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Altmeister des sozialkritischen Theaters

Peter Palitzsch, gestorben mit 86 Jahren, war auf eine entschlossen bescheidene Weise nur er selbst; und dennoch verkörperte sich in ihm die Idee eines bedeutenden, ernsten deutschen Theaters. Das wäre ein Theater, das sich selbst ernst nimmt - noch ernster aber die Anderen: das Publikum eines Abends, die Bewohner einer Stadt, die Bürger unseres Landes und, ja, die leidenden und die Leid verursachenden Menschen auf der Welt. Sein Verhältnis zu dieser Idee von ernsthaftem, verpflichtetem Theater war ganz unpathetisch. Er hat ihm mit Deutlichkeit aber ohne Aufhebens sein Leben zur Verfügung gestellt. Asketisch aber nie unfreundlich: so war sein Aussehen, so sein Verhältnis zu Mitarbeitern, zu Büchern, zu Ideen.

Von Ivan Nagel |
    Als junger Mann hatte er das Glück, zu dem neben Fritz Kortner größten deutschen Theatermacher der Nachkriegszeit, zu Bertolt Brecht zu finden; und Brecht nahm ihn nicht als Schüler, sondern als Gesprächs- und Gedankenpartner, als dramaturgisch-analytischen Teilhaber an seinen letzten Regieplänen an. Palitzsch bekannteste Inszenierung nach Brechts Tod am Berliner Ensemble war (zusammen mit Manfred Wekwerth) der legendäre "Arturo Ui" 1959: eine Aufführung von höchster szenischer Virtuosität und Schlagkraft – aber auch von genauer historisch-politischer Überlegung. Als die Mauer an einem einzigen Tag entstand, arbeitete er gerade als Gast im Westen. Er entschloss sich, im Westen zu bleiben.

    Als Schauspielleiter in Stuttgart (1966-72) und Frankfurt (1972-80) bestimmte Peter Palitzsch eine Theaterarbeit, die engagiert aber unideologisch war: mit Regisseuren wie Grüber, Neuenfels, Bondy, mit Ensemble-Spielern wie Hans Mahnke, Peter Roggisch, Hannelore Hoger, Elisabeth Schwarz nie auf bloß neue Formen, immer auf Inhalte bedacht. Brechts Lehre von der Verfremdung hatte er aufgenommen; aber die Haltung seiner gewichtigsten, denkwürdigsten eigenen Inszenierungen war nicht "episch", sondern "dramatisch": den realen Spannungen zwischen Menschen zugewandt. Sein Realismus bestand nicht (wie damals oft) in der Häufung von Teetassen und Zigaretten, im laschen Geplauder mit vorgeplanten Pointen - sondern im Wegstreichen alles Nebensächlichen, im Herausarbeiten des Starken und Notwendigen jeder Situation.

    So erschreckend, mitleiddurchdrungen realistisch hat er nicht nur ein neues englisches Stück wie Hopkins' "Diese Geschichte von ihnen" in Szene gesetzt – sondern auch, mit geradezu poetischer Genauigkeit und Leichtigkeit, Becketts "Warten auf Godot". Alles konzentrierte sich auf Spiel und Sprache; gesuchte Bühnenbilder, überrumpelnde Video-Clips, Musikströme aus Lautsprechern, die heute Mode sind, blieben ihm fremd. Als nach der Vereinigung sein altes Theater, das Berliner Ensemble, ihn rief, sagte er Ja. Ein gewagter Shakespeare, ein treffend-erhellender "Baal" entstanden; da war er über siebzig Jahre alt.

    Er war ein guter, also nüchterner und besessener, Leser. Das Schönste vielleicht, das ihm in späten Jahren gelang, waren Abende nur mit Gedichten, Prosatexten und Liedern: Samuel Beckett ehrend (zu meinem Intendantenglück und –dank) schon 1987 in Stuttgart; zuletzt 1998 am Berliner Ensemble, mit Maria Husmann, Volker Spengler, David Bennent, Simon Stockhausen, gewidmet dem Poeten und Liedermacher Bert Brecht. So schloss sich Palitzsch' exemplarische Biografie in der Nähe zu dem, mit dem sie anfing. Wer wollte, könnte von ihm heute noch lernen: dass es im Theater sich um unser Leben und um die Hoffnung auf ein anständigeres Leben handelt; und dass es nicht angeht, unter diesem Anspruch Theater zu machen, ja auch nur als Zuschauer ins Theater zu gehen.