Dostojewski in der Scheune seines eigenen Anwesens in Italien zu inszenieren und auch zu zeigen.

Von Sven Ricklefs |
    Von diesem umbrischen Ambiente ist in der kalten Halle des Wiener Museumsquartiers natürlich nichts mehr zu spüren und so bleibt dem Zuschauer nichts anderes übrig, als sich tatsächlich und einzig auf die Aufführung zu konzentrieren und konzentrieren zu müssen.

    Dostojewskis Roman "Die Dämonen" ist ein Gesellschaftspanorama, ausgebreitet auf 1000 Seiten, ein Spiegelbild Russlands aus vorrevolutionärer Zeit, in dem der Autor die schlaff-intellektuelle Liberalität einer Vätergeneration ebenso an den Pranger stellte, wie den blind-brutalen Anarchismus ihrer Söhne. Eingebettet in Liebesränke und garniert mit politischen Intrigen, mit Gottessuche und Gottesfluch, mit Lebensüberdruss, Nihilismus, mit Mord, Missbrauch, Wahnsinn und dem Reiz des Bösen sind die Dämonen wahrhaft Weltliteratur, wie sie ihres Gleichen sucht.

    Aber: Unter Weltliteratur macht es Peter Stein nicht. Und wenn er sie sich vornimmt, dann buchstabiert er sie aus. Es ist schon merkwürdig, dass einer der brillantesten Intellektuellen des deutschsprachigen Theaters nicht gewillt oder vielleicht auch nicht in der Lage ist, sich auswählend dafür zu entscheiden, was ihn an einem Theaterstück oder nun an einem Roman interessiert. Damit macht es Peter Stein einem aber schwer, wenn nicht unmöglich, die durchaus ja noch immer vorhandenen Qualitäten seines Theaters zu goutieren und dabei hier vor allem die mit seinem keine Frage hervorragenden italienischen Ensemble herausgearbeiteten fein ziselierten Psychogramme des Dostojewski-Personal.

    Eigentlich sollte einem die eine oder andere Szene dieses Theatermarathons im Gedächtnis bleiben, ihr Wissen um so manche existenzielle Grundsatzfrage des Lebens, ihr Ringen um einen verinnerlichten Ausdruck, trotzdem überwiegt die Verärgerung. Die Verärgerung darüber, dass einem das Gefühl für diese Szenen im Laufe der 12 Stunden eben doch verloren geht, und: die Verärgerung darüber, dass diese 12 Stunden als notwendig behauptet werden, es eben aber nicht sind, sondern dass der beschworene lange Atem dieses Theaters sich in Langatmigkeit verliert und damit zur Zumutung wird. Zumal dieses Theater als museale Nacherzählung letztlich ohnehin wenig zu sagen hat, über ein Jetzt und hier und heute, wenig über das jetzt seiner Zuschauer und gleich gar nichts über das eines Russlands heute.
    Vom dem allerdings erfuhr man umso mehr von einer ganz anders gearteten Zumutung, ebenfalls eine Literaturbearbeitung, aufgeführt ebenfalls bei den Wiener Festwochen einen Tag zuvor.

    Eis von Vladimir Sorokin ist ein ebenso trashiger wie harter und genauer Blick auf das Russland von heute, ein Roman, der von einer elitären Sekte erzählt, deren Mitglieder durch ein brutales Ritual gefunden werden müssen. Dabei wird den Auserwählten mit einem Hammer aus Eis so lange auf das Herz geschlagen, bis sie tot oder erweckt sind und damit selbst Mitglieder der Bruderschaft des Herzens.
    Wie immer in seinen Romanen zeigt Sorokin auch in Eis den Wahnwitz der gesellschaftlichen Strukturen seines Landes und die verzweifelte Suche nach Orientierung. Hier auf der Basis von Verschwörungstheorien und dem Traum eines elitären Faschismus. Dabei entstehen diese keineswegs aus einer elitären Schicht sondern im Gegenteil aus einem Hardcoremilieu von Dealern und Prostituierten, in dem vor allem eins herrscht, nackte Gewalt:

    Der ungarische Regisseur Kornel Mundruczo folgt den Strukturen seiner Vorlage und versteht es dabei, das trashige und brutale Ambiente von Sorokins Roman auf der Bühne lebendig werden zu lassen. Dabei ist die Vorstellung nicht umsonst erst ab 18 Jahre, denn die schonungslos ausgespielten Sexszenen führen die körperliche Liebe in ihrer ganzen Erbärmlichkeit vor. Drastisch wie Sorokin zeigt auch Kornel Mundruczo in seinem Theater im Kontrast dazu den gefährlich sehnsüchtigen und sentimentalen Kitsch der Utopie der vermeintlich Herzerleuchteten, die sich nur noch umarmen müssen, um schon in ihre Gefühlsekstasen abzudriften. Und so steht diese in ihrem szenischen Verve beeindruckende Produktion Sorokins Roman in nichts nach und zeigt wieder einmal die sich aus gesellschaftlicher Verzweiflung rekrutierende Kraft des osteuropäischen Theaters. Vor diesem Hintergrund aber wiegt die selbstgefällige Anmaßung, mit der das Theater von Peter Stein daherkommt, ohne dem eigenen Anspruch gerecht zu werden, nur umso schwerer.